Traumwelten

»Klick«, endlich rastet der Zeiger der Bürouhr auf 12:30 Uhr ein. Es wird Zeit, den Stift aus der Hand zu legen und aus dieser beklemmenden Kammer zu flüchten – wenigstens für eine halbe Stunde. Auf dem Weg an die frische Luft stelle ich mir in Gedanken immer wieder ein und die selbe Frage: »Warum habe ich mich für diese langweilige Bürotätigkeit entschieden?« Vermutlich, weil ich mit beiden Beinen viel zu fest auf dem Boden stehe. Schon immer zog ich die Realität meinen Träumen vor. Statt einen kreativen Beruf auszuüben wie Schriftsteller oder Musiker verrotte ich in einer einsamen Bürostube und produziere einen Papierberg nach dem anderen.

Endlich erreiche ich den Drehtüreingang meines Dienstgebäudes, und zum Glück ist mir auf dem Flur kein Kollege begegnet. In meiner Firma bin ich der Jüngste, das Nesthäkchen. Alle anderen sind fast doppelt so alt wie ich. Bei einem solchen Altersunterschied kommt es eh nur zu belanglosen Gesprächen. Was macht es da für einen Sinn, soziale Kontakte zu knüpfen? Moment, habe ich vorhin nicht erwähnt, dass ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehe und ein realitätsbezogener Mensch bin? Warum setze ich mich dann mit meinem Umfeld nicht auseinander? Menschsein steckt eben voller Widersprüche.

Das Tageslicht tut gut. In meinem Büro bin ich ständig von künstlichem Licht umgeben. Es kommt oft vor, dass ich durch eine kleine Luke sehnsüchtig nach draußen starre. Ich zähle die Stunden bis zum Feierabend und beneide diejenigen, die es sich leisten können, nicht arbeiten zu müssen. Ist diese Ansicht eigentlich realitätsfern? Muss nicht auch der Manager eines Multimediakonzerns hart für seinen Reichtum arbeiten?

Ohne ein bestimmtes Ziel schlendere ich über die Straßen. Ich biege mal links ein mal rechts ein. Auf meiner Odyssee durch die Innenstadt bemerke ich, dass es Menschen gibt, die schlimmer dran sind als ich. Eigentlich müsste ich froh sein, jeden Tag für meine monotone Tätigkeit entlohnt zu werden. In den Seitenstraßen gibt es unzählige kleine Läden. Bei einigen funktioniert die Leuchtreklame nicht richtig, bei den anderen bröckelt der Putz von den Wänden. Blickt man in die Gesichter der Inhaber, wird die bloße Existenzangst sichtbar. Wer kauft schon in einer Hinterhofbude, wenn auf der Hauptstraße ein riesiges Kaufhaus mit immensem Werbeaufwand die Kunden anlockt?

Aber auch die Hauptstraße ist nicht frei von Leid und Ungerechtigkeit. Ein Bettler sitzt – eingehüllt in eine löchrige Decke – auf dem kalten Pflaster des Bürgersteiges. Seine Kleidung ist dreckig und gleicht eher dem ausgemusterten Handtuch, das mein Nachbar als Polierlappen für sein Auto verwendet. Mit zitternden Händen hält der Bettler ein Schild hoch: »HIV-POSITIV, habe keine Wohnung und keine Arbeit.« Beschämt wende ich mich ab. Ich tue so, als wäre diese Person nicht existent und begutachte lieber die neusten Sonderangebote im Schaufenster. Wäre da nicht der verfaulte Gestank, der in der Luft liegt. Ich unterdrücke den Brechreiz und sehe zu, dass ich Land gewinne; Hauptsache das Elend liegt hinter mir.

»Klick«, meine Armbanduhr zeigt die aktuelle Uhrzeit an: 12:45. Die Arbeit ruft und ich begebe mich auf den Weg zurück zum verhassten Bürogebäude. Eine hochschwangere Frau tritt weinend aus einem Hauseingang. Offenbar hat ihr Partner sie hängen lassen. Ich sehe weg, es ist am einfachsten. Ein Schuljunge wird gehänselt, weil er keine Markenklamotten trägt. Ich sehe weg, es ist am einfachsten. Ein junges Mädchen wird von der Polizei abgeführt, weil es beim Ladendiebstahl erwischt wurde. Vielleicht wollte es seine Eltern auf sich aufmerksam machen: »He, mich gibt es auch noch, kümmert euch um mich!« Ich sehe weg, es ist am einfachsten. Oder was ist mit dem alten Mann im Rollstuhl. Er hat keine Beine mehr, und niemand hilft ihm, in den Bus zu gelangen? Ich sehe weg, es ist am einfachsten.

Von wegen ich ziehe die Realität meinen Träumen vor! Im Moment ist es eher umgekehrt. Hätte ich meine Träume nicht, müsste ich auf Alkohol – oder noch schlimmer Drogen – zurückgreifen, um das Offensichtliche zu verdrängen.

Pünktlich um 13:00 Uhr erreiche ich meinen Arbeitsplatz. Es hat sich ausgeträumt. Von nun an wird wieder Leistung von mir erwartet. Es gibt keinen Platz mehr für Phantasien, nur noch die Papierberge zählen.

»Klick«, meine Bürouhr zeigt 16:00 Uhr an. Ich atme durch, denn ich habe wieder einen Tag überstanden. Freudig begebe ich mich auf den Heimweg. Doch kaum habe ich mich auf einen freien Platz in einem U-Bahnabteil niedergelassen, erhebt ein Mann seine raue Stimme: »Guten Tag meine Damen und Herren, mein Name ist Siggi, ich bin obdachlos und verkaufe die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Motz. Die Motz ist ein Projekt zur...« Spätestens jetzt schalte ich ab und flüchte in eine meiner Traumwelten. Dort ist alles in bester Ordnung – es gibt kein Elend und kein Leid, sondern nur das pure Glück.

Zu Hause angekommen, stürze ich mich auf die Post, die in meinem Briefkasten lag: Werbung, Werbung, Werbung... oh, ein Brief meines Arbeitgebers. Neugierig reiße ich den Umschlag auf und lese das Schreiben. Die Anrede ist uninteressant, kommen wir gleich zum Wesentlichen: »... leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Zeitarbeitsvertrag zum Monatsende ausläuft. Wir sehen momentan keine Möglichkeit, ihn zu verlängern und wünschen Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren Berufsweg.« Es macht plötzlich »Klick« in meinem Kopf. Stimmt, mein Arbeitsverhältnis war nur befristet, und ich habe vergessen, mich um eine neue Stelle zu bemühen. Habe ich mich einmal zu oft meinen Scheinvorstellungen hingegeben? Ich habe die Wirklichkeit außer Acht gelassen und nun stehe ich mit leeren Händen da. In einigen Tagen werde ich arbeitslos sein und gehöre ebenfalls den Personenkreisen an, die ich stets ignoriert habe. Und alles nur, weil ich ein Träumer bin...
 

Andrea

Mitglied
Lieber Mathias,

ich finde schon, daß in deinem Text etwas geschieht. Allerdings passiert es immer wieder, daß Beobachtung mit Schlußfolgerung gekreuzt wird und daß dem Leser erklärt wird, was gemeint ist. Die Wiederholung – anscheinend dein liebstes Stilmittel? – wirkt mitunter recht monoton; das „klick“ als roter Faden ist nicht schlecht, aber „Ich sehe weg, es ist am einfachsten“ kommt entschieden zu häufig vor!
Jene Stelle, der Rückweg zur Arbeit, ist sowieso etwas seltsam. Zum einen begegnen deinem Prot eine ganze Menge Leute, und jedem stehen die Probleme anscheinend auf die Stirn geschrieben. Die Schwangere hat vielleicht nur hormonelle Störungen, und wie lange lauscht dein Prot auf die Beschimpfungen unter Schulkindern? Und das Mädchen mit den Polizisten (wie weit exkortieren die sie eigentlich?) ist vielleicht nur Schulschwänzerin! Was ist damit ausdrücken möchte: dein Prot macht sich über zu viele Leute zu sichere Gedanken. Die Begegnung mit dem Bettler ist sehr viel besser – viele Beobachtungen, das Verhalten und Empfinden des Prots als Schlußfolgerung. Du sollest dir eine der vielen Begegnungen aussuchen und als zweite Beobachtung ausarbeiten; das wäre nicht realistischer, sondern liest sich sicher auch besser.

Die letzten vier, fünf Sätze solltest du streichen. Dies ist eine dieser Anleitung, wie der Leser den Text zu lesen hat, die nur schiefgehen können. Wenn dein Text gut ist, wird deine Aussage klar werden. Wenn nicht, nützt es auch nichts, sie als Gedankenspiel getarnt hintendran zu hängen.

Übrigens ein Hinweis noch zur Lesefreundlichkeit: bitte entferne die ganzen Trennungsstriche. Das ist zwar ein häufiger Fehler bei copy & paste, aber keiner, der sich nicht mit edit beheben ließe.. ;)

Gruß
 
P

Parsifal

Gast
Das ist zwar ein häufiger Fehler bei copy & paste, aber keiner, der sich nicht mit edit beheben ließe.
Es geht noch einfacher und erspart das nachträgliche Bearbeiten mit "edit": Extras\Sprache\Silbentrennung ausschalten. Dann kann man die Fehlerkorerktur nach Tippfehlern suchen lassen und anschließend den Text bequem per Zwischenablage einfügen.

Parsifal
 
Hallo Andrea, hallo Persifal,

vielen Dank erst einmal, dass ihr euch die Zeit genommen habt, meine Geschichte zu kommentieren. Da "Traumwelten" mein erster Beitrag war, bin ich für jede Hilfe dankbar.

Ich werde versuchen, eure Tipps bei meinem nächsten Werk zu berücksichtigen.

Ich muss dir auf alle Fälle Recht geben, Andrea, dass ich Wiederholungen sehr gerne einbaue. Wenn der Eindruck entsteht, dass ich zu oft wiederhole und die Geschichte dadurch monoton wird, habe ich schon mal einen Ansatzpunkt für die nächste Geschichte.

Die Silbentrennung habe ich nunmehr entfernt.

Eine Sache möchte ich vorsichtshalber noch klarstellen (nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht): ich bin weder drogensüchtig noch alkoholabhängig und war es auch nie. Diese Passage sollte mit Absicht überzogen wirken, ist allerdings komplett fiktiver Natur.

Viele Grüße

Mathias
 



 
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