Tramonto

eli-fant

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Schon seit Jahrtausenden findet das Schauspiel statt und immer hat es Menschen in seinen Bann gezogen.
Von dem Felsen aus, der etwas außerhalb des kleinen italienischen Fischerdorfes an der Küste aufragt, läßt es sich besonders gut beobachten. Dabei ist es kein Schauspiel, das für Menschen gemacht wäre. Unberührt davon, ob jemand es bewundert oder nicht, spielt es sich jeden Abend auf die gleiche Weise ab:
Wenn die Sonne sich dem Horizont nähert, verwandelt sich das gleißend weiße Gestirn in einen rötlichen Feuerball. Dieser zaubert eine imaginäre Straße aus tanzenden Lichtfunken auf die Wellen. Sie führt fast bis zum Ufer, wird jedoch schon wenig später schmaler und blasser und entschwindet vollständig, sobald die rote Kugel am Horizont versunken ist.
Dann liegt das Meer dunkel und majestätisch vor dem noch rosigen Himmel.

Die enge kurvenreiche Straße hinauf, die zum Aussichtsfelsen am Meer führt, wand sich ein deutscher Reisebus. Ganz oben befindet sich eine Trattoria; vor ihr spuckte er eine stattliche Anzahl mit Taschen und Fotoapparaten beladener Insassen aus, die sogleich ausschwärmten und sich auf die im Freien stehenden Tische verteilten.

"Herbert, Herbert!"
Eine weinerliche Frauenstimme übertönte das allgemeine Tische- und Stühlerücken.
"Haben wir nicht vor ein paar Tagen ausgemacht, daß derjenige, der das letzte Foto knipst, gleich den Film wechselt? Das wäre eine Katastrophe gewesen, wenn ich es nicht jetzt noch gemerkt hätte. Du weißt doch, daß ich Bilder von Sonnenuntergängen so liebe!"

Zwei Tische entfernt von ihr blickte sich eine üppige Dame mittleren Alters suchend um.
"Wo ist nur der Herr Haberfeld geblieben? Er war mit Sicherheit im Bus. Gerlinde, hast du ihn gesehen?"
Sie senkte die Stimme. "Typischer Junggeselle - schrecklich menschenscheu. Wir müssen uns ein bißchen seiner annehmen."
"Aber klar doch", stimmte ihre Schwester zu. "Da kommt er schon! Mußte wohl gleich nach dem Aussteigen, scheint eine schwache Blase zu haben. - Herr Haberfeld!" Ihre Stimme schallte quer durch's Lokal. "Hierher! Wir haben einen Platz für Sie freigehalten - mit toller Sicht auf's Meer!"
Als der Gerufene sich näherte, grinste sie:
"Na, mein Lieber, das lohnt sich doch nicht, wegen einer einzigen Wurst gleich den Laden zu öffnen!"
Herr Haberfeld starrte sie verdutzt an. Dann ging ihm ein Licht auf und er wandte sich mit betretener Miene ab, um den Reißverschluß an seiner Hose zu schließen.
"Aber wenn der Laden schon mal offen ist", fuhr Gerlinde unbarmherzig fort, "was soll sie denn kosten, die Wurst?"
Herr Haberfeld lächelte hilflos.
"Ein Euro", murmelte er.
"Ein Euro", kreischte Gerlinde, "das ist billig! Da würd' ich glatt zwei nehmen!"
Gelächter.

Herr Bäuerle am Nebentisch schaute gereizt herüber. Die Ursache für das Lachen war ihm entgangen und er konnte es grundsätzlich nicht ausstehen, wenn jemand anderer als er selbst im Mittelpunkt stand.
"So", sagte er, lehnte sich zurück und warf einen Blick in die Tischrunde. "Ich trinke jetzt erstmal einen schönen Cappuccino. Meiner langjährigen Erfahrung nach ist das ein idealer Aperitif. Macht das Essen bekömmlicher."
"Im Reiseführer habe ich heute gelesen, daß die Italiener nur morgens Cappuccino trinken", wandte Frau Zierhut, eine ältere, freundliche Dame ein. "Wer nach dem Mittagessen noch einen trinkt, gibt sich unweigerlich als Deutscher zu erkennen."
Herrn Bäuerles Gesicht lief dunkelrot an.
"Wenn jemand sich mit Cappuccino auskennt, dann ich!!!"
Frau Zierhut zuckte zusammen.
"Ich habe die offizielle Cappuccino-Fibel zu Hause. Und dieser Cappuccino -" Herr Bäuerle deutete auf das Gebräu, das der Kellner soeben vor ihn hingestellt hatte, "ist eindeutig nicht nach den vorgeschriebenen Regeln gemacht. Ein auf den Milchschaum gelegtes Zuckerstück muß drei bis zehn Sekunden später einsinken", dozierte er. "Dieser Milchschaum ist zu fest. Ja, so ist das. Bei Cappuccino macht mir kein Italiener etwas vor!"
Ein paar Augenblicke lang ähnelte seine Miene der eines Dackels, der gelobt werden möchte, wurde jedoch säuerlich, als die erwartete Wirkung ausblieb. Er wandte sich wieder seinem Getränk zu.

Die Aufmerksamkeit seines Gegenübers, des ältlichen Herrn Schröderbach, war inzwischen auf das neben ihm sitzende Fräulein Schneider gerichtet. Er rückte ein Stück von seiner ebenfalls ältlichen Gattin ab und redete auf seine junge Nachbarin ein:
"Also, diese Reise ist in Ordnung. Gute Organisation - ich habe da in den vergangenen Jahren bei Studienreisen schon ganz anderes erlebt, kann ich Ihnen sagen. Und dieses Abendessen mit Aussicht auf den Sonnenuntergang ist wirklich eine nette Idee von der Reiseleitung."
Er beugte sich etwas vor, um einen unauffälligen Blick in Fräulein Schneiders Ausschnitt zu erhaschen. "Wissen Sie, nächstes Jahr wollen meine Frau und ich Sizilien machen. Das ist natürlich im Hochsommer nichts, da muß man im Frühjahr..."

"Hallo! Hallo, Sie!"
Eine schrille Frauenstimme direkt hinter ihm ließ ihn innehalten.
"Hallo, Herr - äh, Signor Tramonto!" schrie Frau Poppe einem Mann in Hemdsärmeln, der gerade in der Küche verschwinden wollte, nach. "Ho una domanda", fuhr sie nach einem schnellen Blick in den Sprachführer fort.
"Ich hab ihn, das ist der Wirt", zischte sie ihrem Mann zu. "Jetzt krieg ich raus, wie die Italiener das Tomatenzeugs machen, das auf die Pizza kommt."
"Sicher, sicher. Nachdem du in Rekordzeit rausgefunden hast, wie er heißt... Wie hast du das angestellt - du bist ein Tausendsassa, Schnäuzchen!"
"Nichts leichter als das! Schau, da oben steht's: 'Tramonto' heißt das Lokal, also ist das auch der Name des Wirts."

Der elfjährige Thomas, der mit seinen Eltern gegenüber saß, ginste über's ganze Gesicht.
" 'Tramonto' heißt 'Sonnenuntergang'. Hab ich gerade im Wörterbuch nachgeschlagen. Ich glaub', man hat die Trattoria 'Tramonto' genannt, weil..."

"Des is wurscht, wie des heißt! Ganz wurscht is des, verstehst?"
Herr Meisel am Nebentisch schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr klapperte. "Bayerisch is die schönste Sprach' auf der Welt - es braucht gar keine andern Sprachen geben - des merkst dir, gell!"
Herr Meisel ärgerte sich - er ärgerte sich schon seit Tagen maßlos und ein aufmüpfiges Kind war genau das, was er gebraucht hatte, um seinem Zorn freien Lauf lassen zu können. Seine beiden Töchter hatten ihm und seiner Frau die Reise zur Goldenen Hochzeit geschenkt und während seine Gattin den Urlaub zu genießen schien, weckte alles, was er bis jetzt in diesem fremden Land erlebt hatte, seinen Zorn. Es war zu heiß, er konnte nicht zur gewohnten Zeit fernsehen, das Bier war unmöglich und das Essen noch schlechter - kein Leberkäs, kein Schweinsbraten, keine Knödel, kein Sauerkraut. Seit sie Rom verlassen hatten, gab es nicht einmal mehr Wiener Schnitzel. Erst gestern hatte er seiner Frau gegenüber die Vermutung geäußert, daß seine Nachkommen ihn mit dieser Reise vorzeitig ins Grab bringen wollten.
Ärgerliche Blicke aus seiner Umgebung brachten Herrn Meisel zum Schweigen, aber innerlich kochte er. Wenn diese ganzen verdammten Leute nicht da wären, wenn er zu Hause mit seiner Frau allein wäre, dann würde er das tun, was er immer tat, wenn etwas nicht seinen Wünschen gemäß verlief.
Er würde mit den Fäusten gegen die Wände hämmern, alles zu Boden schleudern, was nicht niet- und nagelfest war und schreien, so laut er konnte:
"Scheiße!" würde er brüllen, und noch einmal: "Scheiße, Scheiße!"

Zwei Stunden später säuberte Filippo, der Kellner, das Lokal. Nachdem er diverse zusammengeknüllte Papierservietten unter den Stühlen hervorgeangelt hatte, schmerzte sein Rücken. Er hielt inne, streckte sich und ließ seinen Blick zufrieden über die Tische gleiten. Bald würde die Trattoria aussehen, als wäre die deutsche Reisegruppe niemals dagewesen und er könnte nach Hause gehen.
Dann schaute er zum Horizont, dorthin, wo die Sonne untergegangen war. Und seltsam, es erfüllte ihn auch mit Erleichterung, daß das Meer unberührt und majestätisch dalag - so, wie es schon vor Urzeiten gewesen war und wie es sein würde, solange die Erde existierte.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo Eli-fant,

die Geschichte ist gut geschrieben und man kann sich die Typen auch lebhaft vorstellen. Trotzdem kann ich mich nicht so recht damit anfreunden: Für eine Beobachtung ist es zu klischeehaft, für eine Satire zu brav, und so stellt sich am Schluß ein hilfloses "Ja, und?" ein.
Es gibt solche Leute. Es gibt auch solche Reisegruppen. Das wissen aber mittlerweile alle, und so ist der ganze Text nicht richtig interessant. Besser hätte mir bei einem beobachtenden Text gefallen, wenn irgend etwas passiert, das nicht dem Klischee entspricht - obwohl auch diese Art Erzählung recht häufig ist und somit selber Gefahr läuft, zum Klischee zu werden. Oder aber eine stark überzeichnete Satire.
Deine "Typen" werden weder spöttisch noch liebevoll beleuchtet, einfach nur geschildert. Du beziehst keine Position. Und dazu gibt das Thema einfach nicht genug her, trotz des Gegensatzes zur Natur.

Gruß,
Gabi
 

eli-fant

Mitglied
Hallo,

ja, da hast du sicher Recht - besonders interessant ist die Geschichte nicht.
Mich juckt es nur beim Zuhören und Zuschauen im Alltag (was ish sehr gerne mache) oft schrecklich in den Fingern, genau das auch aufzuschreiben.
Aber ich werde versuchen, mir beim nächsten Mal was Originelleres einfallen zu lassen. :)

Liebe Grüße,
 



 
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