Tinu Ruscello

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rothsten

Mitglied
Besançon, den 16. September 1950.


Die Tür ist noch geschlossen. Tinu Ruscello steht davor und wartet, er ist noch nicht bereit. Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt; hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Gewiss, sein Auftritt wird sie begeistern. Seine Konzerte sind stets ausverkauft, nach jedem letzten Ton springen sie auf, skandieren Bravo um Bravo und fordern Zugaben. Ein Konzert, nur ein Konzert, eins wie hundert andere zuvor. Er spielt das Klavier nicht, er baut Mirakel. Zu seinem Publikum spricht er aus Geistermunde, treibt jeden ihrer Dämonen gottwärts, macht ihre Herzen zu seinem Priesterchor.

Seit einiger Zeit aber lasten ihre Blicke auf ihm, und sie werden schwerer. Er ist krank. Leukämie, eine bislang unbekannte Form, so einzig und unheilbar wie sein Brennen zum Spiel. Er müsse immer nur an Myra denken, redet er sich ein. Dann würde er es überstehen. Myra, sie begleitet ihn, nicht mehr am Klavier, nur noch in seinem Leben. Sie ist bei ihm, auch heute.

Tinu versucht, sich zu fassen; er wähnt sich bereit. Der Einweiser öffnet ihm die Tür, sie führt in eine Höhle aus verbrauchter Luft. Die Elektrizität darin kocht ihm die Wangen rot. Am Ende des Tunnels bricht ein Wasserfall von den Rängen, es rollen Steine auf ihn herab im Takt des Marche Funèbre. Seine Augen suchen den Leitstern; ohne Myra im Publikum verliefe er sich, diese Tournee stünde er ohne sie nicht durch. Verschwommen sieht er die Bühne, in ihrer Mitte klafft ein dunkles Loch. Der Sarg ist ein einsamer Flügel, ein Steinway, ganz in schwarz. Meisterspiel öffnet heimliche Pfade zu Himmelspforten, und nur er kennt diesen einen Weg. Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe. Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir; dann fängt er an; Walzer, Chopin.

Hastige Finger, wie Taranteln jagen sie Töne über die Klaviatur, schlagen kristallene Splitter aus Elfenbeintürmen und werfen sie in die Glut aus Ebenholz. Die Reihen baden in heißem Äther aus Dur.
Tinu pausiert, lauscht ihren Herzen. Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reisst die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden. Tinu wird zäh, und zäh, und zäher; er härtet aus. Mit letzter Kraft biegt er sich zu Ende - und bricht zusammen.

Seitwärts kippt er vom Schemel, regungslos liegt er da. Scherben in Asche.

Myra eilt zu ihm. Er flüstert ihren Namen, hebt leicht den Arm. Es würde gehen, ganz langsam, man hilft ihm, hebt ihn hoch, stützt ihn ab und schleppt seinen Körper nach draussen. Man setzt ihn auf einen Stuhl, bringt ihm Wasser. Um ihn wimmelt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal. Der Konzertleiter solle das Publikum um Verzeihung bitten, und um etwas Geduld. Er würde kommen. Der Gong ertönt zur Pause.

Tinu erhebt sich. Die Kraft wird reichen, nur dieser eine Gang noch. Myra, sagt er, sie müsse ihm auf die Bühne helfen, alleine schaffe er es nicht. Sie solle ihn begleiten, nicht am Klavier, nur auf die Bühne, zurück, in den Rest seines Lebens. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie taumeln in den Tunnel. Kein Platz ist leer, das Publikum erhebt sich in Schweigen. Sie setzt ihn an den Flügel, und verlässt die Bühne tränenblind.

Er blickt ins Publikum, alle stehen noch, keiner rührt sich, kein Räuspern. Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten, dann beginnt er zu spielen, ein Recital von Bach, Jesu bleibet meine Freude. Nur dieses eine Stück, ganz leise.

Dann zieht er sich am Flügel hoch, hangelt sich am Kasten entlang, greift nach dem Steg, klappt ihn um – und der Deckel fällt. Sechs Einweiser eilen zu ihm und bringen ihn aus dem Saal.


Ende
 
Deinen Text fand ich überaus schön! Eine sehr gelungene Kurzgeschichte! Du schaffst es mit relativ wenig Füllwörtern einen grandiosen Textfluss herzustellen.Ich bin noch sehr jung, kann aber mit meiner "Leseerfahrung" schon sagen, dass dein Text wunderschön ist.

er [red]reisst[/red] die Klänge mit sich
Versuche auf ss/ß zu achten. Da sind noch einige Wörter, bei denen statt ß ss steht.

Aber trotzdem großes Lob für diesen ausgefallenen Text!
 

rothsten

Mitglied
Vielen Dank, Sonntagsschreiber, wenngleich der Begriff "Füllwort" bei mir grundsätzlich Schnappatmung erzeugt. :D

Die Esszett-Regel ist, glaube ich, mittlerweile großzügig auslegbar. Spreche ich es lang (Straße), ists mit ß, kurz (Hass) mit s. Aber warum muß ich Mus essen, obwohl ich es nicht mag?

Um ehrlich zu sein, ich blicke da nicht mehr durch. Aber ich danke Dir, ich schaue mir die Biester nochmal an. ;-)

lg
 
S

steky

Gast
Hallo, rothsten!

An deinem eleganten Text habe ich – bis auf ein, zwei stilistische Ungereimtheiten, die meiner Auffassung nach „falsch“ sind – nichts auszusetzen. Müsste ich es tun, dann wäre es folgendes:
Dein Text mutet über-konstruiert an, sodass die Emotion auf der Strecke bleibt. Es ist verdammt schwierig, auf dem schmalen Grat zwischen Ästhetik und Emotion zu balancieren – denn schwankt man nur ein wenig nach links, tut sich auf der rechten Seite ein Loch auf.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mit der Thematik nichts am Hut habe – gefühlsmäßig hast du mich auf jeden Fall nicht gekriegt. Da hat mir dein Hans schon besser gefallen.
LG Steky
 

rothsten

Mitglied
Hi steky,

Danke für Dein Feedback. Du darfst mir gerne schreiben, was Deiner Meinung nach falsch ist. Deswegen lade ich den Text ja auch hoch. ;-)

Vielleicht liegt es daran, dass ich mit der Thematik nichts am Hut habe – gefühlsmäßig hast du mich auf jeden Fall nicht gekriegt. Da hat mir dein Hans schon besser gefallen.
Ich will etwaige Gefühls-Lücken in meinem Text nicht entschuldigen, ich will Dir nur einen ernst gemeinten Tipp geben: gehe in die Philharmonie. Solltest Du sowas zum ersten Mal machen, gehe in ein Dir bekanntes Werk, zB Beethovens Fünfte oder Neunte. Kennt jeder, lässt keinen kalt. Probiers aus! ;-)

Vielleicht liest Du meinen Text danach mit anderen Augen. Bis dahin nehme ich die Textfeile in die Hand.

Danke und lg
 

rothsten

Mitglied
Besançon, den 16. September 1950.


Die Tür ist noch geschlossen. Tinu Ruscello steht davor und wartet, er ist noch nicht bereit. Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt; hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Gewiss, sein Auftritt wird sie begeistern. Seine Konzerte sind stets ausverkauft, nach jedem letzten Ton springen sie auf, skandieren Bravo um Bravo und fordern Zugaben. Ein Konzert, nur ein Konzert, eins wie hundert andere zuvor. Er spielt das Klavier nicht, er baut Mirakel. Zu seinem Publikum spricht er aus Geistermunde, treibt jeden ihrer Dämonen gottwärts, macht ihre Herzen zu seinem Priesterchor.

Seit einiger Zeit aber lasten ihre Blicke auf ihm, und sie werden schwerer. Er ist krank. Leukämie, eine bislang unbekannte Form, so einzig und unheilbar wie sein Brennen zum Spiel. Er müsse immer nur an Myra denken, redet er sich ein. Dann würde er es überstehen. Myra, sie begleitet ihn, nicht mehr am Klavier, nur noch in seinem Leben. Sie ist bei ihm, auch heute.

Tinu versucht, sich zu fassen; er wähnt sich bereit. Der Einweiser öffnet ihm die Tür, sie führt in eine Höhle aus verbrauchter Luft. Die Elektrizität darin kocht ihm die Wangen rot. Am Ende des Tunnels bricht ein Wasserfall von den Rängen, es rollen Steine auf ihn herab im Takt des Marche Funèbre. Seine Augen suchen den Leitstern; ohne Myra im Publikum verliefe er sich, diese Tournee stünde er ohne sie nicht durch. Verschwommen sieht er die Bühne, in ihrer Mitte klafft ein dunkles Loch. Der Sarg ist ein einsamer Flügel, ein Steinway, ganz in schwarz. Meisterspiel öffnet heimliche Pfade zu Himmelspforten, und nur er kennt diesen einen Weg. Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe. Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir; dann fängt er an; Walzer, Chopin.

Hastige Finger, wie Taranteln jagen sie Töne über die Klaviatur, schlagen kristallene Splitter aus Elfenbeintürmen und werfen sie in die Glut aus Ebenholz. Die Reihen baden in heißem Äther aus Dur.
Tinu pausiert, lauscht ihren Herzen. Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reißt die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden. Tinu wird zäh, und zäh, und zäher; er härtet aus. Mit letzter Kraft biegt er sich zu Ende - und bricht zusammen.

Seitwärts kippt er vom Schemel, regungslos liegt er da. Scherben in Asche.

Myra eilt zu ihm. Er flüstert ihren Namen, hebt leicht den Arm. Es würde gehen, ganz langsam, man hilft ihm, hebt ihn hoch, stützt ihn ab und schleppt seinen Körper nach draussen. Man setzt ihn auf einen Stuhl, bringt ihm Wasser. Um ihn wimmelt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal. Der Konzertleiter solle das Publikum um Verzeihung bitten, und um etwas Geduld. Er würde kommen. Der Gong ertönt zur Pause.

Tinu erhebt sich. Die Kraft wird reichen, nur dieser eine Gang noch. Myra, sagt er, sie müsse ihm auf die Bühne helfen, alleine schaffe er es nicht. Sie solle ihn begleiten, nicht am Klavier, nur auf die Bühne, zurück, in den Rest seines Lebens. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie taumeln in den Tunnel. Kein Platz ist leer, das Publikum erhebt sich in Schweigen. Sie setzt ihn an den Flügel, und verlässt die Bühne tränenblind.

Er blickt ins Publikum, alle stehen noch, keiner rührt sich, kein Räuspern. Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten, dann beginnt er zu spielen, ein Recital von Bach, Jesu bleibet meine Freude*. Nur dieses eine Stück, ganz leise.

Dann zieht er sich am Flügel hoch, hangelt sich am Kasten entlang, greift nach dem Steg, klappt ihn um – und der Deckel fällt. Sechs Einweiser eilen zu ihm und bringen ihn aus dem Saal.


*Musik
 
S

steky

Gast
Hey, rothsten!
Du darfst mir gerne schreiben, was Deiner Meinung nach falsch ist. Deswegen lade ich den Text ja auch hoch.
Ich habe deswegen nicht geschrieben, was "falsch" ist, da es beim Stil in den meisten Fällen kein "richtig" und "falsch" gibt und ich die Struktur deines Textes nicht zerstören möchte. Gerne sage ich dir dazu meine Meinung, die nur im ersten Fall eine Kritik ist.

Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt; hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Der zweite Satz geht für mich überhaupt nicht ... Die Wurzel allen Übels ist vermutlich das Semikolon, das zum Anheben des Tones beim Lesen führt, an dieser Stelle jedoch gleich wieder mit einem riesigen Fleischerbeil abgehakt wird. Würde sich der darauffolgende Satz eng und rund anschmiegen, sähe die Sache anders aus. Du schaffst mit dem Semikolon Erwartungen, die danach nicht erfüllt werden. Satz 1 und Satz 2 könnte man übrigens mit einem Gedankenstrich oder Semikolon vereinen - die mögen sich sicher :D

Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe.
Du könntest schreiben "absolute Ruhe", um das Bild des schweigenden Publikums und dem Mann auf der Bühne zu intensivieren.

Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir.
Diese zwei Sätze könnte man durch ein Semikolon verbinden, das wäre ekstatischer - natürlich müsste dann der Teil danach abgeändert werden, sodass er für sich alleine steht.

Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reißt die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden.
Lass die Fontäne eine Fontäne sein - und würge sie nicht mit einem Beistrich ab:
"Dann - wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau - Variation! Variation! -; er bäumt sich auf; seine Augen rasen; er reißt die Klänge ......

Wie du siehst, das geht über gewöhnliche Textarbeit hinaus. Aber der Text gefällt mir, und ich hab mich hinreißen lassen.

LG Steky
 
A

aligaga

Gast
Hallo @rothsten,

hier wird ein bisschen zu sehr "gedonnert": Die Luft zwischen dem körperlich angeschlagenen Genie und dem musikalischen Gedröhn ist eindeutig zu groß geraten. Klavierkonzerte, jedenfalls klassische, werden nicht nur fortissime auf die Tasten geklopft, sondern enthalten stets jede Menge Lyrisches. Leider kommt das hier gar nicht zum Zuge, und deshalb klingt das ganze Stück zu bemüht dramatisch.

Ich würde den Künstler die Arme nicht "schmeißen", sondern nur werfen lassen.

Die Sache mit dem scharfen Ess ist seit der Rechtschreibreform viel einfacher geworden: ß und ss sind immer stimmlos; hinter langen Vokalen und langen Umlauten stets das scharfe, hinter den kurzen das doppelte: Straße, Strass; Tusse, Buße; dass, Maß. Merk dir das, und schon gibt's keine Fehler mehr. Du schreibst, wie man es spricht. Ausnahmen nur bei Fremdwörtern und Eigennamen.

Ich persönlich bin ein Fan von Semikolons; richtig eingesetzt, ersparen sie jede Menge "unds" und verhelfen beim Lesen zu notwendigen Atempausen - die sich in deinem Musikstück leider auch nicht auffinden lassen. Dabei ist in der Musik die Pause genauso wichtig wie die gespielte Note; wird sie nicht exakt eingehalten, gerät alles durcheinander.

Gruß

aligaga
 

rothsten

Mitglied
Hallo Ihr Beiden.

@steky

Zum Semikolon: überzeugt. Es müsste weicher sein. Bei der nächsten Korrektur nehme ich nen Strich. Zum zweiten Semikolon-Vorschlag grüble ich noch.

Der Prot wird weiterhin Ruhe erwarten, denn das ist ein heiliger Moment in einem Konzert. Er ist die Schwelle zum "Jetzt gehts los".

So schlimm war das ja gar nicht. Wenn es Dich beruhigt: ich fühle meinen Stil durch Deinen Hinweise nicht bedroht. Ganz im Gegenteil, gerne mehr.

Danke erneut!

@aligaga:

Auch Dir recht herzlichen Dank für Deine Anmerkungen. Die Esszett-Regel kann ich mir so merken, danke.

Ich muss das "Gedonner" verteidigen. Ich stimme Dir zu, dass ein Solo-Instrumental-Konzert an Facetten kaum zu überbieten ist - Gedonner gehört auch dazu. Hier muss ich Dir aber eine Gegenfrage stellen: Spielt er es denn zu Ende? Die Fontäne geht los, dann schmiert er ab - fertig. Ich sehe keine Überschreitung der Dramaturgie.

Atempausen sind in einem Musikstück sicher keine schlechte Idee, aber geht es hier vordergründig um Musik? Mein Text hat drei Teile: Anfang - Mitteilteil mit Fiasko - bitteres Ende.

Passt zu dem, was ich dem Leser mitgeben wollte.

lg
 
A

aligaga

Gast
Du erzählst uns von drei Stücken vor der "Pause", @rothsten - einem Walzer, einem Rondo (mit Variationen) und einer Fantasie. Falls alles Chopin, dann auf gar keinen Fall das Getrommel, mit dem du uns kommst.

Es wäre auch gar nicht nötig. Jeder, der ein bisschen von Klassik versteht oder es überhaupt mit Musik hat, weiß doch, dass Spannung und Aufregung nicht unbedingt laut und krachend sein müssen. Sie entstehen vor allem dann, wenn das Klavier die Luft anhält. Hör dir Chopin an, Rondo Op. 1, Walzer Op. 64, Fantasie Op. 66 - so geht das.

Tipp: Dein Stückerl musikalisch plausibilisieren. Die Hörer werden es dir danken, denn keiner ist scharf auf ein halbstündiges Trommelfeuer, in dem zwangsläufig nicht nur das Publikum, sondern auch der Pianist verendet.

Gruß

aligaga
 

rothsten

Mitglied
So Deine Kritik allein das Handwerk betrifft (zB Esszett, Einsatz des Semikolons), so lasse ich mir das gerne um die Ohren hauen. Dafür bin ich Dir dankbar.
Dinge wie Farbe und Rhythmus sind jedoch immer auch eine Geschmacksfrage, daher kannst Du hier schwerlich einen Anspruch auf Absolutheit erheben. Und ob Du jemanden über den passenden Ton zur Musik belehren solltest, lasse ich mal dahingestellt.

Es bleibt, wie es ist.

lg
 
A

aligaga

Gast
Sorry, @rothsten - ich heiße nicht Chopin und habe die von dir benutzten Stücke - ein Rondo, eine Fantasie, einen Walzer - nicht komponiert. Aber ich kann sie hören und weiß deshalb, dass du sie in deinem Text falsch beschrieben hast.

Ich habe versucht, dich freundlich darauf aufmerksam zu machen, dass klassische Klavierstücke wie die Chopins etwas anderes sind als Schlagzeugsolos, und dass es bei einem sachverständigen, philharmonischen Publikum keinen Beifall für schiere Lautstärke und Geschwindigkeit gibt. Der "Hummelflug" in fünfzehn Sekunden ist was für's Kabarett, nicht für den Konzertsaal.

Im übrigen ist es gar nicht so selten, dass Musiker "in situ" sterben oder einen finalen Schlaganfall erleiden. Es steht dabei weniger die körperliche, sondern mehr die geistige Anspannung im Vordergrund. Auch deshalb rate ich dir zu einer Modifikation des musikalischen Teils deines Textes. Der Tod kommt of auf sehr leisen Sohlen angeschlichen ...

Gruß

aligaga
 

rothsten

Mitglied
@aligaga:

Damit wir nicht weiter Energie-Ressourcen vergeuden, einigen wir uns auf Folgendes: Du bist auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntnis und Erfahrung ein absoluter Experte. Wir alle dürfen dankbar sein ob Deiner Segnungen. Nachdem wir das geklärt haben, können wir uns alle wieder entspannen.

Einverstanden?
 
A

aligaga

Gast
Von wem wärest du denn bereit, Ratschläge anzunehmen, @rothsten, ohne gleich Angst zu haben, dir etwas zu vergeben? Ich glaube, du warst und bist kein einfacher Schüler.

Ein guter Lehrer wird auch dann respektiert, wenn er streng ist. Wenn die Schüler anfangen, ihn zu lieben, sollte er die Schule wechseln.

Greetinx from the Dead Poets Society

aligaga
 

rothsten

Mitglied
Interessant, jetzt kann er/sie/es anhand weniger Äußerungen schon ein Psychogramm erstellen...

Was glaubst Du, wer Du bist?

Du bist kein Lehrer. Ein Lehrer will einem Schüler etwas beibringen. Du willst nix beibringen, Du willst Recht behalten. Ein klares Zeichen, dass Du zutiefst verunsichert bist! Soweit mein Psychogramm von Dir.

Ich bot Dir ja einen Thron an. Mehr kann ich für Deine geistige Gesundheit nicht tun.

lg

PS:
Bitte nicht mehr meine Werke kommentieren, aligaga. Danke.
 
Ich blende einfach mal das Hin und Her der anderen Kommentare aus und möchte auch mein Lob aussprechen für diesen Text, der mir ein Thema näher gebracht hat, das ich kaum kenne. Finde es interessant, wie du die wörtliche Rede mit der indirekten Rede vermischst (kann man das so sagen?, keine Ahnung), ganz ohne Anführungszeichen, einfach fließend eingefügt in die Ereignisse des Textes. Das kreirt eine ganz andere Art von Vorstellung, finde ich, aber vielleicht sehe das auch nur ich so. Z. B. hier:

Um ihn wimmelt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal.​
Mir ist aber an dieser Stelle noch etwas aufgefallen:

Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten​
Müsste es nicht heißen - "Seine Finger schweben wie Federn auf [blue]den[/blue] Tasten" ? Oder eventuell sogar ändern zu "schweben wie Federn knapp über den Tasten", hört sich für mich ein Wenig besser an. :)

Ansonsten auch ein großes Lob von mir zu diesem Text, der mich zu einem eher unbekannten Thema mitgerissen hat.
Ich sehe schon, hier kann jemand sein Handwerk ;)
 

buchstab

Mitglied
Hallo rothsten,

Deine Geschichte hat mich beim ersten Lesen berührt und ich könnte nicht sagen, ob sie das auch hätte, wäre sie weniger "dick aufgetragen". Ich finde sie sehr gelungen.

Grüße

buchstab
 

rothsten

Mitglied
Vielen Dank, adrianoeljero, für Deinen Kommentieren und Dein Kompliment.

Zur "indirekten Rede": Die Perspektive ist hier die eines objektiven Beobachters. Ich wollte an den einschlägigen Textstellen nicht erklären, sondern berichten. Ich hoffte, dadurch mehr Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Der Leser entscheidet, ob es mir gelungen ist.

Seine Finger schweben auf [blue]die[/blue] Tasten. Es ist der Moment, in dem er das letzte Mal ein Klavier berühren, es das letzte Mal spielen wird. Er ist körperlich am Ende, der Tod steht unmittelbar bevor. Ein Häufchen Elend. So jemand legt seine Finger nicht auf die Tasten, er lässt sie darauf schweben. Das "die" unterstreicht seine körperliche Schwäche, das ist gewollt und bleibt daher so stehen. ;-)

Mein Handwerk beherrsche ich nicht, ich lerne es ja gerade erst. Aber vielen Dank. ;-)

lg


Vielen Dank auch Dir, buchstab. Freut mich, dass sie Dir gefällt. Ich finde sie auch nicht "dick aufgetragen", es gibt ja auch leise Stellen, die den Kontrast schaffen, z.B. das Schweben der Finger auf die Tasten. ;-)

lg
 

herziblatti

Mitglied
Hallo rothsten, ein starker Text, er hat einen tollen Sog :) Zwei Anmerkungen: den Konzertleiter würde ich wuseln statt wimmeln und den letzten Satz ganz weg lassen. LG - herziblatti
 

rothsten

Mitglied
Besançon, den 16. September 1950.


Die Tür ist noch geschlossen. Tinu Ruscello steht davor und wartet, er ist noch nicht bereit. Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt. Hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Gewiss, sein Auftritt wird sie begeistern. Seine Konzerte sind stets ausverkauft, nach jedem letzten Ton springen sie auf, skandieren Bravo um Bravo und fordern Zugaben. Ein Konzert, nur ein Konzert, eins wie hundert andere zuvor. Er spielt das Klavier nicht, er baut Mirakel. Zu seinem Publikum spricht er aus Geistermunde, treibt jeden ihrer Dämonen gottwärts, macht ihre Herzen zu seinem Priesterchor.

Seit einiger Zeit aber lasten ihre Blicke auf ihm, und sie werden schwerer. Er ist krank. Leukämie, eine bislang unbekannte Form, so einzig und unheilbar wie sein Brennen zum Spiel. Er müsse immer nur an Myra denken, redet er sich ein. Dann würde er es überstehen. Myra, sie begleitet ihn, nicht mehr am Klavier, nur noch in seinem Leben. Sie ist bei ihm, auch heute.

Tinu versucht, sich zu fassen; er wähnt sich bereit. Der Einweiser öffnet ihm die Tür, sie führt in eine Höhle aus verbrauchter Luft. Die Elektrizität darin kocht ihm die Wangen rot. Am Ende des Tunnels bricht ein Wasserfall von den Rängen, es rollen Steine auf ihn herab im Takt des Marche Funèbre. Seine Augen suchen den Leitstern; ohne Myra im Publikum verliefe er sich, diese Tournee stünde er ohne sie nicht durch. Verschwommen sieht er die Bühne, in ihrer Mitte klafft ein dunkles Loch. Der Sarg ist ein einsamer Flügel, ein Steinway, ganz in schwarz. Meisterspiel öffnet heimliche Pfade zu Himmelspforten, und nur er kennt diesen einen Weg. Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe. Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir; dann fängt er an; Walzer, Chopin.

Hastige Finger, wie Taranteln jagen sie Töne über die Klaviatur, schlagen kristallene Splitter aus Elfenbeintürmen und werfen sie in die Glut aus Ebenholz. Die Reihen baden in heißem Äther aus Dur.
Tinu pausiert, lauscht ihren Herzen. Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reißt die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden. Tinu wird zäh, und zäh, und zäher; er härtet aus. Mit letzter Kraft biegt er sich zu Ende - und bricht zusammen.

Seitwärts kippt er vom Schemel, regungslos liegt er da. Scherben in Asche.

Myra eilt zu ihm. Er flüstert ihren Namen, hebt leicht den Arm. Es würde gehen, ganz langsam, man hilft ihm, hebt ihn hoch, stützt ihn ab und schleppt seinen Körper nach draussen. Man setzt ihn auf einen Stuhl, bringt ihm Wasser. Um ihn wuselt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal. Der Konzertleiter solle das Publikum um Verzeihung bitten, und um etwas Geduld. Er würde kommen. Der Gong ertönt zur Pause.

Tinu erhebt sich. Die Kraft wird reichen, nur dieser eine Gang noch. Myra, sagt er, sie müsse ihm auf die Bühne helfen, alleine schaffe er es nicht. Sie solle ihn begleiten, nicht am Klavier, nur auf die Bühne, zurück, in den Rest seines Lebens. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie taumeln in den Tunnel. Kein Platz ist leer, das Publikum erhebt sich in Schweigen. Sie setzt ihn an den Flügel, und verlässt die Bühne tränenblind.

Er blickt ins Publikum, alle stehen noch, keiner rührt sich, kein Räuspern. Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten, dann beginnt er zu spielen, ein Recital von Bach, Jesu bleibet meine Freude*. Nur dieses eine Stück, ganz leise.

Dann zieht er sich am Flügel hoch, hangelt sich am Kasten entlang, greift nach dem Steg, klappt ihn um – und der Deckel fällt.


*Musik
 



 
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