Tropfenfänger

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Muffin

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Tropfenfänger

Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich den Mann sympathisch oder unsympathisch finden sollte. Sein Äußeres wirkte abstoßend. Er sah aus, als hätte er die letzte Nacht unter einer Brücke geschlafen, in Begleitung einiger Schnapsflaschen. In seinem kleinen, roten, aufgequollenem Gesicht trat aus jeder Körperöffnung Flüssigkeit aus. Ihm lief permanent die riesige, rote Nase und seinen Augen tränten so heftig, dass die eigenen Augen Mitleid bekamen und mittränten. In seinem rechten Mundwinkel hatte sich weißer, zähflüssiger Speichel gesammelt, der im Luftzug zitterte, wenn er sprach. Die paar weißen Haare, die er auf dem Kopf hatte, hatte er von rechts nach link über die Glatze gekämmt, wobei eine von den drei Strähnen ihm ständig vorne runter rutschte, eine andere hinten. Man mochte diesem Mann ständig auf die Schulter klopfen, sagen: „Es wird ja alles gut, Herr Timotheus“ und ihn im Rollstuhl zu Schwester Anna auf die Station 5 schieben.
Wahrscheinlich hätte das auch irgendjemand der dreißig Studenten, die vor ihm saßen, getan, wenn er sich nicht eindeutig als unser Dozent vorgestellt hätte.
„Ja“, sagte er schleppend. Er röchelte wie jemand, dem man die Krawatte zu fest zugezogen hatte und hob die Schultern. „Ich bin…ja so was…wie ein…ähem…gelernter Psychologe.“ Ich hatte die begründete Angst, dass er beim Reden einschlafen könnte und am Ende des Satzes hatte ich Angst, er könne einfach tot umfallen. Er machte eine wirklich sehr lange Pause.
„Sozialpsychologe.“ Wieder eine endlos lange Pause.
„Ja.“
Im Raum war es totenstill. Alles starrte Herrn Timotheus an. Nichts war zu hören, außer vielleicht seinem röchelnden Atem.
„Ja.“ Sagte er noch mal. „Wir sprechen heute über Vorurteile. Sie kennen doch Vorurteile, he?“ Pause. „Ja. Ich hab…Es ist doch bald Weihnachten, ne? Wer von ihnen feiert Weihnachten?“ Zögernd heben ein paar Leute die Hände. „Ja. Das sind jaaha ziemlich viele.“ Wieder machte er eine lange Pause bevor er fort fuhr.
„Da brauchen sie doch sicher ein Geschenk, he? Wer von ihnen braucht noch ein Geschenk? Ja. Ich hab da eine Idee für sie.“ Pause. „Verschenken sie doch mal…Vorurteile.“
Stille.
„Ja. Könnte man machen, ne? Könnte man machen.“ Er verlagerte sein Gewicht vom einen auf das andere und legte wie ein betrunkener Vogel den Kopf schief.
„Was…ehem…für ein Vorurteil würden sie denn verschenken?“
Oh, da erwachte tatsächlich eine blonde Studentin in der ersten Reihe, der man ansehen konnte, dass sie ein Erstsemester war, und meldete sich.
„Ja.“ Sagte Herr Timotheus, offensichtlich der Meinung das würde als Aufforderung reichen und tatsächlich die Kommilitonin reckte das Kinn und sagte:
„Ich möchte bitte das Vorurteil verschenken, dass Blondinen dumm sind, das will ich nämlich nicht mehr.“
Man sah Herrn Timotheus an, dass dies nicht die Antwort war, die er haben wollte, aber statt das zu bemerken, sagte er nur:
„Ja. Könnte man machen.“
„Schrottwichteln,“ flüsterte jemand neben mir.
Meine Gedanken schweiften ab. Ich hob noch ein paar Mal geistesabwesend die Hand, als er fragte, wer sich in Essen ein wenig auskannte (er bemerkte beiläufig, dass er nicht aus Essen käme, er wohne ja schließlich in Kettwig), und malte Rollstühle, Gehhilfen und Krankenschwestern auf den vorbildlich vor mir liegenden Block.
Ich erwachte erst wieder, als er sich röchelnd Räusperte und sagte:
„Ja. Sagen wir mal… wenn ein Lehrer etwas an die Tafel schreibt… Es gibt doch noch Tafeln in der Schule, oder?“
Sicher, der Mann musste so alt und so lang nicht mehr in der Schule gewesen sein, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob es dort so etwas Altmodisches wie Tafeln noch gibt. Ich erwartete, dass er jetzt noch fragte, wer schon einmal eine Tafel gesehen hatte, doch er enttäuschte mich und sagte nichts dergleichen.
Ich entwarf auf meinem Block jetzt praktische Tropfenfänger für die Nase, die Mittels einer trensenartigen Gummibandkonstruktion unter der Nase befestigt wurden.
Herr Timotheus erörterte gerade die „Main-Street-Gedanken“, als mein Nachbar mich darauf hinwies, dass ich noch Tropfenfänger für die Augen vergessen hätte.
Als wir bei der kritischen Frage der Notengebung in der Schule angekommen waren, sagte Herr Timotheus:
„Ja. Das ist ja…nicht sooo einfach mit den Noten. Kein Lehrer macht das gerne. Ja. Nur Dieter Bohlen, der schreibt die meisten Noten. Der hat ja regelrecht einen Durchfall an Noten.“
Ich war so stolz auf Timotheus: Wir waren ausnahmsweise nicht nur einer Meinung, sondern er hatte es sogar geschafft einen ganzen Satz ohne größere Pausen zu sagen.
Danach sagte er allerdings ziemlich lange nichts mehr, als müsse er sich von dieser Anstrengung erstmal erholen. Bis zum Ende dieser Stunde gab er keinen Ton mehr von sich, außer eines gefährlichen Röchelns, das mich fieberhaft überlegen ließ, wie lange mein Erste-Hilfekurs wohl zurücklag. Doch zu meinem Erstaunen überlebte er die Stunde und nicht nur das. Kaum war es viertel vor, wuselte er durch die aufbrechenden Studenten, erreichte leichtfüßig die Tür und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Ein paar irritierte Studenten standen mit ihren Hausarbeiten da, wo er noch vor wenigen Sekunden fast gestorben wäre, und sahen verwirrt in die Runde.
Herr Timotheus hatte Feierabend.
 
Hallo Muffin,

mich würde mal interessieren, ob die Geschichte wahr ist oder nur deiner Fantasie entsprungen. War schön zu lesen.

LG
Walter
 

Muffin

Mitglied
Hallo,

tja, ich will nicht behaupten, dass sie erfunden ist, aber natürlich hoffnungslos übertrieben. Ich habe aus mehreren Begegnungen zusammengeschnitten und hier und da ein wenig verschärft, vielleicht auch ein wenig mehr. ;)

Muffin
 



 
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