Trisomie 21 - Ecce Homo; - seht welch ein Mensch

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Zarathustra

Mitglied
Trisomie 21 – Ecce Homo;
seht, welch ein Mensch


Es war die 9. Schwangerschaft meiner Frau. Sie war bereits 40 Jahre alt. Es könnte eine Risikoschwangerschaft werden; - darüber waren wir uns bewusst.
Andere dachten anders. Sie hatten einen besseren Spruch auf Lager:„Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht!“
Das kam gut rüber, da bleibt einem in der Kantine das Hühnerbein im Hals stecken, das kann ich euch sagen.

Der Krug brach dann auch. Er zersprang in tausend Teile. Das Leid, das ausfloss, ergoss sich über uns.

Pränataldiagnostik
***​
Geräusche und Bilder:
Es ist wie unter Wasser. Wie auf einer Tauchstation. Das 3-D – Ultraschallgerät wirft die Silhouette des Embryos an die Decke des Untersuchungszimmers. Es ist das Bild meines kleinen Sohnes. Das Gluckern des Fruchtwassers erinnert mich an das Rauschen der Wellen im Meer.

Das Praxispersonal, die medizinisch- technischen Assistentinnen und die zwei Assistenzärzte werden schnell nervös. Sie laufen hektisch hin und her.

Der Facharzt ist allem überlegen, er weist sein Personal ein:

"Kommen sie an den Monitor, das müssen sie sich ansehen:
Schnell ein Screening und Übertragung auf Millimeterpapier.
So etwas sieht man nicht oft.
Du meine Güte!
Extreme genetische Schädigung, vermutlich Trisomie 21."


Nach der Untersuchung die Diagnose des Experten:

"Trisomie 21 heißt, sie haben nun die Wahl zwischen Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt oder doch lieber ein Kind mit Down-Syndrom, - Sie verstehen doch, ich spreche von Mongolismus. Sie können dann in aller Ruhe entscheiden!
Es ist Ihre Sache: Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt oder ein schwerstbehindertes Kind!“


Leidenszeit
***
Da eine Abtreibung für uns nicht Frage kommt, sinkt der Arzt in sich zusammen.
„Oh mein Gott! Ihr Kind wird, - sofern es leben kann – schwerstbehindert sein!“

Während er das sagt, kämpft mein Sohn um sein Leben. Er kämpft gegen die Vorurteile. Er kämpft gegen meine Angst, gegen die Verzweiflung meiner Frau.

Sein Kampf war kurz. Nach Weihnachten war er zu ende.
Die Leibesfrucht war gestorben.

Der Arzt sagte: „Geburt einleiten; - unverzüglich!“
Geburt?
Es war das 8. Mal, dass ich dabei war. Nie war es so schwer.

Geburt
***
War es ein Mensch, der tot geboren wurde? Nein, so sah er nicht aus. Nicht wie ein Mensch. Es war kein süßes Baby. Mein kleiner toter Sohn sah ganz unförmig aus,
als hätte man ihm, dem kleinen Menschen, alle Knochen gebrochen.

Man hätte ihn verachtet,
für lebensunwert gehalten,
wegen seiner Krankheit.
Man könnte meinen,
Gott selber habe ihn geschlagen,
so eine Strafe liegt auf seinem geschundenen Körper,
Aber eine Strafe wofür?
War es die Schuld der Eltern?

Es dauerte lange, bis ich von meiner Bestürzung erwachte.
Mir fiel nur ein Wort ein, das aus meinem Munde stürzte:
„Christus am Kreuz!“

Dann kam ein Oberarzt zur Türe herein. Ein Richter, Pilatus vielleicht. Jedenfalls wusch er sich die Hände im Becken. Ich konnte nicht mehr klar denken, als mir bewusst wurde, was er zu mir sagte:

„Was wollen sie denn mit diesem Biomüll? Beerdigen, ach du liebe Zeit!
Nun, das ist Ihre Sache!“

Aber es war mein Sohn.
Die Hebamme brachte eine Nierenschale, darin lag das Bündel, das nicht wie ein Mensch aussah. Sein kleiner Leib war purpurfarben, fast violett. Er lag in einem weißen Tuch; er lag wie hineingeschmiegt in den Himmel.
Er kämpft gegen den Ausdruck Biomüll. Er kämpft schweigend, er kämpft tot.

Denn die Wissenschaftler hätten ihn gerne gehabt. Sie wollten ihn untersuchen. Aufschneiden, Zerlegen, Sequenzieren.

Ich habe es nicht erlaubt.
Er ist mein Sohn, ich bin sein Vater!

In der Kirche
***
Nach der Beerdigung sprach mein ältester Sohn in der Kirche einige Worte zu unseren Verwandten. Was sagte, werde ich nie vergessen:

„Mein Bruder hat einen Platz in der Welt gefunden. Einen Platz zwischen zwei Gräbern. Zwischen zwei Menschen. Vermutlich ganz normalen Menschen.
Mein Bruder ist ein Mensch!“

Christian
***
Natürlich haben wir ihm einen Namen gegeben: Er heißt Christian. Wenn der Schnee geschmolzen ist, bekommt er einen Grabstein. Aus Marmor. Und ein Kreuz aus Bronze mit dem guten Hirten und seinen Schafen.


Januar 2001 / 15. April 2005
© Hans Feil
 

San Martin

Mitglied
Vom Aufbau her ein ungewöhnlicher Text. Inhalt und Stimmung machen mich sprachlos... wie kann man da an kleinliche Korrektur denken? Ist, weil es im Tagebuch steht, überhaupt solches erwünscht?

Später vielleicht; nicht jetzt. Nicht jetzt.
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo San Martin,

danke für deinen Kommentar.
Nun, an kleinliche Korrektur darfst du schon denken. Weil es mir persönlich nicht möglich war.
Diese Tagebucheintragung ist ein sehr persönlicher Text (wie könnte es auch anders sein). Für mich gab es nur 2 Möglichkeiten.
Entweder gar nichts schreiben, oder es genau so schreiben, wie es mir auf dem Herzen lag. Ein redigieren, ein korregieren von meiner Seite war nicht möglich.

Liebe Grüsse
Hans
 
bedrückend realistisch

Hallo Zarathustra,
Hallo San Martin,

bedrückend realistisch geschrieben, dass einem jeder Kommentar im Hals und auf der Tastatur hängen bleibt.

Grüße von einer, die sechzehn Monate nicht wusste, ob das eigene Kind je würde laufen können.

Marlene
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo MarleneGeselle,

danke für deinen Kommentar.
Er ist wichtig für mich!

Irgendwann merkt man,
dass es nicht das Mensch- Sein ausmacht, wenn das Kind nicht läuft, wenn es in die Hose macht, wenn es nur einen Arm hat.
Natürlich ist es hart, dieses SEIN mit den Vorstellungen unserer Gesellschaft zu vereinigen.

"Na, was wünschen sie sich denn, ... was soll es denn werden? Ein Bub oder ein Mädchen... Na egal; - Hauptsache gesund!"

Eben nicht "Hauptsache gesund". Soll ich meinem Kind, dem etwas fehlt, sagen: Leider fehlt dir die Hauptsache zum Mensch-SEIN.

Ich hoffe liebe MarleneGeselle, deinem Kind geht es gut..

L.G. Hans
 

miholt

Mitglied
Lieber Zarathustra!
Der Text darf nicht korrigiert werden, denn er muss unvollkommen bleiben.Er ist authentisch so wie er ist, und so ist er gut. Er berührt sehr stark. Er spricht aus persönlicher Erfahrung offenbar ein Thema an, dass in unserer Gesellschaft diskutiert gehört. Ich möchte Dir nicht zumuten, darüber noch eine Kurzgeschichte zu schreiben, aber von allem was ich bisher von Dir gelesen habe her, wäre die sicher sehr klasse. LAss den text so stehen. Danke für diesen Text!!
lG miholt
 
Es geht ihr gut

Hallo Zarathustra,
Hallo Martin,
Hallo an alle,

vielen Dank für die liebe Antwort.

Meine Tochter ist mittlerweile vierzehn Jahre alt und völlig gesund und zickt rum, wie es sich für einen Teenie gehört.

Aber solche Dinge vergisst man nicht. Man bekommt eine andere Einstellung zu vielen Dingen. Aber wem sage ich das.

Grüße, besonders von meiner Tochter,
Marlene
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ein

dickes lob für diese super geschichte. bekommt nicht nur n ehrenplatz in meiner sammlung lupengold, sondern auch noch n ganz breiten goldrahmen extra.
lg
 

Lemma

Mitglied
Das ist einer der bewegendsten Texte, die ich bisher gelesen habe und ich möchte dir danken, dass du uns daran teilhaben lässt. Es ist richtig, er darf und muss auch nicht korrigiert werden, weil er so echt und schmerzhaft ist. 10.

Keine Textarbeit, aber trotzdem hier rein.
 

BeAngeled

Mitglied
Was für Textarbeit? Was kann das für ein Mensch sein, der bei einem solchen Text an "Korrekturen" denkt? Wäre das nicht geradezu pervers?

Ich kann es euch absolut nachfühlen, denn meine zweite Fehlgeburt verlief ähnlich. Jetzt haben wir gerade die Dritte hinter uns gebracht und beschlossen, dass unsere (einzige lebende) Tochter schon mehr Glück ist, als man wahrscheinlich je erfassen kann. Keine Quälerei mehr ...

BA
 
I

inken

Gast
Lieber Hans,

vielen Dank und meinen außerordentlichen Respekt -
ja wofür - für deine Haltung und für deinen Text.

Ich war 41 als unsere Tochter geboren wurde.
Man wunderte sich, daß ich keine genetische Untersuchung
hatte machen lassen - ich wußte warum, es hätte nichts
geändert, aber wir hatten ein gesundes Baby.

Vielen Dank fürs Lesendürfen

Liebe Grüße Ingrid
 

Zarathustra

Mitglied
danke für dein Interesse

Liebe Inken...
ich kann dich gut verstehen.
Ein Risiko ist tragbar, aber bei einem Kind das man erwartet ist es manchmal unerträglich.

Nach der Totgeburt von Christian, wurde meine Frau noch 2 mal schwanger. Ein Abgang in der 5 Woche und dann im Februar 2004 wurde unser 10. Kind geboren. Die Veronika.

Sie ist gesund und munter. Aber sie wäre sicherlich nicht auf der Welt, wenn wir diese Trisomie - Tragödie nicht durchgestanden hätten..

L. G. Hans
 
Q

Quidam

Gast
Lieber Zarathustra,

ich sitze hier und bin den Tränen nah.
Biomüll? Gott wie widerlich Menschen sein können.
Dir und deiner großen Familie alles erdenklich Gute. Ich glaube, du bist ein vater, auf den man stolz sein kann!
Abtreibung kommt nicht in Frage, egal wie behindert es wird - gäbe es nur mehr solch großartige Menschen!

Quid
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ein sehr bewegender Text (, der übrigens nichts von seiner Kraft einbüßte, würde man die (Tipp-)Fehler beheben). Das Erstaunliche - aus dem die wahre Kraft des Textes kommt - ist das völlige Fehlen von Rührseligkeit und Tränendrückerei. Respekt! Vor der Bewältigung dieser Erschütterung und für die Intensität des Textes.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Korrekturvorschläge:

Trisomie 21 - Ecce Homo; - seht welch ein Mensch
Veröffentlicht von Zarathustra am 15. 04. 2005 10:31
Trisomie 21 – Ecce Homo;
seht, welch ein Mensch



Es war die 9. Schwangerschaft meiner Frau. Sie war bereits 40 Jahre alt. Es könnte eine Risikoschwangerschaft werden; - darüber waren wir uns bewusst.
Andere dachten anders. Sie hatten einen besseren Spruch auf Lager:„Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht!“
Das kam gut rüber, da bleibt einem in der Kantine das Hühnerbein im Hals stecken, das kann ich euch sagen.

Der Krug brach dann auch. Er zersprang in tausend Teile. Das Leid, das ausfloss, ergoss sich über uns.
Pränataldiagnostik
***

Geräusche und Bilder:
Es ist wie unter Wasser. Wie auf einer Tauchstation. Das 3-D – Ultraschallgerät wirft die Silhouette des Embryos an die Decke des Untersuchungszimmers. Es ist das Bild meines kleinen Sohnes. Das Gluckern des Fruchtwassers erinnert mich an das Rauschen der Wellen im Meer.

Das Praxispersonal, die medizinisch- technischen Assistentinnen und die zwei Assistenzärzte(Komma) werden schnell nervös. Sie laufen hektisch hin und her.

Der Facharzt ist [blue] allem [/blue] (allen) überlegen, er weist sein Personal ein:

"Kommen [blue] sie [/blue] (Sie) an den Monitor, das müssen [blue] sie [/blue] sich ansehen:
Schnell ein Screening und Übertragung auf Millimeterpapier.
So etwas sieht man nicht oft.
Du meine Güte!
Extreme genetische Schädigung, vermutlich Trisomie 21."

Nach der Untersuchung die Diagnose des Experten:

"Trisomie 21 heißt, sie haben nun die Wahl zwischen Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt oder doch lieber ein Kind mit Down-Syndrom, - Sie verstehen doch, ich spreche von Mongolismus. Sie können dann in aller Ruhe entscheiden!
Es ist Ihre Sache: Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt oder ein schwerstbehindertes Kind!“
Leidenszeit
***

Da eine Abtreibung für uns nicht Frage kommt, sinkt der Arzt in sich zusammen.
„Oh mein Gott! Ihr Kind wird, - sofern es leben kann – schwerstbehindert sein!“

Während er das sagt, kämpft mein Sohn um sein Leben. Er kämpft gegen die Vorurteile. Er kämpft gegen meine Angst, gegen die Verzweiflung meiner Frau.

Sein Kampf war kurz. Nach Weihnachten war er zu[red] ende[/red] (Ende).
Die Leibesfrucht war gestorben.

Der Arzt sagte: „Geburt einleiten; - unverzüglich!“
Geburt?
Es war das 8. Mal, dass ich dabei war. Nie war es so schwer.
Geburt
***

War es ein Mensch, der tot geboren wurde? Nein, so sah er nicht aus. Nicht wie ein Mensch. Es war kein süßes Baby. Mein kleiner toter Sohn sah ganz unförmig aus,
als hätte man ihm, dem kleinen Menschen, alle Knochen gebrochen.

Man hätte ihn verachtet,
für lebensunwert gehalten,
wegen seiner Krankheit.
Man könnte meinen,
Gott selber habe ihn geschlagen,
so eine Strafe liegt auf seinem geschundenen Körper,
Aber eine Strafe wofür?
War es die Schuld der Eltern?

Es dauerte lange, bis ich von meiner Bestürzung erwachte.
Mir fiel nur ein Wort ein, das aus meinem Munde stürzte:
„Christus am Kreuz!“

Dann kam ein Oberarzt zur Türe herein. Ein Richter, Pilatus vielleicht. Jedenfalls wusch er sich die Hände im Becken. Ich konnte nicht mehr klar denken, als mir bewusst wurde, was er zu mir sagte:

„Was wollen sie denn mit diesem Biomüll? Beerdigen, ach du liebe Zeit!
Nun, das ist Ihre Sache!“

Aber es war mein Sohn.
Die Hebamme brachte eine Nierenschale, darin lag das Bündel, das nicht wie ein Mensch aussah. Sein kleiner Leib war purpurfarben, fast violett. Er lag in einem weißen Tuch; er lag wie hineingeschmiegt in den Himmel.
Er kämpft gegen den Ausdruck Biomüll. Er kämpft schweigend, er kämpft tot.

Denn die Wissenschaftler hätten ihn gerne gehabt. Sie wollten ihn untersuchen. Aufschneiden, Zerlegen, Sequenzieren.

Ich habe es nicht erlaubt.
Er ist mein Sohn, ich bin sein Vater!
In der Kirche
***

Nach der Beerdigung sprach mein ältester Sohn in der Kirche einige Worte zu unseren Verwandten. Was (er) sagte, werde ich nie vergessen:

„Mein Bruder hat einen Platz in der Welt gefunden. Einen Platz zwischen zwei Gräbern. Zwischen zwei Menschen. Vermutlich ganz normalen Menschen.
Mein Bruder ist ein Mensch!“
Christian
***

Natürlich haben wir ihm einen Namen gegeben: Er heißt Christian. Wenn der Schnee geschmolzen ist, bekommt er einen Grabstein. Aus Marmor. Und ein Kreuz aus Bronze mit dem guten Hirten und seinen Schafen.


Januar 2001 / 15. April 2005
© Hans Feil

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Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. (Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker)
 



 
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