Tresentalk

knychen

Mitglied
Tresentalk



Nach so mancher Nacht im „Eisenbahner“ lässt mir das Erinnerungsvermögen beim Erwachen gnädig ein wenig Zeit. An solchen Mittagen – denn so spät wird es, wenn es davor früh geworden ist – gilt der erste Gang einem kleinen hölzernen Medizinschränkchen. War der Absturz in die Tiefen des Alkoholrausches ein vollendeter, bleibt das Gedächtnis weiterhin gnädig. Im Inneren des Kopfes scheint dann statt der Hirnmasse eine alte sterbende Qualle mit zerfransten Rändern gemächlich vor sich hin kontraktierend die Haarwurzeln zu reizen. Bittersüße Todessehnsucht und der Wunsch, den Angehörigen eine geordnete Welt zu hinterlassen, kramen dann das "Testament" aus der Grabbelkiste der bisher nicht ernstlich genutzten Worte. Manchmal fallen einem Splitter des Abends und der Nacht ein - Gesichter und dazugehörige Orte, selten beides zugleich.
Ganz selten erinnere ich mich der wörtlichen Rede.
Denn der nur alle paar Monate vollzogene wochenendliche Besuch im „Eisenbahner“ ist nie das direkte Ziel nach Verlassen der Wohnung. Eher schon ist er der Schlusspunkt einer Reise ins Innere eines Kaleidoskopes – Touchdown am Zentralnerv.
Und bisher nur ein einziges Mal blieb mir ein Gespräch haften, von welchem ich nicht weiß, mit wem ich es geführt.
Es ging um den Musikgeschmack.
Die letzten Töne von Nick Caves "Fifthteen feet of pure white snow" klangen aus und gingen in einen tanzbaren Titel der Counting Crowes über, da sprach der Typ neben mir – er hatte sich während des Songs zur Tanzfläche gedreht und nahm nun wieder die frontale Stellung zum Tresen ein – mit etwas schwerer Zunge, aber anscheinend klaren Kopfes: "Lou Reed war mir zu pathetisch, det wär 'n Job für Mister Cave jewesen"
"Ick will dir ja nich 'ne Illusion rauben", entgegnete ich, denn nur mich konnte er angespro-chen haben, wenn er nicht ins Leere sprach "aber det war eben Nick Cave."
"Weeß ick selba, weeß ick selba. Nee, ick machte mir nur grade Jedanken üba een Stück, wat Lou bei sein Berliner Konzert int Schillatheata vor 'n paar Jahre jebracht hat. Da hatta The Raven von Edgar Allan Poe deklamiert, aba uff so'ne pathetische Art und Weise, dettet nich jefiel mit det viele Jefühl. Jedenfalls jefielet mir nich."
"Ick weeß, det hatta als The Raven 2003 als eigenständije CD rausjebracht. Und uff der Animal Serenade von een Jahr späta isset ooch druff. Ick brauchte ne janze Weile, mir die Scheibe warm zu hörn. Int Schillatheata war ick übrijens den Ahmd ooch"
Der Mann machte mir Spaß. Auf kürzestem Wege hatte er zwei meiner musikalischen und einen meiner literarischen Helden miteinander verflochten und ich war trotz nach außen zur Schau getragener Entspanntheit gespannt. Beide tranken wir aus den vor uns stehenden Gläsern und wischten uns zeitgleich die Lippen trocken.
"Kensse den letzten Titel von der 67-er Velvet Underground&Nico?".
Ich weiß nicht, ob er mich bei dieser Frage ansah. In der Erinnerung sehe ich nur einen vagen Umriss und vor allem sehe ich nichts, was diesen Umriss unter anderen hervorheben würde. Seine Stimme jedoch höre ich noch heute ganz genau - ausgeprägter Berliner Dialekt, ein wenig schwergängig vom Bier und ohne das typische und sinnlos fragende 'wa' am Ende seiner Sätze. Ich drehte mir eine Zigarette und dachte einen Augenblick nach.
"Du meenst European Son?"
"Jenau! Dieset 7-Minuten-46-Ding. Dachtick mir, dette Bescheid weeßt. Also stell dir vor, Nick Cave trägt The Raven vor, von mir aus ooch zart untamalt von seine Bad Seeds. Aba det Janze hörste nur uff een Kanal. So wie bei European Son zwee Sachen parallel abloofen links und rechts. Und wennde denn sagen wa mal links den Raben hörst, müßte uff die rechte Seite die altersweise Patti Smith een anderet großet amerikanischet Stück Literatur bringen, neemlich Ginsberg's Howl. Mit die Stimme von heute und die Intensiteet vonna 75-er Horsesscheibe. Und bei ihr müssten die Neubauten den Sound basteln – so undefinierbare Großstadtjeräusche, weeßte?"
Ich wusste, was er meinte und fragte mich gerade, woher er wusste, wie es bei mir zu hause im CD-Regal aussieht. Soweit ich mich erinnern kann, konnte ich mich auch schon in dieser Nacht nicht erinnern, jemals vorher mit dem Kerl gesprochen zu haben. Oder stand ich vielleicht auf dem Klo vor einem Spiegel und der Wein und das Bier und die paar kleinen Feiglinge und die paar Spliffs mit dem sanften Homegrown ließen alles nur im überhitzten Kopfkino entstehen? Und wenn es so war, war es dann weniger real als das, was vorne im Gastraum auf mich warten würde?
Der Typ stützte sein Kinn auf die rechte Handinnenfläche und fantasierte weiter.
"Rechts und Links hamma, jetz brauchen wa noch wat für de Mitte. Da hättick denn jerne Tom Waits" – ich war erstaunt, dass er den solange außen vor gelassen hatte – "so, wie er uff die Alice-Scheibe von vor 'n paar Jahre klingt. Is zwar unwichtich, aba weeßt du, wann die rausjekomm is?"
"Na wenn ick nich irre und det würde mir irre machen, wennet so wäre, war det zweetausendzwei."
Er trank einen Schluck und ich sah, dass es Bier war, was er da trank und das war gut so, denn ich trank Wein und damit wurde aus der Spiegeltheorie ein willkürliches zusammengesetztes Substantiv ohne Bezug auf unser Gespräch.
"Okay, also zweetausendzwei. Er müßte bei det, wat mir inne Ohren klingt, von irgend ne zentrale Stelle aus sowat Dadaistischet singen wie sein 'Sei punktlisch! Sei punktlisch! Komme nie zu spät!' von der Alice. Kanner von mir aus ooch irjendeen skurrilet Instrument selba zu spielen, aba eijentlich reicht mir die Stimme."
"Hört sich jut an." bestätigte ich "Und wer soll det produzieren? Ick meene, da sind'n paar Leute dabei, die jewohnt sind, inn Mittelpunkt zu stehen."
"Ick dachte da so an Rick Rubin."
"Hm? OK, der Mann is jut, keene Frage, aber der is nich schräg jenuch für sone Numma. Ick denke da eher an John Cale, der hatte ja ooch die Horses jemacht und die haste ja selba schon lobend erwähnt."
"Haste recht.“ Er hob sein inzwischen leeres Glas.“HEIDI!! Machste mal 'n Bier für mich und 'n Wein für ihn, wennawill?! Jeht uff meen Zettel."
Wir tranken uns zu.
"Wennde die Scheibe inne Finger kriegst" sagte er noch "denn zieh mir mal 'ne Sichrungskopie. Jibste einfach hier ab. Sachste: Is für....."
Und da brach die Erinnerung ab.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Schlappe Resonanz bisher, wa' Kny?

Ick versuch' mir mal daran.

Sauber, wie kaum anders zu erwarten, inszenierst Du den Kontrast zwischen der sprachmächtigen Erzählstimme des rekapitulierenden Protagonisten und den durch die Alkoholnebel tönenden Satzfragmenten, die vom Tiefgang ihrer geistigen Mutterschiffe blöken. In dem Moment eminent und wichtig, am anderen Morgen klein und nichtig.

Inhaltlich?
Klischee trifft Milieu:
"Ey, mach' ma' ne' Skizze!"
"Gib' ma' 'nen Deckel und zwee Biere, Heidi."

Mehr passt nun mal nicht auf so 'n Bierfilz. Vielleicht sollte ich Dir eine Kladde stiften, damit Du am nächsten Tag eine Erinnerungshilfe für die wirklichen Geschichten hast.
Erzählen könntest Du sie, da bin ich sicher.

Sprach's und verschwand vom Tresen, als sei er nie da gewesen
 

chrissieanne

Mitglied
is eher wat für insider, wa.
sowohl was den dialekt angeht als auch musikkultmäßig.
mir hats gefallen, aber die pointe ist nicht wirklich umwerfend. finde ich.
aber alles in allem kurzweilig und knackisch erzählt. finde ich.
lg
chrissieanne
 

knychen

Mitglied
OK, bleibt doch mal noch einen augenblick am tresen. geht auf mich. mir war schon klar, dass dieser tresentalk nicht so ohne weiteres in der lelu funktioniert. geschrieben wurde er für die erstausgabe der "eisenbahnerlounge", einem kleinen achtseitigen schwarzweißen pamphlet. klassischerweise wurden die blätter noch von hand gefaltet, während die ersten exemplare bereits kostenfrei an die gäste gingen, die noch willens und in der lage waren, über den sinn undoder unsinn von worten nachzudenken. natürlich hat auch in diesem laden nicht jeder sofort töne in den ohren, wenn er diese aufzählung von namen und cd- oder plattentiteln liest. aber einiges davon wird eben doch manchmal gespielt und erleichtert so den zugang. die von chrissieanne angesprochene dialektproblematik mußte ich in diesem fall auch nicht befürchten, denn schöneweide ist arbeiterberlin - aber volle kanne.
und die kladde würde mir auch nix helfen, rumpelstilzchen, denn so richtig passieren tut da nix und wenn mal was passiert, ist schreiben das letzte, was man tun will. passiert eben alles nur in der erinnerung.
im übrigen ist das gespräch natürlich ausgedacht.
danke an euch beede und schönet wochenende, wa!
knychen
 

Walther

Mitglied
Hallo Knychen,

det ja richtich juut an, aba dann!

Also: Die Geschichte hat einen bärenstarken Einstieg, der in ein erträgliches erstes Drittel anschließt, um danach ganz stark nachzulassen. Grund: die Geschichte mit den verschiedenen Künstlern auf unterschiedlichen Kanälen trägt einfach nicht durch.

Vorschlag: entweder radikal kürzen oder nach hinten raus irgendetwas passieren lassen.

Gruß W.
 



 
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