Tödliches Spielzeug

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peutz

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Gehetzt sah er sich um.
Hässliche Fratzen, weit aufgerissene Mäuler, hämisches Grinsen. Unbarmherzig rückte die Gefahr näher, er konnte ihr nicht entkommen.
Obwohl er den ganzen Abend über reichlich Alkohol getrunken hatte, war er jetzt so nüchtern wie nie zuvor. Die plötzliche Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag - er hatte gute Chancen, die Nacht nicht zu überleben.
Er wollte schreien, um Hilfe rufen, obwohl er wußte, dass ihn niemand hören würde. Zu dieser nächtlichen Stunde war kein Mensch mehr in der Nähe. Seine einzige Chance hätte darin bestanden, zu einem der Fenster zu gelangen und zu versuchen, sich bemerkbar zu machen. Aber genau das hatten sie bisher erfolgreich verhindert. Sie wußten genau, was sie taten. Was immer er sich überlegt hatte, sie kamen ihm zuvor.
Er brachte nur ein heiseres Krächzen zustande, alle Angst der Welt war in dem Ausdruck seiner Panik enthalten.
Er sah wieder nach vorn und stolperte beinahe über den kleinen Tisch. Er stieß mit seinem linken Knie dagegen, der Tisch schrammte einige Meter über den Boden, es gab ein häßliches Knirschen und die Ware rutschte über den Rand. Die großen Buchstaben, die das Sonderangebot in roten Buchstaben verkündeten, kamen ihm wie Hohn vor.
Er verlor wertvollen Vorsprung. Sein Knie schmerzte höllisch und der bisherige Blutverlust machte sich zusätzlich bemerkbar. Die Stichwunden, die sie ihm schon beigebracht hatten, brannten wie Feuer. Immer wieder hatten sie auf ihn eingestochen. Nicht endgültig, nicht auf einmal. Immer, wenn sie die Gelegenheit hatten, brachten sie ihn ein Stückchen mehr um.
Seit mehr als drei Stunden war er auf der Flucht, suchte immer wieder nach einem neuen Versteck. Aber er hatte keine Chance. Jeder Winkel, jeder Raum, jede Ecke war ihnen bekannt.
Überall hatte er es schon versucht. Früher oder später stöberten sie ihn doch auf, denn hier war ihr Zuhause. Wie oft hatte er den Moment verflucht, in dem er sich dazu entschlossen hatte, hier in diesem Gebäude die Nacht zu verbringen? Könnte er doch nur die Zeit zurückdrehen, den Moment seines Entschlusses ändern. Aber es gab keine zweite Chance, Gott hatte ihn dazu auserwählt, diese Nacht zu ihrem Opfer zu werden.
Sie wollten ihn nicht sofort töten, das war ihm längst klar. Nein, sie wollten ihn jagen, ihn leiden sehen, seinen Tod genießen. Er war ihr willkommenes Opfer, er war für sie wie eine Erlösung, eine Abwechslung in ihrem tristen Leben.
Die Anspannung und die ständige Flucht nahmen ihm plötzlich den Atem. Der Schleier vor seinen Augen wurde immer verschwommener. Tränen der Angst und der Verzweiflung füllten seine Augen, rannen ihm die schmutzigen Wangen herunter.
Deshalb sah er die Wand erst im letzten Moment. Beinahe wäre er dagegen gerannt. Er stemmte mit seinen Händen gegen das plötzliche Hindernis, um die Wucht seines Körpers abzufangen. Sein Blick flog nach links und nach rechts. Ein Ausweg, eine letzte Fluchtmöglichkeit mußte her.
Wieder verrannen wertvolle Sekunden.
Dieses verdammte Mordpack, dachte er. Völlig geräuschlos waren sie die ganze Zeit im gleichen Abstand hinter ihm geblieben. Anscheinend wechselten sie sich bei der Hetze ab, während einige schon den nächsten Fluchtweg versperrten. Der Kreis wurde enger.
Auf der linken Seite, ungefähr vier oder fünf Meter entfernt, war eine Tür. Vielleicht zum Treppenhaus?
Nein, dachte er, die Tür, die in das Treppenhaus führte, war aus Glas. Diese hier war aus Eisen, und - wahrscheinlich - abgeschlossen. Er zögerte dennoch keine Sekunde und rannte auf die Tür zu. Er drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich. Er könnte vielleicht auf der anderen Seite etwas gegen die Tür stemmen, um sich zu verteidigen. Aber dazu mußte er erst einmal wissen, wohin dieser Weg führt. Sein Herz nahm die neue Hoffnung auf, bis zu dem Zeitpunkt, wo ihn der Schmerz mit voller Wucht traf. Sie hatten schon auf ihn gewartet. Es war ein Lagerraum.
Als ihn schmerzvolle Schläge von hinten in die Knie trafen, wußte er, daß es dem Ende zuging. Plötzlich prasselten die Schläge von allen Seiten auf ihn herab. Sein Kopf schien zu explodieren. Mit den Händen versuchte er, seinen Kopf zu schützen. Gegenwehr war nicht mehr möglich. Er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er sank auf die Knie und beugte seinen Oberkörper nach vorne. Der Blutgeschmack in seinem Mund kam ihm zu Bewußtsein.
Jetzt gelang es ihm. Wild schrie er auf, gellend hallten seine Schreie durch den Raum. Dann spürte er die Messerstiche. Das Schreien ging in ein Röcheln über. Sein Gesicht näherte sich dem Boden.
Die Blutlache wurde schnell größer. Er fragte sich noch, wie es möglich war, dass sein eigenes Blut langsam an ihm vorbeifloß. Dann hörte der Schmerz urplötzlich auf. Wie ein Vorhang, der sich unendlich langsam schloß, wurde es vor seinen Augen dunkler und dunkler.
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Nur noch wenige Minuten, dann konnte er es wagen. Aufgrund seiner Beobachtungen in den letzten Tagen wußte er, dass noch viele Kunden eine halbe Stunde vor Schließen des Kaufhauses in aller Eile Besorgungen erledigen würden.
Karl-Heinz Jäger - Charlie - wie er von seinen Freunden genannt wurde, lehnte lässig an der Seite des kleinen rotweißen Imbiss-Wagens, der regelmäßig sechs Tage die Woche den Vorplatz um den großen Eingang herum beherrschte.
In unmittelbarer Nähe befand sich das große Kaufhaus, dessen Eingänge sich von seiner Position aus gut beobachten ließen. Das Kaufhaus war ein alter Bau aus großen, grauen Steinen, hatte fünf Stockwerke sowie ein Untergeschoß. Außerdem gab es noch eine Tiefgarage, über mehrere Ebenen verteilt. Im obersten Stockwerk befand sich ein großes Selbstbedienungsrestaurant und ein Café mit einer großen Terrasse. Ein beliebter Platz, dort hatte er schon viel Zeit verbracht.
Er trug trotz des relativ milden Wetters einen langen Mantel mit großen Taschen, in denen er seine wichtigsten Utensilien für die kommende Nacht verbergen konnte. Außer einer Taschenlampe besaß er noch einen Schraubenzieher, etwas Band, sein Universaltaschenmesser und Ersatzbatterien. Dennoch wirkte er nicht unbedingt auffällig.
Er schloß die Augen und atmete die klare Luft ein. Er fühlte sich gut, er war sich seines Vorhabens sicherer denn je. Das war auch gut so, nur nicht nervös werden. Er hatte ja schließlich alles genau geplant.
Vor dem Haupteingang des Kaufhauses war jetzt mehr los, er bemerkte, wie sich das Gedränge am Beginn der Fußgängerzone ein wenig verstärkte. Das Kommen und Gehen der Kunden, die die Treppe des Haupteinganges vereinnahmten, hatte zugenommen.
Er löste sich vom Imbißstand. Wieder der mechanische Blick auf die Uhr, seine Nervosität nahm zu.
Der nahende Feierabend würde dafür sorgten, daß es im Kaufhaus noch einmal für kurze Zeit zu einer hektischen Betriebsamkeit kommen würde.
Das war seine Chance. In diesen Strom mußte er sich jetzt einreihen, vielleicht würde er einen gehetzten Eindruck machen - wie alle - um dann im richtigen Moment sein Versteck aufzusuchen. Er mußte lächeln, als er sich noch einmal sein Vorhaben für die kommenden Stunden vor Augen führte.
Charlie hatte vor, sich im Kaufhaus einschließen zu lassen.
Er hatte schon lange geplant, hier einmal eine Nacht zu verbringen. Es war schon fast zu einer fixen Idee geworden. Mit zwei Freunden, oder besser gesagt Gleichgesinnten, hatte er einmal abends über ein solches Vorhaben gescherzt. Auch Charlie selbst hatte es nicht ernst gemeint, aber mit der Zeit hatte sich dieser Gedanke in ihm mehr und mehr festgesetzt.
Im Laufe der letzten Wochen hatte Charlie oft über diesen Abend nachgedacht, und je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er brannte schon jetzt darauf, die Story seinen Freunden mitzuteilen.
Nachdem er ein paar Tage ziellos in der Stadt herumgelaufen war, erinnerte er sich, wie sie damals überhaupt auf die verrückte Idee mit dem Kaufhaus gekommen waren.
Sein Herz schlug jetzt schneller, er blickte sich um, ob ihn jemand beobachtete, aber das war natürlich Unsinn, niemand hatte irgendein Interesse an ihm. Warum auch, er würde gleich ein ganz normaler Kunde sein, wie viele andere auch.
Charlie's Gedanken schweiften zurück.
Das Interessante an der ganzen Sache war die Tatsache, dass es vor fast zwei Jahren schon mal einer versucht hatte, darum waren er und seine Freunde überhaupt auf diese Idee gekommen. Damals hatten sie ausgiebig darüber diskutiert. Der Fall ging schließlich durch die gesamte Presse damals.
Ein Obdachloser hatte sich in der Toilette des Kaufhauses einschließen lassen, so nahm man jedenfalls an. Normalerweise wurde nach Feierabend immer von den Angestellten geprüft, ob alle Kunden das Haus verlassen hatten, aber damals wurde in der fünften Etage, in der sich auch die Kundentoiletten befanden, renoviert. Die Toiletten waren nicht benutzbar und somit auch nicht kontrolliert worden.
Den Obdachlosen fand man am nächsten Morgen mit zahlreichen Messerstichen und eingeschlagenem Schädel vor der Tür eines Lagerraumes. Der ganze Körper war übersät mit kleinen Verletzungen, die zwar nicht lebensbedrohlich gewesen waren, aber allerlei Stoff zu Diskussionen gaben. Getötet worden war er durch einen Schlag auf den Kopf mit einem großen, stumpfen Gegenstand, den man allerdings nie gefunden hatte. Also nahm man sogar an, dass es sich um zwei Personen gehandelt haben mußte, die sich eine Nacht lang in der Lebensmittelabteilung dem Alkohol- und Zigarettenkonsum hingeben wollten.
Gekommen ist es dazu allerdings nicht mehr, denn dort war nichts angerührt worden.
Über den Tatablauf wurde viel spekuliert, vielleicht waren die beiden miteinander in Streit geraten, davon zeugten etliche verstreute Kleidungsstücke und umgestürzte Regale in fast allen Stockwerken. Zumindest hatte es Auseinandersetzungen gegeben, das war eindeutig. Es wurde auch Blut in allen Stockwerken gefunden, die beiden mußten sich gegenseitig regelrecht bekämpft haben.
Warum der eine schließlich ausgerechnet im dritten Stock getötet wurde, wo man doch annahm, das nur die hochprozentigen Regale im Supermarkt von Interesse gewesen sein dürften, gehörte auch zu den ungelösten Rätseln. Einer der beiden mußte seinen Kumpel schließlich erschlagen und am nächsten Morgen nach dem Öffnen des Vordereinganges und nach dem Eintreffen der ersten Kunden unbemerkt das Haus verlassen haben. Jedenfalls konnte sich später keiner erinnern, eine verdächtige Person bemerkt zu haben.
Richtig geklärt wurde der Fall nie, es blieb eine merkwürdige Sache. Aber wer hatte auch schon ein Interesse am Tod eines 'Penners'. Die Polizei hatte eine Zeitlang im entsprechenden Milieu ermittelt, wahrscheinlich ohne viel Hoffnung auf Erfolge. Jedenfalls geriet der Fall doch ziemlich schnell in Vergessenheit, nach drei Tagen war der Fall aus der Lokalpresse wieder verschwunden. Charlie konnte sich auch nicht erinnern, irgendwann später wieder davon gehört zu haben. Das waren die Fakten.
Er schob sich jetzt mit den anderen Kunden durch die breite Glastür des Haupteinganges die fünf Stufen hinauf in das Haus hinein, dort hielt er sich schräg rechts, vorbei an den Wühltischen der Billigware, die jeden Kunden gleich oben am Treppenrand erwarteten. Die Menschen schienen doch verrückt zu sein, genau die Hektik, die er erwartet hatte. Er würde sich nie daran gewöhnen.
Zwei halbwüchsige Jungs, deren Kleidung den Eindruck erweckte, als wäre sie einem fanatischen Messerstecher in die Hände gefallen, schoben sich rücksichtslos auf den Ausgang zu, dabei grinsten sie mit der Gewißheit, das nötige Aufsehen erregt zu haben.
Das Stimmengewirr schien Charlie fast unerträglich zu sein, es mischten sich ausländische Silben mit der für diese Stadt vorherrschenden Mundart.
Die junge Verkäuferin, hinter den Wühltischen an einer kleinen Kasse, versuchte, sich in diesem Gedränge zu behaupten und einigermaßen die Übersicht zu behalten. Sie konnte sich Charlies Mitgefühl sicher sein. Unablässig malträtierte sie ihren Kaugummi, der sich bisweilen aufblähte, um dann mit einem leisen Knall wieder in sich zusammenzufallen.
Er lief langsam in Richtung Parfümerieabteilung, von hier aus steuerte er auf eine Ecke zu, in der sich Koffer und Reisetaschen bis zur Decke stapelten, erwartungsgemäß waren hier weniger Kunden zu sehen. Hier konnte er sich noch einmal in Ruhe umsehen, um dann zu entscheiden, wann er sich auf sein angestrebtes Ziel zu bewegen mußte.
Der Sicherheitsstandard war nicht sehr groß, das wußte er. Die wenigen Maßnahmen, die man getroffen hatte, bedeuteten eigentlich keine Gefahr, jedenfalls dann nicht, wenn man einigermaßen über die wichtigsten informiert war. Bewegungsmelder, die nachts den gesamten Raum überwachten, gab es hier noch nicht, und Schmuckvitrinen oder Lederware, Dinge, die vielleicht Alarm auslösen konnten, interessierten ihn nicht.
Nachts war das Gebäude mehr nach außen hin gesichert, somit konnte er sich dann innen frei bewegen. Nach dem Vorfall vor knapp zwei Jahren waren die Sicherheitsmaßnahmen kaum verschärft worden. Man ging wohl davon aus, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen würde, nicht nach dem Schicksal des Penners.
Versteckmöglichkeiten gab es mehrere. Zunächst wollte er versuchen, in der Bettenabteilung in der vierten Etage einen geeigneten Unterschlupf zu finden. Vor zwei Tagen hatte er sich dort umgesehen. Er war sicher, dass er sich in ein Bett legen konnte, ohne Gefahr einzugehen, gefunden zu werden, zumal eine Sicherheitsuntersuchung der Betten nach seiner Erfahrung sowieso nicht stattfinden würde. Erfahrungsgemäß standen die Betten ziemlich eng zusammen, oft lagen mehrere Bettdecken übereinander gestapelt oder es fanden irgendwelche Sonderausstellungen statt, deren erforderlichen Arbeiten meist erst nach Tagen abgeschlossen waren, dort würde er bestimmt nicht auffallen.
Sollte es dort wider Erwarten zu gefährlich werden, sollte er also Schwierigkeiten haben, ungesehen unterzutauchen, konnte er sich im gleichen Stockwerk bei den Teppichen unsichtbar machen.
In der vierten Etage war der Andrang nicht besonders groß, Charlie konnte schon auf den letzten Stufen der Rolltreppe direkt die riesige Bettenabteilung ausmachen. Sein Herzschlag steigerte sich jetzt ein wenig, so wie beim Lampenfieber vor einer Prüfung in der Schule.
An der Rolltreppe blieb er einen Moment stehen und sog ein paar Male die Luft langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Es roch etwas angenehmer hier oben als im Erdgeschoß. Die Luft war nicht so verbraucht wie in den Stockwerken, in denen sich aufgrund des Warenangebotes ohnehin mehr Menschen drängelten. Das war einerseits gut, weil es genügend Versteckmöglichkeiten gab, aber auf der anderen Seite barg diese Tatsache auch die Gefahr, dass man vorzeitig entdeckt wurde. Also war äußerste Wachsamkeit angesagt.
Um nicht aufzufallen, drehte er sich zur Schautafel neben der Rolltreppe um, die als Wegweiser für das gesamte Kaufhaus fungierte.
Jede Etage war mit einer anderen Farbe dargestellt, die vierte Etage, in der er sich jetzt befand, war zudem auf der Tafel hell erleuchtet. Betten, Bettwäsche, Teppiche, Möbel, das war alles, was sich anbot, allerdings in hinreichender Menge. Für Charlie die idealen Versteckmöglichkeiten.
Ein eigenartiges Kribbeln befiel ihn, als er an die kommende Nacht dachte. Er vergewisserte sich noch einmal mit einem Griff in die Tasche, gut, es war alles da. Zufrieden schaute er sich nach dem Personal um. Er konnte nur zwei Verkäufer in der Betten-Abteilung ausmachen, die aber beide in Diskussionen mit Kunden verwickelt schienen, und er zählte außerdem mindestens ein Dutzend weiterer Kunden, die mit neugierigem Umherstöbern beschäftigt waren.
Er steuerte auf eine Ecke zu, in der die Betten besonders dicht zusammen standen. Vor einem Regal mit einem riesigen Angebot an Bettlaken blieb er stehen, nahm eines der in Folie gepackten Pakete heraus und sah sich wieder verstohlen um. Kartons waren in einer Ecke zusammengestellt, Folien in einem großen blauen Sack gesammelt worden, das konnte er von seiner Position aus gut erkennen. Also würde sich heute dort niemand mehr aufhalten, dazu war es jetzt, wenige Minuten vor Feierabend, auch zu spät.
Ganz langsam bewegte er sich auf ein Bett zu, dabei versuchte er so unauffällig wie möglich, die beiden Verkäufer im Auge zu behalten. Er brauchte nur Geduld und es ungefähr eine Stunde lang unter den Bettdecken aushalten, bis alle das Haus verlassen hatten. Er würde schon dafür sorgen, dass er genügend Platz hatte, Luft genug bekam und es sich so bequem wie möglich machte, um diese Zeit zu überstehen.
Auch von den noch vorhandenen Kunden war keiner an ihm interessiert. Er hatte Glück, dass er ziemlich weit in einer Ecke stand und keiner der Anwesenden sich für die Bettgestelle interessierte.
Charlie bückte sich, um das Versteck, das er gewählt hatte, genauer in Augenschein zu nehmen. Auf der Matratze stapelten sich ungefähr fünf oder sechs Bettdecken, sie schienen sehr leicht zu sein. Umso besser, hier würde er keine Schwierigkeiten haben, sich genügend Platz und Luft zu verschaffen.
Er fuhr mit der Hand unter die Bettdecken und hob sie etwas an. Ausgezeichnet, die Last der Decken war kein Problem. Während Charlie in seiner Hockstellung verharrte, schaute er sich noch einmal rasch nach allen Seiten um. Die Verkäufer waren in ein Gespräch vertieft, die ersten Kunden bewegten sich langsam auf die Rolltreppe oder das Treppenhaus zu, niemand beachtete ihn. In den anderen Abteilungen dieser Etage war es ähnlich, aber von dort war seine Absicht ohnehin nicht zu erkennen.
Der Augenblick war günstig, Charlie schob beide Arme unter die Bettdecken, zog sein linkes Bein nach, drängte sich seitlich unter die Decken und rollte sich schließlich ganz hinein, bis er sicher war, dass er nicht mehr gesehen werden konnte. Ihm war klar, dass er jetzt keine großen verräterischen Bewegungen mehr machen durfte, um nicht im letzten Moment noch alles zu verpatzen. Also suchte er sich vorsichtig und umständlich eine bequeme Stellung und verharrte.
Das Stimmengewirr und die Musik aus dem Lautsprecher, die er bisher gar nicht zur Kenntnis genommen hatte, wurde ihm mit einem Male bewußt, weil er nun auf jedes Geräusch achtete, das in der Nähe zu hören war. Jetzt mußte er nur noch darauf warten, dass diese Musik verstummte, das Stimmengewirr sich entfernte und die letzten Geräusche, die auf eine Anwesenheit von Personal schließen lassen würden, verschwunden waren.
Charlie schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Langsam beruhigte er sich. Je länger er hier lag, desto gelassener wurde er. Gleichzeitig verspürte er auch ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit, er war sich plötzlich sicher in seinem Vorhaben. Er erinnerte sich an früher, wenn er als Kind in seinem Bett Burgen baute, in die er sich zurückzog und in denen er die Sicherheit suchte und fand, die ihm sonst nirgends erreichbar schien.
Vielleicht sollte er mal seine Taschenlampe aus dem Mantel herausziehen, um auf seine Armbanduhr zu leuchten. Nein, es war jetzt sicherer, keine unnötigen und Bewegungen mehr zu machen. Er wollte auf Nummer sicher gehen, und hier solange ausharren, bis er keine Gefahr mehr einging, beim Herauskriechen noch auf verspätetes Personal zu treffen.
Er entspannte sich und dachte wieder an die Zeit damals Zuhause ...

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Er zuckte zusammen, was war passiert?
Im ersten Moment wußte er nicht so richtig, wo er war, dann erinnerte er sich. Charlie lauschte angestrengt, es war nichts zu hören. Er war tatsächlich eingenickt und merkte nach einer Weile der Besinnung, dass er jedes Gefühl für die Zeit verloren hatte.
Er mußte unbedingt wissen, wie spät es war. Langsam glitt er mit seiner Hand in die linke Manteltasche, um die Taschenlampe herauszuziehen. Aber außer den Batterien konnte er nichts finden.
Verdammt, dachte Charlie nervös, hatte er sich in der Seite geirrt? Mit der anderen Hand fuhr er in die andere Tasche auf der rechten Seite. Das war in seiner Liegestellung nicht unbedingt einfach, er wollte sich so wenig wie möglich bewegen, um kein Risiko einzugehen, falls sich doch noch jemand im Verkaufsraum aufhalten sollte.
Es kam ihm alles wie in Zeitlupe vor, aber warum plötzlich diese Unruhe, sagte er sich. Der Coup schien geglückt. Aber in der rechten Manteltasche hatte er ebenfalls keinen Erfolg. Charlie fing jetzt ein wenig an zu schwitzen. Auch das noch. Er hatte sich vergewissert, das die verflixte Taschenlampe da war, bevor er sich in sein Versteck verzog. Es gab also nur eine Möglichkeit, sie mußte ihm beim Hineinkriechen herausgefallen sein.
Das hieß also, er mußte nun tastend seine Umgebung absuchen. Er drehte seinen Körper leicht auf die rechte Seite; dabei verspürte er keinen Druck, die Taschenlampe lag also nicht auf dieser Seite, zumindest nicht in unmittelbarer Nähe.
Er verlagerte sein Gewicht auf die andere Seite und hielt inne, er hatte sie gefunden. Er hatte sich mit Sicherheit im Schlaf einige Male bewegt, sonst wäre die Taschenlampe noch in der Manteltasche gewesen. Reichlich leichtsinnig, dachte er.
Als er die verflixte Lampe in seiner Hand hielt, fuhr er ebenso langsam mit seinem Arm wieder nach oben, bis er das Gefühl hatte, so zu liegen, dass er seine Armbanduhr anleuchten konnte. Schließlich gelang es ihm.
Es war kaum zu glauben, er hatte tatsächlich über zwei Stunden in diesem Bett zugebracht, es war bereits halb neun.
Er hatte wieder Herzklopfen, diesmal aber freute er sich auf die kommende Nacht. Voller Erwartung hob er die Bettdecken soweit an, bis die Dunkelheit, die ihn umgab, vom hereinfallenden, aber relativ schwachen Licht verdrängt wurde.
Sofort bemerkte er auch die angenehme Luft, die ihm durch die Bewegung entgegen schlug. Charlie stellte verschwitzt fest, dass das Licht im Verkaufsraum ausgeschaltet war und nur die Beleuchtung einer kleinen Lampe auf der anderen Seite den Fluchtweg über das Treppenhaus anzeigte. Es sorgte für soviel Helligkeit, dass er überhaupt etwas erkennen konnte.
Charlie schlug die Bettdecken beiseite und kam mit einem Satz auf die Bettkante zu sitzen. Dann sah er sich in Ruhe um. Er wagte nicht, seine Taschenlampe einzuschalten, er mußte erst ganz sicher gehen.
Er konnte sich eines kleinen schaurigen Moments nicht erwehren. Hier war er also nun, das Haus gehörte ihm.
Es war ein seltsames Gefühl ...
Er war ausgeruht, aber ein wenig durstig.
Sein Blick glitt hinüber zum Treppenhaus, wanderte dann weiter zur Rolltreppe und blieb schließlich an einer Tür hängen, die nur für Personal zu sein schien. Ein Hinweisschild war nicht vorhanden. Die Tür war auch nicht beschriftet. Er erwartete zwar nicht, Geld oder überhaupt irgend etwas an Wert zu finden, aber irgendwie zog ihn die Tür dennoch magisch an.
Er stand auf und streckte sich in freudiger Erwartung. Bevor er sich etwas zu Trinken aus dem Supermarkt im Untergeschoß holen wollte, mußte er sich erst einmal hinter dieser Tür umschauen.
Einen Meter hinter dem Bettgestell war der Teppich, getrennt durch eine Schiene, in Marmorboden übergegangen. Fast kam es ihm vor, als fühlte er sich bei etwas Verbotenem ertappt. Verdammt, er tat ja etwas Verbotenes, er war weiß Gott nicht in einer alltäglichen Situation.
Charlie ging zurück auf den Teppich, umrundete das Bett und steuerte erneut auf die Tür zu. Dort angekommen, legte er die Hand auf den Türgriff und lauschte angestrengt. Das Einzige, was sein Ohr wahrnehmen konnte, war das Rauschen seines Blutes und sein Herzschlag.
Vorsichtig drückte er den Türgriff nach unten, kaum zu glauben, eigentlich hatte er eine abgeschlossene Tür erwartet, doch sie ließ sich ohne weiteres öffnen. Der Raum war länglich, hatte kein Fenster und es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Es schien nur ein Lagerraum zu sein.
Er holte seine Taschenlampe aus dem Mantel heraus und ließ den Lichtpegel über einen kleinen Schreibtisch kreisen, auf dem ein großer Kalender als Schreibunterlage diente. Daneben stand sich ein fast voller Aschenbecher und diverse Reste von Etiketten und Klebematerial, wie er es schon etliche Male auf den einzelnen Bettgestellen und anderen Möbeln gesehen hatte. Das Reinigungspersonal hatte hier nur sehr oberflächlich gearbeitet.
Sein Blick blieb bei der Geldkassette hängen, die auf einem Stapel von Papieren thronte. Als er den Schlüssel sah, der noch im Schloß steckte, wußte er, das sie leer war. Dennoch prüfte er es nach. Aber sie blieb leer. Das Ende des Raumes war gefüllt mit allerlei Kartons und Verpackungsmaterial. Er konnte erst jetzt sehen, dass er die Geräumigkeit unterschätzt hatte. Es gab sogar einen kleinen Tisch, an dem drei Stühle angelehnt waren, auch hier ein nur oberflächlich gesäuberter Aschenbecher. Aber irgendwelche nützliche Dinge gab es hier nicht.
Charlie verließ den Raum wieder und ließ die schwere Tür ins Schloß fallen. Er spürte, dass sein Durstgefühl Gesellschaft durch den Hunger bekommen hatte. Also auf in den Supermarkt, dachte Charlie vergnügt.
Es war mal was anderes, die Rolltreppe zu benutzen, ohne dass sie sich bewegte. Während er sie in weiten Schritten hinabstieg, sah er auf die Rillen hinunter, die matt im schummrigen Licht glänzten. Es war schwierig, den Blick abzuwenden, ohne Gefahr zu laufen, zu stolpern. Das dumpfe Hallen seiner Schritte verbreitete sich im Raum. Er ging, ohne sich in den Stockwerken, in denen er die Rolltreppen wechselte, weiter umzusehen, bis zum Erdgeschoß hinunter.
Der Raum wimmelte urplötzlich von unheimlichen Schatten, die sich um ihn herum zu bewegen schienen. Dann bemerkte er, dass die Schatten, die scheinbar von Regal zu Regal, über die Wände in die Ecken sprangen, durch die schwankenden Lichter in der Einkaufsstraße hervorgerufen wurden. Sie verbreiteten in dieser Etage ein wenig mehr Licht. Außerdem waren die Schaufenster erleuchtet, um einen verspäteten Spaziergänger dazu zu bewegen, sich in ihren Bann ziehen zu lassen. Charlie wußte das genau. Der Wind war also aufgrund der sich hin und her wiegenden Lichter stärker geworden. Hören konnte er allerdings noch nichts.
Das Einzige, was er noch ausmachen konnte, war ein leises Summen, dessen Ursprung ihm zunächst schleierhaft war. Er drehte sich um, aber die Richtung, aus der das Summen kam, ließ sich nicht genauer feststellen. Er mußte die Ursache dafür ausfindig machen. Alles, was ihm unbekannt war, wollte er einer genaueren Untersuchung unterziehen, damit er sich die kommende Nacht an alle Geräusche gewöhnte und vor einer Überraschung sicher war.
Um in das Untergeschoß zu gelangen, mußte er eine breite Marmortreppe, die zum Supermarkt hinunter führte, benutzen. Eine Rolltreppe gab es hier nicht. Unten angelangt, blieb er einen Moment stehen und maß die Situation mit einem Seufzer. Der Bereich zu den Waren war mit einem ziemlich stabilen Rollgitter versperrt. Nur die Einkaufswagen, die sich in der rechten Ecke, in einer kleinen Nische, drängelten, waren frei zugänglich.
Er hatte damit gerechnet, diesen Raum so vorzufinden, bei früheren Einkäufen war ihm das Rollgitter zwar nie aufgefallen, aber glücklicherweise hatte er sich bei seinen Rundgängen der letzten Woche, in denen sein Plan wuchs, alles genau angesehen.
Er hatte bemerkt, dass in der Decke eine Vertiefung eingelassen war, in der das Rollgitter nahezu vollständig verschwinden konnte.
Um sich die Sache genauer anzusehen, war er vor ein paar Tagen ziemlich früh in das Kaufhaus gegangen, kurz nachdem für die Kunden geöffnet worden war. Da er wußte, dass der Supermarkt erst eine halbe Stunde später seine Pforten öffnete, konnte er sich das Gitter ansehen und nach einer Möglichkeit Ausschau halten, um in "seiner" Nacht dieses Hindernis zu überwinden.
Er war selbst überrascht, wie schnell er diese Möglichkeit gefunden hatte. Im linken Bereich des Rollgitters, direkt nahe der Wand, gab es eine kleine Tür, die mit einem Schloß versehen war. Sie stellte für Charlie kein unüberwindliches Hindernis dar.
Schließlich hatte er ja vorgesorgt. Alles, was er dazu brauchte, war sein Schraubenzieher und gegebenenfalls sein Universaltaschenmesser, damit konnte er die Tür spielend öffnen.
Nach wenigen Minuten hatte er es geschafft. Er hängte das geöffnete Schloß ein und ließ die Tür geöffnet. Als ob er es plötzlich eilig hätte, steuerte er direkt auf das Regal zu, in dem er seine Lieblingskekse vermutete.
Nach wenigen Schritten blieb er stehen, die Dunkelheit hatte hier den ganzen Raum eingehüllt, fast konnte er seine Hand nicht mehr vor Augen sehen. Er nahm seine Taschenlampe zur Hand und leuchtete in die Gänge zwischen den einzelnen Regalen hinein. Kurz darauf nickte er bestätigend.
Als er die Süßigkeiten gefunden hatte und die ersten Kekse begierig in sich hineinstopfte, entschloß er sich, noch eine Packung mit eingeschweißten Würstchen mitzunehmen, sozusagen als Wegzehrung. Zwei Packungen verschwanden in seiner Manteltasche, dann begab er sich in Richtung Getränkeabteilung. Er stopfte sich eine Flasche Selterswasser in die Tasche für seinen späteren Rundgang durch das Haus.
Danach schaute er sich kauend die Etiketten der Spirituosen an. Aber die waren vor ihm sicher. So dumm war er nicht. Während er anschließend die Auswahl betrachtete, kaum er auf den Gedanken, sich die Kassen etwas genauer anzusehen.
Viel Hoffnung auf Erfolg hatte er nicht, aber ihm war im Vorbeigehen aufgefallen, dass die Kassen geschlossen waren. Er hatte oft abends bei seinen Spaziergängen in der Stadt, wenn er sich die Nase an den Schaufenstern der verschiedenen Geschäfte platt drückte, die meisten Kassen geöffnet gesehen, die jeden potentiellen Dieb von vorneherein sein nutzloses Unterfangen klarmachen sollten.
Natürlich war das hier nicht nötig, denn der Supermarkt mit seinen Kassen war von außen nicht einsehbar, aber vielleicht waren gerade deshalb kleinere Beträge in den Kassen verblieben.
Er begab sich gemächlich zurück zur ersten Kasse und sah sie sich im Schein seiner Taschenlampe genauer an.
Um an die Lade mit dem Geld heranzukommen, setzte er sich, wie es sonst nur die Verkäuferinnen beim Kassieren taten, auf den kleinen Drehstuhl. Dann legte er die Taschenlampe seitlich auf das Laufband für die Waren, so, dass die Kasse angestrahlt wurde und er beide Hände frei hatte. Er schob sich einen Keks in den Mund, holte sein Taschenmesser heraus und begann vorsichtig, die Lade zu bearbeiten.
Während er sich gemächlich kauend an der Kasse zu schaffen machte, beschlich ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Es kam so schnell, dass sich seine Nackenhaare sträubten, als wenn er einen leichten Stromschlag erhalten hätte.
Er hatte dieses Gefühl nicht oft in seinem Leben gehabt, aber soweit er sich erinnerte, war es meistens mit Gefahr verbunden gewesen.
Er bildete sich nicht ein, Vorahnungen oder etwas Ähnliches zu haben, aber er hatte die Gewißheit eines Mannes, der schon oft in brenzligen Situationen gesteckt hatte.
Irgendwie hatte er das Gefühl, als würde sich ein scharfer Blick in seinen Rücken bohren. Langsam drehte er sich mit seinem Stuhl zur Treppe um. Er konnte von seiner Position gerade noch den Absatz der obersten Stufe zum Erdgeschoß erkennen.
Direkt an der Mauer, die den Treppenbereich an der Seite begrenzte, glaubte er einen Moment lang, zwei kleine helle Punkte ausgemacht zu haben.
Ein Hund, durchfuhr es ihn, das konnte nicht wahr sein, hatte er das nicht bedacht?
Sein Herzschlag brachte sich pochend in Erinnerung. Er riß seine Augen unwillkürlich weiter auf, um mehr zu erkennen. So verharrte er einige Sekunden.
In der Woche hatte er keinen Hund gesehen, auch nachts, wenn er, wie schon oft vorgekommen, am Kaufhaus vorbei schlenderte, war ihm nie ein Hund aufgefallen. Diese Gedanken schossen ihm blitzschnell durch den Kopf, während er weiter nach oben starrte.
Sie waren wieder verschwunden und er verwarf den Gedanken an einen Hund auch sofort wieder, der hätte ihn längst angefallen oder hätte zumindest einen enormen Radau veranstaltet. Außerdem lagen die beiden Lichtpunkte viel zu nah zusammen für einen großen Hund und ein kleinerer dürfte es wohl kaum sein.
Nein, es mußte sich um etwas anderes handeln. Vielleicht war es eine Sinnestäuschung, vielleicht hatte sich das Licht der Laternen in der Einkaufsstrasse in irgendeinem Gegenstand gespiegelt.
Das musste es gewesen sein. Aber wieso waren die Lichter jetzt verschwunden, hatte der Wind sich noch verstärkt, wanderten die Lichtpunkte oben am Treppenansatz hin und her?
Charlie beschloß, dieses Geheimnis zu lüften. Er beeilte sich nun mit seiner Arbeit. Der Schreck war ihm ganz schön durch die Glieder gefahren.
Er nahm einen Schluck aus der Flasche und hatte schließlich nach ein paar Minuten die Lade geöffnet. Aber auch sie war leer, ein wenig Enttäuschung machte sich doch breit, mit einem Ruck ließ er die Lade wieder in ihre Ausgangsposition einschnappen, dann erhob er sich, steckte sein Taschenmesser wieder ein und ging auf die Gittertür zu. Nicht ohne sich zu vergewissern, dass er seine Wegzehrung eingesteckt hatte.
Am oberen Treppenrand bemühte sich Charlie, eine Erklärung für seine Beobachtung zu erhalten. Aber er fand nichts. Direkt an der Stelle, wo er die beiden Lichtpunkte gesehen hatte, war nichts, was auf Lichtspiegelung hätte hindeuten können. Also doch Einbildung, eine Sinnestäuschung?
Charlie, jetzt nur keine Panik, hörte er sich selbst leise sagen.
Er tat dies mehr, um sich selbst zu beruhigen, denn seine eigene Stimme zu hören, gab ihm doch etwas Sicherheit und Zuversicht.
Im Schutz der Regale bewegte er sich auf die Schaufenster zu. Vorsichtig sah er aus sicherer Entfernung auf die Einkaufsstraße. Der Bereich, den er von seiner Position einsehen konnte, war menschenleer, aber er wagte nicht, dichter an die Fenster heranzutreten.
Im Schein der Lampen, die die ausgelegten Waren in den einzelnen Schaufenstern hell erleuchteten, konnte er schnell von außen gesehen werden. Er wußte, dass es noch einige Spaziergänger geben würde, die diese Straße passierten. Einige waren auf dem Weg nach Hause, waren in den Restaurants gewesen, hatten sich in Kneipen getroffen. Andere, rastlos umherlaufend, vertrieben sich die Zeit, in der sie keinen Schlaf finden konnten.
Er selbst war hier schon oft umhergewandert, in Gedanken versunken, seine Phantasie beflügelnd, Energie aufladend, um dann die nächsten Tage wieder überstehen zu können.
Manchmal hatte er das Gefühl, der Wunsch nach Veränderung, nach neuer Umgebung, anderen Jobs, besser bezahlten Jobs, wurde so groß, dass er es kaum aushalten konnte. Die Spaziergänge vertrieben diese Gedanken für kurze Zeit.
Das Klappern von Schuhen riß ihn aus seinen Gedanken, jemand kam die Straße herauf, mußte gleich an den Schaufenstern vorbeikommen. Charlie konnte zwei Frauen ausmachen, die ziemlich schnell auf das Kaufhaus zukamen. Charlie beobachtete sie interessiert. Der Wind spielte mit ihrem Haar, anscheinend war er inzwischen noch kräftiger geworden sein. Ihm wurde auch erst jetzt bewußt, dass er die pfeifenden Geräusche des Windes vernehmen konnte, die um die Ecken der Häuser zu jagen schienen.
Als die beiden Frauen aus seinem Blickfeld wieder verschwunden waren, bemerkte Charlie, dass er auch noch ein anderes Geräusch wahrnahm, das er vorher schon einmal registriert hatte.
Die Leuchtstoffröhren in den Schaufenstern gaben das leise Summen von sich, das er vorhin schon bemerkt hatte und das in seiner Gleichmäßigkeit sogar beruhigend, fast vertraut wirkte.
Charlie setzte sein abendliches Menü fort und holte sich den letzten Keks aus der Packung, dabei drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung, um sich den Raum im Schein der Lampen anzusehen.
Er blinzelte mit den Augen, während er sich in Ruhe umsah. Irgendwie schien es ihm, als würde er diesen Augenblick viel bewußter erleben, so, als stünde er heute zum ersten Mal hier, oder als ob er sich verabschiedete und sich alles noch einmal ansehen mußte, um das Aufgenommene zu konservieren und später aus der Erinnerung schöpfen zu können.
Charlie verschwendete keine weiteren Gedanken an diesen Eindruck, er hatte vor, sich nun auf seinem Rundgang ein wenig neu einzukleiden. Zunächst wollte er sich ein neues Hemd verschaffen. In der Etage, in der er sich zur Zeit befand, gab es reichlich Angebote. Er hatte genügend Gelegenheit, sich etwas genauer umzusehen. Die Tische mit der Herrenoberbekleidung befanden sich auf der anderen Seite des Raumes. Im zweiten Stock würde er sich dann später nach Mäntel und Jacken umsehen und seine äußere Verwandlung beenden.
Auf dem Weg in den anderen Bereich der Etage mußte er sich an den Drehständern und Regalen regelrecht vorbei tasten, viel war hier nicht zu erkennen. Außerdem war alles über Nacht ziemlich eng zusammengestellt worden.
Die Taschenlampe zu benutzen, traute sich Charlie nicht. Nachdem er sich für ein paar Hemden entschieden hatte, nahm er den gleichen Weg zurück zur Treppe. Er bewegte sich langsam zwischen den Wühltischen, Kleidungsständern und Regalen hindurch.
Als er an einem der Tische vorbeikam, den er vorher schon einmal passiert hatte, fühlte er plötzlich einen stechenden Schmerz an der rechten Wade. Es kam so überraschend und heftig, dass er unwillkürlich am nächsten Tisch festhielt. Sein 'Einkauf' verteilte sich vor seinen Füßen. Er mußte irgendwo einen spitzen Gegenstand gestreift haben, das war ihm sofort klar, aber wieso hatte er diesen nicht schon vorher bemerkt. An dieser Stelle war es so eng, dass er ihn eigentlich schon beim ersten Mal nicht hätte verpassen können.
Er fluchte, hoffentlich war es nicht so schlimm, wie es sich im ersten Schreck angefühlt hatte, dachte er im Stillen. Der Schmerz war zwar augenblicklich wieder verschwunden, aber Charlie rieb sich die Stelle, an der er getroffen wurde.
Dann hob er die Kleidungsstücke, die ihm entglitten waren, wieder auf und begab sich auf den Weg zur Treppe. Plötzlich hielt er inne, seine Hand fühlte sich klebrig an. Eisiger Schreck durchzog ihn. Blut, das konnte nur Blut sein.
Charlie schüttelte verständnislos den Kopf, wieso blutete eine Schramme derart stark?
Als er bei der Treppe angekommen war, riskierte er im matten Lichtschein einen Blick auf sein Bein. Er hob seine Hose soweit an, dass er die Stelle erkennen konnte. Es stimmte, ein wenig Blut war zu sehen.
Verdammt, ärgerte sich Charlie, das mußte er sich jetzt doch genauer ansehen.
Er begab sich ohne die Kleidungsstücke zu den Umkleidekabinen, wo er sich sicher war, seine Taschenlampe benutzen zu können. Im Lichtschein konnte er sich die Wunde genauer betrachten. Die Verletzung war nicht sehr groß, genauer gesagt konnte er eigentlich keinen Kratzer erkennen. Das Einzige, was er sah, war ein kleiner Einstich, den er aber erst bemerkte, als er das Blut zum größten Teil entfernt hatte. Das war doch eher unwahrscheinlich, wunderte er sich. Im Vorbeistreifen an einem spitzen Gegenstand mußte es einen Kratzer geben, aber keinen solchen sauberen Einstich.
Charlie stand vor einem Rätsel. Gott sei Dank hatte es auch schon aufgehört zu bluten, der Einstich hatte sich schon wieder verschlossen, also keine ernsthafte Wunde, dennoch wollte er die Unfallstelle einer genaueren Musterung unterziehen.
Der Ort, an dem es passiert war, konnte er leicht wiederfinden, im Schein seiner Taschenlampe konnte er ein paar Bluttropfen neben dem Tisch sehen. Aber so sehr er sich auch bemühte, einen Nagel oder etwas anderes, dass seiner Meinung nach die Ursache sein mußte, zu finden, er hatte keinen Erfolg.
Charlie fing an zu schwitzen, das war unmöglich. Fing er an, unter Halluzinationen zu leiden? Aber ebenso, wie er sich der beiden hellen Punkte, die wie Augen aussahen, sicher war, so sicher war er auch in diesem Fall, das Blut konnte man sich nicht einbilden.
Charlie erhob sich von dem Teppich, auf dem er zuletzt gekniet hatte und sah sich um. Er brauchte jetzt dringend einen Waschraum. Er wußte zwar, dass es im obersten Stockwerk ein Restaurant gab und daher auch Kunden-WC und Waschmöglichkeiten vorhanden waren, aber es ärgerte ihn, jetzt bis nach ganz oben zu laufen.
Völlig aus dem Konzept gebracht, ging er langsam auf die Rolltreppe zu, die er vorher heruntergekommen war. Dort blieb er stehen. Ihm war inzwischen warm geworden, deshalb entschloß er sich nach kurzem Zögern, sich seines Mantels zu entledigen. Er warf ihn kurzerhand nahe der Rolltreppe über einen Tisch, auf dem sich eine Reihe von billigen Büchern stapelten und stapfte nach oben.
Der Wind war jetzt auch hier drinnen deutlich zu hören, es schien Sturm zu geben. Das Pfeifen des Windes war für ihn immer etwas Besonderes gewesen. Früher, als er noch ein Kind war, hatten seine Eltern den Urlaub immer auf einer Nordseeinsel verbracht.
Wenn andere am Strand lagen, um sich die nötige Farbe für die Zeit nach dem Urlaub zu erkämpfen, suchte er die Nähe des Wassers, besonders an den Tagen, an denen ein starker Wind die Wasseroberfläche aufriß, das Sprechen unmöglich werden ließ und die Gedanken bei geschlossenen Augen weit, weit entfernt entschwanden.
Der Waschraum im fünften Stock war offen, stellte Charlie befriedigt fest. Er betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Es roch nach Schmierseife und scharfen Reinigungsmitteln. Er ließ sich in eines der Waschbecken warmes Wasser einlaufen, dann zog er seine Hose aus und begann, das trockene, teilweise schon verkrustete Blut abzuwischen.
Als er sich seine Hose wieder anzog, kam ihm plötzlich die Idee, dass etwas Alkohol nun doch nicht schaden könnte. Ob er damit sein Bein meinte oder an eine Erfrischung dachte, war ihm in dem Moment selbst nicht klar.
Er begab sich auf dem schnellsten Wege wieder nach unten, dabei war er sich sicher, dass er gleich seinen nun lange genug aufgeschobenen Streifzug endlich beginnen konnte.
Die Gittertür im Supermarkt hatte er offen gelassen, gerade, als er sich auf das Regal mit den alkoholischen Getränken zu bewegen wollte, hielt er inne, er hatte seine Taschenlampe nicht dabei.
Charlie versuchte, sich zu erinnern, natürlich, er hatte seinen Mantel über einen Tisch gelegt, bevor er in den Waschraum ging.
Er nickte überzeugt und wandte sich um, stieg die wenigen Stufen, die zum Erdgeschoß führten, wieder empor und steuerte auf die Rolltreppe zu.
Bei der Rolltreppe angekommen, sah er sich die Tische, die um ihn herum standen, an. Einen Moment lang stutzte er, denn er konnte seinen Mantel nicht sofort entdecken. Entweder war er herunter gerutscht oder auf dem Tisch irgendwo zwischen die Ware gefallen.
Er sah sich den großen Tisch mit den Büchern an, der nur einen Meter von der Rolltreppe entfernt stand. Nein, auf dem Tisch lag er nicht, dann hätte er seinen Mantel auch sofort entdeckt, also suchte Charlie auch den Bereich neben dem Tisch ab.
Seine Situation erschien ihm fast lächerlich. Gut, dass ihn niemand so sah. Nun kniete er schon zum zweiten Male auf dem Boden, um nach etwas zu suchen. Aber den Mantel konnte er ncht entdecken, er war verschwunden.
Charlie stand auf und atmete tief durch. Er stemmte seine Hände in die Hüfte und überlegte. Hatte er sich im Stockwerk geirrt? Nein, er erkannte eindeutig die Umgebung. Es war zum Verzweifeln.
Sein Unbehagen, das ihn vor wenigen Minuten beherrscht hatte, war mit einem Schlag wieder da. Ein Wechselbad der Gefühle.
Das konnte doch eigentlich nicht wahr sein, Charlies Gedanken kreisten hin und her. Er war überzeugt, den Mantel nicht mit nach oben in den Waschraum genommen zu haben. Spielten ihm seine Sinne einen Streich, war hier jemand, der sich über ihn lustig machte?
Nein, natürlich nicht, dachte Charlie bei sich, er mußte den Mantel in Gedanken wohl doch an anderer Stelle liegengelassen haben. Was blieb ihm anderes übrig, als den Weg abzugehen, den er vorhin genommen hatte?
Der Elan, mit dem er noch vor wenigen Minuten diesen Weg gegangen war, schrumpfte zusehends auf ein Minimum. Als er die Rolltreppe im dritten Stock verließ, um die wenigen Schritte zur nächsten Rolltreppe zu gehen, die in den vierten hinauf führte, blieb er einen Moment lang stehen.
Er hatte so etwas Ähnliches wie Wispern oder Tuscheln vernommen, so wie Kinder es manchmal tun, wenn sie sich über jemanden lustig machen. Hatte er richtig gehört oder war das nur der Wind?
Jetzt mal ganz ruhig, Charlie, dachte er verärgert. Er lauschte angestrengt mit weit aufgerissenen Augen, da er aber nichts mehr hörte, stieg er weiter die Rolltreppe hinauf und öffnete schließlich im fünften Stock den Waschraum.
Er schloß die Tür wieder und ging auf die Waschbecken zu, die Spuren seiner eben vorgenommenen Reinigung waren noch zu sehen. Der Mantel allerdings war hier nicht.
Ein dumpfer Schlag ließ Charlie gar nicht erst die Zeit dazu, näher über diese verzwickte Situation nachzudenken. Ein harter Gegenstand war mit Macht gegen die Tür geknallt.
Charlie wirbelte herum und starrte die Tür an, für einen Moment war er keiner Bewegung fähig.
Als der zweite Knall erfolgte, war das für ihn ein noch größerer Schreck als beim ersten Mal. Wieder war er unvorbereitet, aber diesmal handelte er.
Nur eine Sekunde später war er mit einem Satz bei der Tür und riß sie auf. Er sah nur noch im trüben Licht, wie eine seiner Batterien, die er heute nachmittag in den Mantel gesteckt hatte, über den Boden rollte.
Eine andere Batterie, die den ersten Knall verursacht haben mußte, lag nicht weit davon entfernt auf dem Teppich, wie er mit einem schnellen Seitenblick registrierte.
Das Gefühl war wieder da, Charlie spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, ein Schauer jagte über seinen Rücken.
Für einen Moment hing sein Blick wie gebannt auf den Batterien, dann sah er sich suchend um. Aber es war natürlich zu spät.
Es war niemand zu sehen, kein verdächtiges Geräusch war zu hören, nur der Wind, der sein Stöhnen und Ächzen verstärkt hatte, war deutlich zu vernehmen. Aber etwas wurde Charlie in diesem Moment schlagartig bewußt, er war nicht allein ...
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Er brauchte nicht lange, um sich wieder zu beruhigen, der Fall war für ihn glasklar. Ein paar Kinder hatten die gleiche Idee gehabt.
Kaum zu glauben, wie der Zufall manchmal so spielt. Na schön, er würde ihr Spiel mitspielen. Die Nacht schien interessant zu werden. Damit waren alle geheimnisvollen Phänomene der letzten Stunde erklärt. Halluzinationen waren es also nicht gewesen.
Sie hatten ihn zwar zuerst entdeckt, aber nun wußte er Bescheid. Dass sie ihn am Bein verletzt hatten, ging ihm zwar ein bißchen zu weit, aber das würde er ihnen austreiben. Zunächst mußte er erst einmal wissen, mit wem und wie vielen er es zu tun hatte. Das war nicht leicht, ihr Versteck kannte er nicht und das Kaufhaus war groß.
Er stand noch immer an der gleichen Stelle, während er die Batterien anstarrte. Richtig, seine Taschenlampe brauchte er wieder zurück.
Mit einem Hechtsprung lag er plötzlich auf dem Teppich und sah sich blitzschnell nach allen Seiten um. Zu sehen war nichts, wie auch nicht anders zu erwarten war. Na gut, er wird schon noch auf seine Kosten kommen. Am Ende würde er doch schlauer sein, er brauchte praktisch nur auf Leichtsinnsfehler zu warten.
Charlie dachte einen Moment nach. Er kam zu dem Schluß, dass es das Beste sei, erst einmal abzuwarten. Er mußte sich auf die Lauer legen, um im richtigen Moment zu überraschen. Eigentlich brauchte er nur zu warten, die würden schon von allein kommen.
Am geeignetsten erschien ihm ein Platz, der gut versteckt in einer Ecke lag, aber einen guten Überblick über die gesamte Etage bot. Im Hinblick auf den vermeintlich sicheren Erfolg seines Planes erhellte sich seine Miene und er sah sich nach einer geeigneten Stelle um. Als sein Blick an der Rolltreppe vorbei glitt, bemerkte er einen dunklen Schatten direkt am Beginn der Treppe auf der obersten Stufe, regungslos, geheimnisvoll.
Langsam bewegte er sich auf den dunklen Schatten zu, der eigentlich nicht so richtig in sein gerade beschlossenes Konzept paßte. Aber je näher er der Treppe kam, desto mehr sagte ihm sein Instinkt, dass sich in seiner Nähe etwas zusammenbraute. Er spürte, hier war irgend etwas nicht in Ordnung.
Der Schatten entpuppte sich als sein Mantel, den er vorhin vermißt hatte. Nun war er auch sicher, dass dieser erst seit wenigen Minuten hier liegen konnte. Denn an diesem Ort war er eben vorbeigekommen. Charlies Augen wurden groß, denn trotz des schlechten Lichtes konnte er deutlich erkennen, was vor ihm lag.
Charlie war verwirrt angesichts des Bildes, das sich ihm bot: die Ärmel des Mantels waren ausgebreitet, als würde jemand vor der Treppe liegen, um in stiller Andacht die empor laufenden Stufen in sich aufzunehmen. Aber hier bewegte sich nichts. Das Irritierende waren die vielen Schnitte und Risse, die seinen Mantel überzogen.
Jemand hatte sich mit einer Schere oder einem Messer viel Mühe gegeben. Kein Zweifel, der Mantel war unbrauchbar und auch mit Sicherheit nicht mehr zu flicken. Charlie kämpfte seinen aufkommenden Ärger hinunter, das war denn doch zuviel. Er schluckte heftig, stöhnte vernehmlich und sah die Stufen hinunter.
Überrascht registrierte er eine flinke Bewegung am unteren Ende der Stufen. Etwas hatte ihn beobachtet und huschte nun schnellfüßig aus seinem Blickfeld heraus, begleitet von einem hellen Kichern.
Charlie war sich sicher, dass das huschende Wesen kein Kind gewesen sein konnte, dazu waren die Beine zu kurz, der ganze Körper zu ungleichmäßig für ein Kind. Es hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Liliputaner, aber der Körper war vollständig beharrt, das glaubte er jedenfalls trotz der kurzen Zeit erkannt zu haben. Außerdem standen die Ohren weit, fast lächerlich weit vom Kopf ab.
Verdammt, mit was hatte er es hier zu tun?
Mit ein paar Sätzen rannte er die Treppe herunter, aber es war bereits zu spät. Auch diesmal hatte sich der vermeintliche Gegner scheinbar in Luft aufgelöst.
In dem Glauben, dass das Wesen weiter die Treppen herunter gerannt war, folgte er ihm, bis er im ersten Stock gelandet war. Hier blieb er stehen und lauschte. Aus ein paar Metern Entfernung, seitlich, in der Nähe eines Tresens, der auf der ihm zu gewandten Seite überfüllt war mit Zeitschriften, drang ein Scharren, Schleifen zu ihm herüber, das abrupt wieder endete.
Plötzlich, die Gewißheit einer drohenden Gefahr.
Das surrende Geräusch kam von der rechten Seite, während er noch immer nach vorn auf die Zeitschriften starrte. Als er sich umwandte, sah er im Licht der Laternen mehrere Spielzeugpanzer auf sich zurollen, sie waren höchstens zwanzig Zentimeter lang. Die kleinen Soldaten, die diesen Zug begleiteten, liefen wie von unsichtbarer Hand geführt.
Er fühlte sich wie in einem Film. Völlig unbeteiligt, beinahe versteinert beobachtete Charlie diese fast komische Szene. Ihm war jedoch nicht danach zumute, darüber zu lachen.
Noch nie hatte er davon gehört, dass Spielzeugsoldaten dieser geringen Größe durch Batterien betrieben werden konnten. Auch der Bewegungsablauf war nicht typisch für solches Spielzeug, kein gleichmäßiger oder abrupter Gang. Sie bewegten sich völlig normal, als würde es sich um Menschen in Miniatur-Format handeln.
Faszinierend verfolgte Charlie diese Szene, bis ihn die ersten Schüsse der Soldaten am Oberschenkel trafen. Ungläubig nahm er die leisen, knallenden Geräusche und die Stiche, wie von tausend Nadeln, zur Kenntnis.
Mit beiden Händen umfaßte er sein Bein, der Blick flog zwischen dem weiter heranrückenden Trupp und seinem Bein hin und her. Als sich die winzigen Kanonen plötzlich aufrichteten, um ihn ins Visier zu nehmen, erfaßte ihn Panik. Mit einer hastigen Bewegung brachte er sich hinter einem Tisch in Sicherheit.
Keine Sekunde zu früh. Während seines Sprunges ertönte das helle Knattern der Kanonen. An der ruckartigen Bewegung des ersten Hemdes an dem Ständer, vor dem er sich soeben noch befunden hatte, erkannte er, daß die Ladung das Hemd voll erwischt haben mußte.
Ohne lange zu überlegen, erhob er sich und rannte gebückt in die entgegengesetzte Richtung. Nach ein paar Metern blieb er stehen, sah sich um, konnte aber niemanden erkennen, der ihn verfolgte. Nur das surrende Geräusch des sich vorwärts bewegenden Marsches war noch, wenn auch sehr leise, zu vernehmen.
Er versuchte die Lage zu erfassen. Die Abteilung mit der Damenwäsche lag direkt vor ihm, dahinter konnte er große Tische mit Stoffwaren ausmachen.
Gerade wollte er sich in diese Richtung weiter bewegen, als er von der linken Seite aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Aber noch bevor er reagieren konnte, traf ihn der Schlag völlig unvorbereitet in den Bauch. Der Schmerz nahm ihm fast die Luft. Ein kurzer Blick ließ ihn erstarren.
Ein kleiner Baseballschläger, wie er an Kinder verkauft wurde, in den Händen dieses Teddybärs. Der Schlag kam von unten herauf und wurden von einem höhnischen Gelächter begleitet. Im Laufen hielt sich Charlie den Bauch, nach Luft ringend.
Das Ganze kam ihm völlig absurd vor, nichts von dem, was sich hier abspielte, ergab für ihn einen Sinn. Ein kleines behaartes Wesen von der Art eines Teddybärs hatte ihn 'überfallen'.
Lächerlich, unmöglich.
Wieso flüchtete er überhaupt? Rannte er vor Spielzeug in panischer Angst davon? Das waren seine einzigen Gedanken, während er gleichzeitig das Treppenhaus erreichte und mit Riesensätzen wieder in den vierten Stock zurück rannte.
Diesmal versicherte er sich, dass er nicht sofort überrascht werden konnte, als er an den oberen Stufen ankam. Zu sehen und zu hören war nichts, allerdings hatte der Wind draußen jetzt fast Sturmstärke erreicht und schluckte alle Geräusche. Er mußte vorsichtig sein.
Sein Blick flog wie automatisch wieder auf seinen Mantel, der noch immer ausgebreitet auf den Stufen vor ihm lag. Er untersuchte hastig die Taschen. Die Taschenlampe war weg, der Schraubenzieher ebenfalls.
Er hob den Mantel auf und durchsuchte ihn weiter, während er sich bewegte, nicht ohne aufmerksam seine Umgebung zu taxieren.
Überrascht blieb er stehen und sah auf seinen Mantel, das Messer, er hatte das Messer gefunden. Wie konnten sie das übersehen? Charlie rätselte nicht lange über diese Chance. Er warf den Mantel beiseite und behielt das Messer in der Hand.
Seltsam, wie sich die Lage, in der er steckte, verändert hatte. Statt sich irgendwo zu verstecken, suchte er jetzt einen möglichst offenen Platz auf, an dem er vor Überraschungen sicher war. Hatte er sich selbst in einem Gefängnis eingeschlossen?
Das Gefühl, hinter jedem Regal, unter jedem Tisch, auf jedem Bett könnte die Gefahr lauern, ließ ihn jede vermeintlich gefährliche Ecke meiden.
Seine Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Am äußeren Ende einer Tischzeile, wo er einen freien Platz fand und einen guten Überblick hatte, blieb er stehen. Nur ein Stapel Teppiche war ungefähr hüfthoch vor ihm aufgebaut.
Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber er fühlte sich hier einigermaßen sicher.
Charlie überlegte. Sicher war nur, das er es mit einem ihm unbekannten Gegner zu tun hatte. Das waren keine Kinder, sie waren eher wie Spielzeugpuppen, denen man Leben eingehaucht hatte, um sich gegen den Menschen, den Eindringling, aufzulehnen.
Sein Oberschenkel brachte sich schmerzlich in Erinnerung. Um sich sein Bein anzusehen, brauchte er mehr Licht. Es war zu gefährlich, einen Lichtschalter anzuknipsen, man konnte von außen bemerken, dass sich jemand im Haus aufhielt. Eine andere Möglichkeit bot sich im Erdgeschoß, direkt bei den Schaufenstern. Aber der Weg dorthin war lang. Den Waschraum wollte er möglichst nicht aufsuchen, die Fluchtmöglichkeiten waren dort extrem eingeschränkt. Er würde sich vorkommen wie in einer Falle. Seine Gegner schienen sich auf eine Etage zu konzentrieren. Vielleicht war er in den anderen Etagen sicher. Nein, der erste Angriff erfolgte beim Waschraum, sein Mantel hatte zerfetzt hier oben gelegen, er mußte nach wie vor auf alles gefaßt sein.
Er wog sein Messer in der Hand. Dann machte er sich langsam auf den Weg zum Treppenhaus. Hier konnte er sich am besten nach allen Seiten absichern. Rolltreppe oder Fahrstuhl, der vermutlich ohnehin nachts nicht mit Strom versorgt wurde, waren zu gefährlich.
Vorsichtig gegen die Wand gedrängt schlich er die Treppe hinunter. Sein Messer hatte er aufgeklappt, um es jederzeit benutzen zu können.
Er gelangte unbehelligt ins Erdgeschoß, weder das Kichern der Kreaturen noch das Rattern der Spielzeugpanzer war zu hören. Er überquerte die kurze Strecke bis zum nächstgelegenen Schaufenster, vorbei an den Warentischen, die er nur mit einem kurzen Blick streifte, jederzeit den Angriff erwartend.
Aber nichts geschah.
Im Schein des Lichtes sah er sich sein Bein an. Der Oberschenkel sah aus, als hätte sich ein Schwarm wild gewordener Bienen über ihn hergemacht. Die Haut war an vielen Stellen deutlich verfärbt, das konnte er gut erkennen. Die dunklen Punkte verrieten die Treffer der Schüsse, von denen er reichlich eingesteckt hatte. Er war übersät mit kleinen 'Einstichen'.
Bisher war er noch nicht ernstlich verletzt worden, aber vielleicht war das nur eine Frage der Zeit. Was hatten sie mit ihm vor, wer waren "Sie" überhaupt?
Der Gedankengang war noch nicht abgeschlossen, als der nächste Angriff erfolgte. Aufgrund ihrer Größe war es eine Leichtigkeit für sie gewesen, sich an ihn heranzuschleichen.
Sein Blick flog hoch, geradeaus auf den unmittelbaren Bereich vor ihm. Er konnte mehrere Figuren ausmachen, die plötzlich unter einem Tisch hervorquollen, keine fünf Meter von ihm entfernt. Er verfluchte seinen Leichtsinn.
Die Puppen waren nackt und nicht größer als die, die man jederzeit bei allen kleinen Mädchen im Kinderwagen bewundern konnte. Ihre Haare flogen bei ihren Bewegungen hin und her, auch hier entbehrte die Situation nicht einer gewissen Komik.
Aber Charlie war längst das Lachen vergangen.
Mehr Aufmerksamkeit verlangten schon die Tiger und Löwen, die diesen Puppen vorausschlichen. Ihre Bewegungen waren wahrhaft katzenartig, sie krochen fast über den Boden, fauchend und knurrend starrten sie ihn an, scheinbar jederzeit zum Sprung bereit.
Auch ihre Größe hatte nichts Ungewöhnliches. Vervollständigt wurde die ganze Prozession durch verschiedene Figuren, mit denen er nichts anfangen konnte, die er nicht kannte, die aber bestimmt sehr gut in die moderne Welt des Kinderzimmers paßten.
Figuren in verschiedenen Rüstungen, bespickt mit gefährlich aussehenden Waffen, die sie wild um sich schwangen, bildeten den Schluß.
Er hatte den Eindruck, als hätte die gesamte Spielzeugabteilung den Aufstand begonnen.
Jeden Moment mußte er doch aufwachen, den bösen Alptraum beenden, es konnte doch nicht länger andauern, nicht wirklich wahr sein. Doch so sehr er sich auch zwang, seine Augen aufzureißen, diesen Zustand zu beenden, die Situation war zu real, um nur ein schlechter Traum zu sein.
Dieser Tatsache wurde er sich schmerzlich bewußt, als ihn die ersten spitzen Gegenstände trafen. Es war, als würde er sich in einem Haufen von Stecknadeln wälzen. Schützend legte er die Hände vor sein Gesicht, zu keiner anderen Abwehrreaktion fähig.
Die kleinen scharfen Zähne der Tiger und Löwen und anderer 'Tiere' bohrten sich in sein Fleisch an Armen, Nacken, Hals und Beinen. Die Distanz zu ihm hatten sie blitzschnell überwunden. Das Messer war seiner Hand entglitten, er hatte keine Chance gehabt, es zu benutzen.
Sein Aufheulen ließ für einen winzigen Moment den Angriff ins Stocken geraten. In wilder Wut schlug Charlie plötzlich jäh um sich. Seine Fäuste trafen die weichen Körper der Stofftiere, die dadurch in alle Richtungen katapultiert wurden. Aber der nächste Angriff erfolgte um so heftiger, je mehr er sich wehrte. Es hatte keinen Zweck, sie fielen in riesigen Massen über ihn her. Seine Schläge schienen ihren weichen Körpern nichts auszumachen.
Die Erkenntnis dieser Nutzlosigkeit raubte ihm den letzten Willen zum Widerstand. Er mußte fliehen, sich in Sicherheit bringen.
Mit einem gewaltigen Ruck warf er sich herum, um auf die Füße zu kommen, erst da bemerkte er, das er vorhin seine Hose heruntergezogen hatte, um sich sein Bein anzusehen. Er kroch auf Händen und Füßen aus dem Knäuel heraus, so schnell er konnte. Mit einer Hand hielt er seine Hose, mit der anderen schlug er weiter um sich, bis er schließlich aufstehen und davonrennen konnte.
Die angestaute Spannung entlud sich in einem Ausbruch von Wut und Raserei. Mit aller Gewalt stieß er die Ständer mit den Textilien, die sich in seiner Reichweite befanden, um. Er hielt erst inne, als er erschöpft war. Er mußte seine Kräfte schonen. Die vielen kleinen Verletzungen waren nicht lebensgefährlich, taten aber höllisch weh.
Schweratmend fixierte er seine Umgebung. Er war im zweiten Stock gelandet, Kinderkleidung überall um ihn herum. In der Nähe befanden sich Bälle, Fahrräder, Roller und Sportkleidung.
Für einen Moment war er nicht fähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Der Magen krampfte sich zusammen, die Kehle war wie zugeschnürt, der Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen und brannte. Er mußte blinzeln, wischte sich den Schweiß mit einer Handbewegung aus den Augen und starrte die Regale an der Wand an.
Sie waren leer, dennoch wußte er sofort, was sich normalerweise dort stapelte. Es waren die Stofftiere, die Puppen und Plastikfiguren, die ihm bisher so zugesetzt hatten. Nur war jetzt keines dieser Kinderspielzeuge zu sehen, aber er war mit Sicherheit in der Höhle des Löwen gelandet.
Hier in diesem Kaufhaus war er in ihre Welt eingedrungen, eine Welt, von der niemand etwas wußte, nicht einmal ahnte. Wer ihr Geheimnis kannte, war dem Tod geweiht, das wurde ihm schlagartig bewußt. Sie konnten ihn gar nicht entkommen lassen.
In einem kleineren Glasregal, das mitten im Raum stand, blieb sein Blick haften, als er dort ein paar kleine handgemachte Puppen entdeckte. Er beobachtete sie eine Weile, aber sie bewegten sich nicht.
Charlie stand ungefähr fünf Meter von diesem Regal entfernt, Einzelheiten konnte er nicht ausmachen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte näher heran, um sicher zu gehen.
Er wußte aber immerhin, dass es sich nicht um typisches Spielzeug handelte, wie es sich Kinder immer wünschten. Er bewegte sich langsam auf die Puppen zu, es schien sich mehr um Sammlerstücke zu handeln. Sie hatten fein geschnittene Gesichtszüge. Sie schienen wie lebende kleine Kinder zu sein und waren sicherlich schon oft von Besuchern faszinierend bewundert worden.
Noch immer bewegte sich nichts, er stand jetzt unmittelbar vor dem Regal, die Augen der Puppen waren geöffnet. Einige schienen zu lächeln, andere blickten traurig in die Welt, er konnte sogar Tränen erkennen, die mit dem Plastikgesicht zu verschmelzen schienen.
Er war versucht, diese kleinen Körper zu berühren, sich zu beweisen, dass hier kein Leben eingehaucht worden war, aber noch zögerte Charlie. Seine schon halb erhobene Hand fuhr wieder zurück.
Besonders eine Puppe hatte es ihm angetan, ein Mädchen in eleganten Kleidern und bewundernswert schönen Haaren, die ihm ein fröhliches und freundliches, aber stummes Lächeln entgegenbrachte. Die Züge dieses Exemplars änderten sich nicht, sie blieben regungslos. Sie lächelte ihn fortwährend an.
Charlie machte einen kleinen Schritt zur Seite, noch immer keine Reaktion, er hob seine Hand wieder, um das seidige Haar vorsichtig zwischen seinen Fingern gleiten zu lassen. Dabei sah er der Puppe immer wieder in die wunderschönen Augen, aber er konnte absolut kein Leben darin erkennen, sie waren und blieben starr geradeaus gerichtet.
Das Haar fühlte sich echt an, es war ein angenehmes Gefühl, darüber zu streichen. Seine Anspannung legte sich allmählich, hier war keine Gefahr zu befürchten. Mit seinem Zeigefinger stieß er der Puppe langsam und vorsichtig in den Bauch, als wollte er jetzt seinen erzwungenen Mut beweisen.
Augenblicklich bereute er diese Handlung. Langsam drehte die Puppe ihren Kopf in seine Richtung und schrie urplötzlich auf.
Der Schrei war schrill, ohrenbetäubend, die Augen schlossen sich kurz und öffneten sich wieder, sahen ihn vorwurfsvoll, ja beinahe boshaft an, Tränen rannen in großen Tropfen über die Wangen.
Blitzschnell hatte Charlie seine Hand wieder zurückgezogen und blickte entsetzt auf das Gesicht der Puppe. Es verwandelte sich in eine Fratze, die Augen waren jetzt weit aufgerissen, die Augenbrauen kräuselten sich, der Mund öffnete sich zeigte spitze Zähne, die in dieser Größe überhaupt nicht zu diesem Gesicht passen wollten.
Charlie ging ein paar Schritte rückwärts, langsam und bedächtig. Fasziniert von der Veränderung war er nicht fähig, seinen Blick von der Figur abzuwenden. In diesem Augenblick begannen auch die anderen Puppen in dieses Geschrei einzustimmen, alle sahen sie ihn nun mit dem gleichen vorwurfsvollen Blick an, aber es sah nicht so aus, als wollten sie ihn angreifen.
Er blieb stehen, Schwindelgefühle erfaßten ihn, er wollte die aufkommende Todesangst hinunterwürgen und von einer Sekunde zur anderen wußte er, dass er nicht ihr erstes Opfer war.
Er rief sich das Schicksal des Obdachlosen in Erinnerung, war dieser vielleicht doch allein gewesen? Gab es vielleicht keinen Kumpel, der als Täter in Frage kam? Charlie war sich jetzt absolut sicher, so mußte es gewesen sein.
Ihre Absicht war völlig klar, sie mußten ihn unschädlich machen, um ihr Geheimnis zu bewahren; und das bedeutete den Tod. Vielleicht war sogar die Todesart schon geklärt. Er kannte ihr Geheimnis nun, sie würden ihn niemals mehr die Chance geben, sein Erlebnis der Welt mitzuteilen.
Charlie erschauerte, als er daran denken mußte, dass er schon längst hätte tot sein können, wenn die Puppen dies gewollt hätten.
Sie mußten sich ihrer Sache also sehr sicher sein, da sie anscheinend noch ihr Spiel mit ihm treiben konnten. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Chancen abzuwägen. Es gab jetzt nur eine Lösung, er mußte hier heraus, nur heraus, er mußte auf sich aufmerksam machen, in der Hoffnung, dass ihn vielleicht ein verirrter Spaziergänger bemerkte.
Er wußte, dass diese Chance sehr klein war, mitten in der Nacht auf Hilfe zu hoffen. Er mußte in die Nähe der Schaufenster kommen. Aber würden sie das zulassen? Sie mußten doch mit dieser Möglichkeit rechnen. Bestimmt hatten sie vorgesorgt. Aber was blieb ihm anderes übrig, er mußte es zumindest versuchen.
So hatte sich also die Situation verändert. Plötzlich mußte er alles daran setzen, dieses grausame Spiel zu beenden, der Welt mitzuteilen, was hier geschah.
Charlie lauschte, der Regen, der dem Sturm gefolgt war, prasselte gegen die Schaufenster im Erdgeschoß, er konnte das gleichmäßige Rauschen bis hier oben vernehmen. Er hörte aber auch wieder die Scharren sich bewegender Körper, es mischte sich mit Rutschen und Rollen, wie Schlittschuhe auf Eis.
Sie waren es. Das Geräusch war nicht gleichmäßig genug, um seine Ursache im Wind oder Regen zu haben. Was hatten sie vor, wie sollte die nächste Tortur aussehen. Charlie wollte sich nicht kampflos geschlagen geben, er wollte die Nacht überleben, koste es, was es wolle.
In der Luft bemerkte er plötzlich einen kaum wahrnehmbaren Geruch von Blut. Bildete er es sich ein oder war das die Wirklichkeit. Es konnte nur sein eigenes Blut sein, was ihn daran erinnerte, wie zerschlagen und schwach er sich fühlte. Es fiel ihm schwer, die aufkeimende Panik zu unterdrücken.
Es nützte nichts, er mußte an die Schaufenster herankommen, mußte darauf hoffen, von einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger bemerkt zu werden.
Er drehte sich um, seinen Körper straffend, als wolle er die aufkeimende Hoffnungslosigkeit mit großer Würde tragen.
Dann ging er auf das Treppenhaus zu. Dort angekommen, blieb er einen Moment lang stehen, während er sich zwischendurch immer wieder nach allen Seiten absicherte. Als er hinuntersah, konnte er die Schatten an der Wand erkennen, die sich dort abzeichneten. Die Form der Schatten, ihre Bewegungen, sie waren eindeutig. Seine Gegner bewegten sich langsam nach oben, sie wollten ihn holen, wollten ihm den Rest geben. Sogar ihr Gekicher konnte er jetzt vernehmen. In diesem Augenblick hörte er das typische Quietschen und Rumpeln des sich nähernden Aufzuges. Funktionierte er doch? Sie kamen also von allen Seiten, wollten jeden Fluchtweg versperren.
Charlie verspürte ein ekeliges Gefühl, die Vorstellung, sie würden ihn wieder in ihre Gewalt bringen, ließ ihn erschauern.
Aber noch wollte er sich nicht geschlagen geben. Er war doch keine Schachfigur in einem harmlosen Spiel, jederzeit verfügbar und willenlos, also auch jederzeit bereit, geopfert zu werden. Charlie wollte leben; und dafür mußte er kämpfen.
Er dreht sich um und lief in langen Schritten auf die Rolltreppe zu. Sein einziger Gedanke war jetzt, zu hoffen, dass sie dort nicht auch schon dabei waren, die Stufen zu erklimmen, um ihn einzukreisen.
Die letzten Meter lief er langsamer und leiser, vorsichtig spähte er an dem Handlauf entlang nach unten und erstarrte.
Am unteren Ende hatten die nackten Puppen Aufstellung genommen, er konnte Sicheln, Messer und andere Stichwaffen erkennen. Das waren keine halbherzigen Überfälle mehr, jetzt wollten sie ihn töten.
Sein Herz schlug bis zum Hals, Charlie löste sich sofort wieder und rannte um die Rolltreppe herum zur nächsten Rolltreppe, die nach oben führte. Auch hier blieb er sofort stehen. Sein Atem ging stoßweise.
Überraschend starrte er auf den Boden. Irgendwas war dort aufgebaut oder zusammengelegt worden.
Die Zusammenstellung der vielen verschieden farbigen Holzklötzchen, die sich zu seinen Füßen ausbreiteten, ergab für ihn zunächst keinen Sinn. Sie schienen nur willkürlich dort hingeworfen zu sein, die Anordnung schien rein zufällig. Für einen Moment betrachtete er die Holzklötzchen, dann gab er es auf. Er hatte beim besten Willen keine Lust auf ein zusätzliches Rätsel.
Er sah nach oben, es war niemand zu sehen. Also rannte er die Stufen hinauf. Als er wieder im dritten Stock ankam, bemerkte er seinen rasselnden Atem und seinen wilden Herzschlag. Er versuchte, gleichmäßig zu atmen, um sich wenigstens etwas zu beruhigen. Dabei sah er zurück, die Treppe hinunter.
Außer den wie hingeworfenen, farbigen Holzklötzchen konnte er jedoch nichts erkennen. Plötzlich stutzte er und sah sich die Anordnung noch einmal genauer an. Die Anordnung war alles andere als zufällig. Nun glaubte er zu erkennen, dass sich dort eine Art Figur abzeichnete.
Charlie schluckte ungläubig, nein, kein Zweifel, die Farben waren so zusammengelegt worden, dass sie eine menschliche Gestalt bildeten. Nur von hier oben war sie auszumachen, deshalb hatte er nichts damit anfangen können, als er daneben stand. Wie hatten sie das nur so schnell bewerkstelligen können?
Ein paar Sekunden lang starrte er das Bild an, um ganz sicher zu sein, keiner Sinnestäuschung zu erliegen. Aber es war eindeutig zu erkennen, die Figur hatte eine menschliche Gestalt, abgespreizte Arme und Beine zeichneten sich deutlich ab. Es war die Haltung einer Person, die die Treppe hinuntergefallen sein konnte, aber - es fehlte der Kopf.
Charlie durchfuhr es heiß, seine innere Spannung verstärkte sich wieder, jetzt ahnte er, nein, jetzt wußte er, was sie mit ihm vorhatten.
Seine Panik verstärkte sich. Er überlegte fieberhaft, wie er es am klügsten anstellen konnte, ungesehen in das Erdgeschoß zu gelangen, er kam jedoch zu dem Schluß, dass dies unmöglich war. Seine einzige Alternative bestand darin, sich zu bewaffnen und durchzukämpfen.
Er war sich im klaren darüber, dass er auf dem Weg dorthin getötet werden konnte, wenn er einer Übermacht gegenüberstand, die dazu entschlossen war, das Spiel, das sie mit ihm bisher getrieben hatten, zu beenden. Es war ihre Kraft, die Charlie beeindruckte und ihm gleichzeitig unheimlich war. In diesen kleinen Körpern schien sich durch den Hass etwas aufzubauen, das sich mit menschlichen Maßstäben nicht erklären ließ.
Gehetzt rannte Charlie los, bewegte er sich in eine unbestimmte Richtung, für einen Moment nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Abrupt blieb er in einer Ecke der Etage stehen, als würde das Auftauchen der Wand auch das Ende seiner Planlosigkeit bedeuten. Er war sich plötzlich der Tatsache bewußt, dass er sich so schnell wie möglich etwas einfallen lassen mußte, bevor ihn die Kreaturen jede Möglichkeit zur Gegenwehr nahmen.
Eine Waffe, er musste sich bewaffnen, irgend etwas in seinen Händen halten, mit dem er sich verteidigen konnte.
Er prüfte mit schnellem Blick seine unmittelbare Umgebung. Farben, Lacke, Waschutensilien für Autos, Fahrradersatzteile.
Weiter, nächster Gang.
Charlie achtete nicht mehr auf die Treppen, sein Handeln, seine Sinne beschränkten sich nur noch auf seine letzte Chance, die er nutzen wollte.
Gartengeräte, Heimwerkerbedarf, natürlich, das war es, hier war er richtig. Hier mußte er fündig werden.
An der Wand konnte er Sägen, Beile, Schraubenschlüssel, Hämmer und Ähnliches ausmachen. Vor dieser Wand blieb er stehen und sah sie sich genauer an.
Es waren einige Lücken zu erkennen, eine Axt mußte hier einmal gehangen haben. Daneben wurden Sicheln angepriesen, zu sehen war jedoch keine.
Kurz entschlossen schnappte sich Charlie ein Beil und wog es in der Hand. Fast augenblicklich konnte er eine gewisse Stärke, eine Ruhe verspüren, die von dem Beil auf ihn überzugehen schien. Vielleicht bildete er sich dies auch nur ein, aber ein bißchen wohler war ihm doch.
Dann erinnerte er sich, dass es in der fünften Etage gegenüber des Restaurants eine kleine Abteilung mit Küchenbedarf gab, ein langes Küchenmesser würde sicherlich den Respekt dieser Kreaturen vor ihm um einiges erhöhen.
Unbehelligt gelangte er in die fünfte Etage und versorgte sich mit einem Messer, das einen stabilen Griff und eine langen schmale Schneide besaß. Der Weg zurück ins Erdgeschoß kam ihm endlos lang vor, jeden Moment konnten sie über ihn herfallen, er erwartete den Angriff praktisch jederzeit.
Nach etlichen bangen Minuten hatte er die erste Etage erreicht, das Ziel lag in Reichweite. Er stand jetzt an der untersten Stufe der Rolltreppe, merkwürdig erschien es ihm, dass nichts geschah. Nur das gelegentliche Gekicher und Getuschel, das aus jeder Ecke, unter jedem Tisch, hinter jedem Regal wie ein Echo zu ihm drang, erinnerte ihn daran, dass er nicht allein war.
Sie beobachteten ihn, das war ihm klar, sie warteten auf den richtigen Zeitpunkt, auf eine Unaufmerksamkeit, ein Nachlassen seiner Konzentration. Dann würden sie über ihn herfallen.
Charlie spähte um die Ecke, in Richtung der Rolltreppe, die zum Erdgeschoß führte. Es war fatal, dass die Treppen nicht nebeneinander lagen, dass er jedesmal den Bogen um ein paar Kleidungsständer zur nächsten nach unten führenden Treppe zurücklegen mußte. Hier lauerte die Gefahr.
Aber nichts geschah.
Erleichtert stand er vor der letzten Treppe, die ihn ins Erdgeschoß bringen würde. Seine Bewaffnung schien Eindruck auf sie zu machen, das konnte ihm nur recht sein. Gleich erreicht er die Schaufenster, dort konnte er sich in eines dieser Fenster stellen, versuchen, es einzuschlagen und mit viel Glück auf Hilfe von draußen hoffen, bevor sie über ihn herfielen. Er wünschte, er hätte seine Taschenlampe noch, egal, es mußte auch so gehen.
Nur für den Bruchteil einer Sekunde konnte er einen winzigen Schatten ausmachen, der sich direkt unter ihm befand, aber plötzlich immer größer wurde. Als er merkte, dass sich etwas von oben näherte, war es bereits zu spät.
Eine schwere Decke schloß sich um seinen Oberkörper, Charlie verlor fast augenblicklich die Orientierung. Instinktiv ließ er sich nach hinten fallen, nur weg von der Rolltreppe. Ein Sturz nach unten würde sein Ende bedeuten.
Etwas Schweres lastete nun zusätzlich auf seinem Körper, er konnte ein heiseres Knurren und Fauchen hören, gleichzeitig versuchte jemand, seine Beine festzuhalten. Ohne sich dessen bewußt zu sein, schrie Charlie auf, mehr, um seiner Angst Luft zu machen, als damit seine Gegner zu beeindrucken. Nach ein paar Sekunden konnte er sich auf seine Knie und Hände stützen, während viele dieser Puppen anscheinend versuchten, ihn zu umklammern, um ihn in die Bewegungsunfähigkeit zu zwingen. Sein Schreien war mehr ein Krächzen, mit erneut aufkommender Panik bemerkte er, dass ihn seine Kräfte langsam verließen.
Seine Hand schloß sich plötzlich um den Griff des Beiles, das er zuvor fallenließ.
Mit einem Ruck riß er es hoch und schlug wild um sich. Er registrierte, dass einige der auf ihm lastenden Körper verschwanden, um sogleich von anderen ersetzt zu werden, es waren zu viele, die sich auf ihn gestürzt hatten.
Dann bemerkte er, wie sich suchend mehrere kleine Hände um seinen Kopf herum tasteten. Er hielt einen kurzen Moment inne, um neue Kräfte zu sammeln und seine Gegner abzuschütteln.
Urplötzlich verspürte er einen Schmerz, der ihm fast die Sinne raubte, er hatte einen Schlag auf das Gesicht erhalten. Er schmeckte das Blut in seinem Mund und ihm wurde sofort klar, dass er mehrere dieser Schläge nicht verkraften würde. Er schwang das Beil erneut in die Richtung, aus der der Schlag gekommen war.
Mit Entsetzten stellte er fest, dass seine Schläge den Körpern der Stofftiere wieder nichts anhaben konnten. Sie waren enorm kräftig, aber ihre Körper waren weich und unverletzlich. Mit seinen großen Waffen konnte er bei ihnen nichts ausrichten. Er fragte sich, wo diese Kraft ihren Ursprung hatte, keine Knochen, keine Muskeln, wie von Geisterhand bewegt.
Das Messer fiel ihm ein, aber auch dieses hatte er fallenlassen müssen, als seinen Sturz abfing.
In diesem Moment traf ihn der zweite Schlag, direkt auf den Kopf. Charlie schrie vor Schmerzen laut auf, helle Punkte tanzten vor seinen Augen. Ein starkes, dumpfes Dröhnen in seinem Kopf verursachte ihm Übelkeit. Er unterdrückte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Schützend legte er seine Arme über den Kopf und sackte förmlich zusammen. Der dritte und vierte Schlag traf seine Hände und seine Arme.
Charlie war der Ohnmacht nahe. Wie ein Todgeweihter, der sich noch einmal mit letzter Kraft aufrichtete, erhob Charlie seinen Oberkörper und versuchte nun mit allen Mitteln, die auf ihm sitzenden Kreaturen abzuschütteln. Es war der letzte Versuch, das wußte Charlie. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, würde er hier vor dieser Treppe sterben.
Er bekam ein bißchen Luft, die Decke hob sich etwas. Das verdoppelte noch einmal seine Kräfte, er rollte sich herum und kam auf den Rücken zu liegen. Sofort lasteten mehrere kleine Körper auf ihn.
Charlie strampelte sich frei, mit wild fuchtelnden Armen entledigte er sich einige der Angreifer. Ein weiterer Schlag traf ihn in den Rücken, die beiden Stoffbären, die sich beim Schlagen abgewechselt hatten, blickten ihn hämisch an. Wie durch einen Schleier hindurch konnte er ihre Fratzen sehen. Dann sprang er auf die Beine und stolperte unbeholfen davon.
Seine Gegner schienen kein Interesse daran zu haben, ihn zu verfolgen. Unbehelligt stürzte er mehr als das er lief. Er erreichte die Treppe und zog sich schwer atmend hoch. Jeder Schritt tat ihm weh. Die Tränen rannen über sein Gesicht und mischten sich mit Schweiß und Blut. Mit letzter Kraft erreichte er schließlich wieder die fünfte Etage, wo er erschöpft auf den Teppich sank.
Nur undeutlich hörte er das unaufhörliche Kichern, zu sehr strengte ihn der Kampf gegen die aufkommende Ohnmacht an. Instinktiv wußte er, dass er nicht liegenbleiben durfte. Über kurz oder lang würden sie auch hier über ihn herfallen.
Er lag auf dem Rücken und sah benommen an die Decke. Das Mosaikmuster verschwamm vor seinen Augen, er blinzelte und versuchte, seinen Kopf etwas anzuheben. Der Lichtschein einer Taschenlampe, er vermutete, dass es seine war, kreiste aus zwei Etagen tiefer zu ihm empor, um an der Decke in unruhigen Zickzack-Bewegungen nach ihm zu suchen.
Er legte sich auf die Seite und stöhnte, der Schmerz war wie Feuer, der seinen ganzen Körper zu verzehren drohte. Hinzu kam der Durst und das Bedürfnis, sein Gesicht zu kühlen. Seine Kehle war wie ausgedörrt und seine Kleidung klebte auf seiner Haut. Der ekelige Geschmack in seinem Mund ließ ihn angewidert das Gesicht verziehen. Er blickte zur Treppe, der Lichtschein war noch weit entfernt, sie ließen sich Zeit, sammelten sich.
Dieses verdammte Gekicher.
Er sah über die Treppe hinweg zur gegenüberliegenden Wand, dann schloß er die Augen einen Moment und sah wieder hoch. Als er seine Augen zusammenkniff und sein Blick wieder etwas klarer wurde, konnte er eine Tür ausmachen, die er bisher nicht bemerkt hatte. Diese schmale, zum Teil übermalte Tür, die tatsächlich leicht übersehen werden konnte, befand sich neben dem Restaurant.
Vielleicht gibt es hier noch eine Chance, dachte Charlie wieder etwas hoffnungsvoller, aber sogleich gab er sich keinen Illusionen hin. Wo sollte diese Tür schon hinführen, wahrscheinlich wieder nur ein kleiner Lagerraum.
Aber vielleicht würde sie auch auf das Dach führen, vielleicht gab es noch eine Fluchtmöglichkeit für ihn. Der Drang, diese vielleicht letzte Hoffnung zu nutzen, mobilisierte noch einmal all seine Kraft.
Charlie stemmte sich hoch, er fing an zu würgen, sein Puls raste.
Laut stöhnend zog er sich an einem Tisch in der Nähe hoch, er beugte sich darüber und behielt dabei die Tür im Auge. Dann taumelte er in die Richtung, die in zu dieser Quelle letzter Hoffnung bringen sollte. Oh Gott, diese Schmerzen. Unterwegs mußte er sich mehrmals festhalten und anlehnen, um nicht sein Gleichgewicht zu verlieren.
Nach einigen Minuten hatte er es geschafft. Vor der Tür angekommen, umfaßte er den Griff mit beiden Händen und lehnte sich dagegen. Er betete, dass sie sich öffnen ließ, er hatte kein Werkzeug zur Hand, um sich damit Einlaß zu verschaffen. Neues Werkzeug zu besorgen, dazu fühlte er sich nicht mehr imstande.
Die Tür war nicht verschlossen.
Der Raum war nicht einmal so dunkel, wie er es erwartet hatte, ein kleines Fenster spendete gerade soviel Licht, dass er einige Einzelheiten erkennen konnte. Charlie betrat den Raum, verschloß sie dann von innen und setzte sich erschöpft auf den Boden.
Der Druck im Kopf ließ etwas nach, Charlie hatte seine Augen geschlossen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er hatte in der letzten Stunde die Hölle erlebt. Wie sollte er sich nur zur Wehr setzen? Sie schienen jeden seiner Schritte vorauszuahnen. Auch ihre Schnelligkeit war ihm ein Rätsel.
Er öffnete seine Augen und sah zur Decke des Raumes. Das Fenster, das ein wenig Licht von draußen spendete, war unerreichbar für ihn. Mindestens drei bis vier Meter über ihm, in einer Dachschräge, musterte er das Fenster. Es war nicht nur zu hoch für ihn, es war auch zu klein, um sich hindurch zu zwängen. Außerdem war es vergittert, nein, hier gab es kein Entkommen.
In diesem Moment war sich Charlie der Vergeblichkeit aller Hoffnung bewußt.
Er sah den Himmel, dunkle Wolken zogen in einer enormen Geschwindigkeit vorbei. Ein paar Tropfen verirrten sich noch auf dem Glas, der Regen hatte nachgelassen, hatte das Feld wieder dem Sturm überlassen.
Er lauschte einen Moment lang andächtig dem Sturm, als müsse er die letzte Möglichkeit nutzen, sein Leben noch einmal zu genießen. So greifbar nahe der Freiheit, doch nun eingeschlossen in einem Käfig, eingeschlossen zusammen mit dem Tod, der immer näher rückte.
Sein Kopf senkte sich, er sah zu Boden, seine Knie zitterten. Dann sah er sich im Raum um. An der Wand gegenüber, keine zwei Meter entfernt, stand ein alter brüchiger Tisch, auf dem ein Spiegel die Eintönigkeit unterbrach. Charlie konnte seine Gestalt erkennen. Wie ein Häufchen Elend saß er zusammengekauert neben der Tür, sein Gesicht wirkte vor lauter Erschöpfung stark eingefallen. Seine Augen wirkten verloren.
Ansonsten hatte der Raum nichts zu bieten, er war leer. Nicht gerade der richtige Platz, um Kraft oder Hoffnung zu schöpfen. Charlie schloß seine Augen wieder und suchte gedanklich nach einem Ausweg.
Die Macht dieser Kreaturen war überraschend. Wie waren sie zu dieser Macht gelangt, wer hatte ihnen die Fähigkeit gegeben zu leben, zu atmen, zu denken. Wie verständigen sie sich untereinander, wie koordinierten sie ihre Aktionen?
Kein Wort hatte Charlie vernehmen können, immer nur dieses unheimliche Gekicher und die fürchterlichen Fratzen. Gab es vielleicht ein stilles Einvernehmen zwischen ihnen, wurden sie von irgendwo gelenkt? Von einem Menschen vielleicht?
Fragen über Fragen. Keine einzige konnte sich Charlie beantworten. Je mehr er darüber nachdachte, desto unwirklicher kam es ihm vor. Der Alptraum wollte jedoch nicht enden, kein Erwachen würde ihn erlösen. Dies war die Realität.
Vielleicht konnte er bis zum Morgen hier aushalten, vielleicht war der Spuk um Mitternacht vorbei. Nein, das war alles Unsinn, sie würden ihn bald suchen, und sie würden ihn hier finden und töten. Es mußte noch eine andere Möglichkeit geben. Es mußte.
Charlie riß die Augen auf, natürlich, das war vielleicht die Lösung. Er konnte Alarm auslösen.
Das war die Chance. Schmuck und exklusivere Kleidung befanden sich in der ersten Etage, bisher hatte er sich nicht dafür interessiert.
Warum war er nicht schon früher darauf gekommen. Er konnte die Schmuckvitrine einschlagen und aushalten, bis die Polizei eingetroffen war.
Zu den Schaufenstern würde er nicht gelangen, das hatten sie schon verhindert. Diese Möglichkeit konnten sie vielleicht voraussehen, aber sie konnten doch nicht seine Gedanken lesen. Er mußte einen neuen Versuch starten, sie sollten glauben, er wolle es ein zweites Mal versuchen. Im richtigen Moment würde er sich absetzen, zu den Vitrinen eilen und sie mit einem Schlag zertrümmern. Dazu würde er sich noch einmal ein Beil aus der Werkzeugabteilung von hier oben mitnehmen.
Diese neue Hoffnung gab Charlie noch einmal Kraft, es mußte schnell gehen, bevor sie sich entschlossen, dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten. Denn noch spielten sie mit ihm, da war er sich sicher, sonst wäre er schon längst nicht mehr am Leben.
Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte hinaus, die gesamte Etage schien ruhig und verlassen. Charlie blieb zunächst in der Ecke stehen, um zu lauschen, aber nicht einmal mehr ihr Kichern war zu vernehmen, auch der Lichtschein der Taschenlampe war verschwunden. Nun war es die Ruhe, die ihn ängstigte.
So leise er konnte, schlich er an der Wand entlang, bis er sich in der Abteilung mit dem Werkzeug befand. Noch einmal nahm er eines der Beile und sah sich prüfend die anderen ausgestellten Teile an. Zugunsten einer Brechstange hängte er das Beil wieder zurück und bewegte sich langsam auf die Rolltreppe zu.
Vorsichtig blickte er über den Handlauf nach unten. Nicht der kleinste Laut war zu hören. Charlie gab sich keinen Illusionen hin. Er wußte, dass sie auf ihn lauerten. Aber sie wußten nicht, was er vor hatte, das konnte sein Vorteil sein, wenn er schlau und geschickt war.
Leicht in den Knien eingeknickt machte er sich auf den Weg nach unten. Sämtliche Knochen taten ihm weh. Das Bedürfnis, sich hinzulegen, sich auszuruhen, zu schlafen, war groß. Aber dieser letzte Versuch mußte gelingen, sonst war alles vorbei.
Ohne Mühe gelangte Charlie in die dritte Etage, auch hier unterbrach kein Geräusch die Stille. Der Regen hatte ganz aufgehört, wundersamerweise hatte auch der Sturm nachgelassen, so dass er beinahe meinte, die Stille hören zu können. Er fühlte sich, als wäre er allein auf der Welt. Vielleicht hatte die ganze Welt den Atem angehalten, um seinen letzten Versuch, seinen Überlebenskampf, zu beobachten.
Die Holzklötzchen lagen noch immer an der gleichen Stelle. Andernfalls hätte man meinen können, dass alles nur Einbildung gewesen war. Aber sie waren der Beweis, dass die Gefahr allgegenwärtig war.
Der Weg in die zweite Etage verlief ebenfalls ohne Zwischenfälle. Als er sich auf der Rolltreppe, die in die erste Etage führte, befand, stieg seine innere Unruhe, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er atmete schwer, als er die letzten Stufen hinunterging. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, ruhig und flach zu atmen. Dann stand er am Fuß der Treppe und versuchte sich zu orientieren. Die Vitrinen mit dem Schmuck befanden sich am anderen Ende des Raumes.
Charlie fragte sich, ob es nicht besser war, einfach hinüber zu rennen und mit einem Schlag die Sirene auszulösen. Er verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Das Risiko war zu groß, er hatte nur diese eine Chance.
Er tastete sich ein paar Schritte nach vorne, plötzlich sah er mehrere Schatten auf einem der Tische einige Meter entfernt. Er duckte sich sofort und hielt den Atem an, die Puppen sahen in die andere Richtung, sie schienen das Treppenhaus zu beobachten, ihn hatten sie noch nicht bemerkt.
Charlie überlegte einen Moment, dann kam er auf die Idee, sich unter den Tischen weiter voran zu tasten, hier würden sie ihn am wenigsten vermuten.
Er ging davon aus, dass sich die meisten dieser Kreaturen im Erdgeschoß befanden, um ihn dort in Empfang zu nehmen. Wahrscheinlich befanden sich nur ein paar wenige in dieser Etage zur Beobachtung. Charlie legte sich auf den Bauch, hielt das Brecheisen in seiner rechten Hand und kroch langsam unter dem ersten Tisch voran.
Viel Bewegungsfreiheit hatte er hier nicht, es war äußerst unbequem.
Sekundenlang war er versucht, sein Vorhaben aufzugeben und sich lieber neben den Tischen entlang zu tasten.
Aber war es nicht das, was sie von ihm erwarteten? Nein, er mußte das Risiko jetzt eingehen, deshalb entschloß er sich, unter den Tischen zu bleiben.
Er kam nur sehr langsam voran. Nach ein paar Minuten hatte er die Puppen in einem weiten Bogen umgangen und war jetzt nur noch wenige Meter vom letzten Zwischengang entfernt, an dem sich die Vitrinen anschlossen. Um ganz sicher zu gehen, wollte er noch einmal vorsichtig am Ende der Warentische, unter denen er sich im Moment befand, die Situation erkunden.
Als er auf den Zwischengang zukroch, bemerkte er einen Kleidungsständer, der wie zufällig direkt am Ende des Tisches stand.
Besser konnte es nicht sein, war Charlie überzeugt. Unter den langen Mänteln konnte man ihn kaum erkennen. Nur noch wenige Zentimeter, Charlie machte sich zum Sprung bereit. Er schob seinen Kopf vorsichtig zwischen zwei Längsstangen hindurch. Der Zwischenraum reicht gerade, um seinen Kopf hindurchzulassen. Das war zwar ein bißchen eng, aber er wollte auch nur die Situation erkunden. Danach mußte er sich einen Weg zu den Vitrinen zurechtlegen.
Jetzt nur noch die unteren Enden der Mäntel ein wenig anheben, die sich als lange Regenmäntel entpuppten.
Langsam befreite er, so leise und geräuschlos, wie es ging, seinen Kopf und schaute schließlich unter den Mänteln in den Gang hinein.
Er wußte sofort, dass er einen Fehler begangen hatte.
Noch bevor er sich entschließen konnte, wieder zurück zu kriechen, schlossen sich kräftige Arme um seine Beine und hielten ihn wie ein Schraubstock fest. Angst ergriff ihn, ohne Zögern fing er gleichzeitig an zu schreien und zu strampeln.
Es mußten sich um mindestens zwei dieser Kreaturen handeln, beide Beine wurden gleichzeitig ergriffen.
Oh Gott, wo hatten sie nur diese Kraft her.
Er konnte sich in seiner Lage nur sehr schwer bewegen, geschweige denn umdrehen. Sein Kopf schlug beim Strampeln fortwährend gegen die Stangen, befreien konnte er sich jedoch nicht. Jetzt schien es sich zu rächen, dass er dies Risiko eingegangen war.
Charlie stemmte sich mit seinen Armen ein wenig hoch, so konnte er gerade noch ein wenig den Kopf bewegen und über die Schulter zurückblicken. Entsetzt blickte er auf zwei kleine Teddybären, wie sie in vielen Kinderzimmern zu finden waren, keine fünfzig Zentimeter groß. Mit aller Kraft umschlossen sie seine Beine, er spürte ihre Kraft, fühlte sich ihr ohnmächtig ausgeliefert. Es war unglaublich, er konnte deutlich erkennen, dass sie keine Hände, keine Finger besaßen, nichts an ihnen war ungewöhnlich. Und doch hielten sie ihn fest gepackt.
Während er die kuscheligen Bären mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, verzog sich plötzlich ihre bis dahin unbewegliche Miene zu einer Fratze, die soviel Boshaft und Hass ausstrahlte, dass Charlie sein Panikgefühl nicht länger unterdrücken konnte. Er hatte auch schon zuviel Kraft verloren. Alles war ihm jetzt gleichgültig.
Dieser Wechsel im Mienenspiel kam für ihn zu überraschend, sein Strampeln und Zappeln wurde wilder und unkontrollierter. Als er merkte, dass er sich nicht freistrampeln konnte, verstärkte sich seine Panik noch, wie bei einem Ertrinkenden, der sich an seinen Retter klammert. Aber für Charlie gab es keine Rettung.
Ihm wurde plötzlich bewußt, dass er schrie, schrill, überschlagend. Es kam wie von selbst, er brauchte es nur geschehen zu lassen. Es wie eine Erleichterung.
Sein Kopf ging ruckartig wieder nach vorne, als er das laute Kreischen und Kichern hörte. Unzählige Puppen, Stofftiere und ihm unbekannte Wesen standen direkt vor ihm und blickten auf ihn herab. Ihr Kreischen und Jubelgeschrei schmerzte in den Ohren.
Sein Körper erschlaffte, er schloß die Augen und gab auf. Jeden Moment erwartete er den tödlichen Stoß, ohne Widerstand wollte er es mit sich geschehen lassen.
Aber der Tod wollte ihn nicht erlösen, sie schienen auf etwas zu warten, unbeweglich, lauernd. Sie wollten ihn quälen, ihren Spass haben, bis das Unvermeidliche in einem plötzlichen Moment erfolgen würde.
Charlie war müde, das Zittern in seinem Körper ließ langsam nach, er war jetzt ruhig, erstaunlich ruhig für einen Menschen, der auf seinen Tod wartete. Sein letztes Fünkchen Hoffnung, doch noch aus diesem bösen Traum zu erwachen, erlosch für immer.
Erst jetzt bemerkte er, dass das Kreischen aufgehört hatte, noch einmal hob er langsam seinen Kopf, blickte nach oben. Das mußte die Axt aus der Werkzeugabteilung sein, die er vorhin vermißt hatte, er schloß die Augen, seine Nackenhaare richteten sich auf, ein Schauer jagte über seinen Rücken.
Instinktiv wußte er, dass das leise Geräusch, welches er zum Schluß noch wahrnahm, das leise Surren, nur eine Ausholbewegung sein konnte, danach hörte er nichts mehr, Dunkelheit überfiel ihn ...
 

chrissi

Mitglied
hallo !

grundsätzlich finde ich die idee gut (auch wenn sie mich ein wenig an die gremlins erinnert!), aber in meinen augen ist die geschichte viel zu lang.

teilweise finde ich sie sogar etwas langatmig. du beschreibst zwar sehr schön und auch ausführlich, damit der leser die genauen umstände des falles kennt, aber ich denke, hier wäre weniger mehr gewesen, weil es so den spannungsbogen der geschichte doch zu lange und nachhaltig unterbricht.

vielleicht solltest du die idee beibehalten, aber das ganze start zusammenstreichen, damit die spannung -wie in deiner ersten geschichte- von der ersten bis zur letzten zeile erhalten bleibt !

viele grüsse

chrissi
 

peutz

Mitglied
Hallo,

interessant, wie andere diese Geschichte sehen. Ich hab mir schon mal überlegt, aus dieser Geschichte einen Roman zu machen. Jetzt hab ich die Geschichte allerdings doch reichlich gekürzt. Ist gar nicht einfach, weil doch vieles nicht wegfallen darf, um die Spannung nicht herauszunehmen. Vielleicht ist es eher eine Erzählung statt Kurzgeschichte, aber wo ist da wieder der Unterschied ?

Grüße
 

chrissi

Mitglied
hallo !

ich denke, aus der story einen ganzen roman zu machen wäre sinnvoll, denn dann wäre es auch nicht zu lang und es würde dann auch dazugehören, alles ausführlicher zu erzählen.

ausserdem hättest du dann viel mehr möglichkeiten, denn spannungsbogen immer wieder zu verlängern und auszubauen. gute idee, solltest du tun ! würde mich freuen, das ganze dann als endergebnis mal zu lesen !

liebe grüsse

chrissi
 

peutz

Mitglied
hallo chrissi,

überredet, wird eines meiner nächsten Projekte werden. Sobald ich mit meinem jetzigen 2. Teil meiner Fantasy-Trilogie fertig bin, nehme ich mir dieses Thema mal vor.

gruss
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Horror

Hallo peutz,

ich stimme Michael zu: Auch meiner Meinung nach ist diese spannende, gruselige Geschichte am besten in der Kategorie "Horror" aufgehoben. Wenn Du möchtest, verschiebe ich sie dorthin!

Viele Grüße,
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

der blanke horror. aber obiges als roman? da käme eine menge nebenhandlung rein, oder? wenn du die geschichte tatsächlich noch mal überarbeitest, dann versuche doch, die vielen "müßte" wegzubekommen. außerdem verwechselst du oft die fälle "lastete auf ihn" zb gibt es nicht, es muß ihm heißen. ganz lieb grüßt
 

peutz

Mitglied
Horror

Hallo Zeder,

ich bin damit einverstanden, wenn die Geschichte zu Horror gestellt wird

gruss peutz
 

peutz

Mitglied
hallo oldicke

vielen Dank für den Tip, hab ich nicht gemerkt. Werde in Zukunft ein wenig mehr drauf achten.

grüße
 



 
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