Tulpen und Tauben

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Daja

Mitglied
Tulpen und Tauben


Wurdest du nicht bestellt

wie die Tauben auf der
kaugummiverklebten Straße

wie der müde Dom, dessen
Spitzen den Nebel küssen

wie die neuen Skulpturen
die jeder hässlich findet

wie das Veilchen zwischen den
Betonrissen der Hauptstraße

das so gerne eine Tulpe wäre;
wie die Schneeflockenträume

die die Passanten von
ihren Jacken schütteln

wartend zwischen den Wolken
während es in der Stadt

bald Frühling wird?​
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wurdest du nicht bestellt

wie die Tauben auf der
kaugummiverklebten Straße


von wem wurden sie denn bestellt? und von wem wurde ich bestellt?
ehrlich gesagt verstehe ich dich nicht.
 

Daja

Mitglied
Selbstbestimmung - Fremdbestimmung

Hallo Otto,

danke für deinen Kommentar. Hm, was antwortet man am besten auf solche Fragen. Eine bestimmte Deutung vorzugeben, erstickt oft andere, ebenso richtige Interpretationen im Keim. Na dennoch. Hier also ein paar Gedanken als eine mögliche Betrachtungsweise des Gedichts:

"Bestellen" ist das Wort um das sich alles dreht, wie eben diese einzige, rhetorische Frage, aus der das Gedicht besteht und es umklammert. Bestellen bedeutet, dass etwas von irgend jemandem geordert wurde. Das Georderte, hier das lyrische Du, scheint sich in einem stadtartigen Ort zu befinden. Ein lyrisches Ich, möglicherweise eine konkrete oder abstrakte Person oder auch die eigene innere Stimme, deutet durch ihre Frage an, dass das lyrische Du vielleicht nicht freiwillig in seine gegenwärtigen Lage geraten ist.

Durch wen diese Fremdbestimmung bewirkt worden sein soll, wird nur durch scheinbar widersprüchliche oder falsche Vergleiche angedeutet zu werden. Tauben, Veilchen, Schneeflocken sind eine Erscheinung der Natur und werden nicht durch Menschen "beordert". Aber sind sie wirklich selbstbestimmt? Hätte sich das Veilchen im Betonriss tatsächlich diesen gefährlichen Lebensraum ausgesucht, wenn es die Wahl gehabt hätte? Oder wäre eine Schneeflocke gerne auf der Jacke eines Passanten gelandet? Tappt die Taube gerne auf Kaugummiresten herum? Oder stellt dieser Widerspruch die Annahme, die in der Frage steckt nicht selbst in Frage?

Der andere Typus sind die menschengemachten Dinge, der Dom und die Skulpturen. Hier steht ein Konflikt zwischen gewollt (bestellt) und den ungewünschten oder unbeabsichtigten Folgen und Ergebnissen der Handlung.

All diese Dinge stehen oder erscheinen scheinbar sinnlos him Hier und Jetzt. Und das ist das Gefühl, das das lyrische Du offentsichtlich hat. Es fühlt sich fremdbestimmt. Als Opfer und Ergebnis verschiedenster äußerer Einflüsse. Das könnten zum Beispiel natürliche Gegebenheiten, wie in einem Geschlecht in einer Zeit an einem Ort geboren zu sein, oder Beeinflussungen durch andere Menschen und deren Vorgaben oder Erwartungen sein.

Doch die Beeinflussenden können seiner Existenz keinen Sinn verleihen, es nicht "abholen". Das muss das lyrische Du ganz alleine tun. Und dann bleibt noch dieser leise Zweifel durch den Widerspruch der "bestellten" Dinge aus der Natur. Vielleicht ist das lyrische Ich gar nicht fremdbestimmt, fühlt sich aber dennoch in seinem Schicksal gefangen.

Ich hoffe, das konnte dir ein paar Anregungen zu möglichen Betrachtungsweisen geben.

Viele Grüße
Daja
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Veilchen ist sich also seines Veilchen-Seins bewusst,
wäre aber lieber eine Tulpe, weil sie [‚Gott weiß woher‘]
schon mal eine Tulpe sah, oder aber tief drinnen von ihrem eigentlichen Tulpen-Sein weiß.

Weißte…all das und noch viel mehr will und geht mir nicht in mein Sein…drum lassen wir es an dieser Stelle lieber sein.

Alles Liebe

Otto
 

Daja

Mitglied
Hallo Otto,

danke für deinen Kommentar.

Das Veilchen-Tulpen-Dilemma ist natürliche eine Analogie. Das hier ist kein naturrealistisches Gedicht. Die Natur wird offensichtlich als Spiegel der Seele des lyr. Dus missbraucht.

Ist doch völlig okay, wenn du das Gedicht nicht magst. Ich will dich da keineswegs bekehren :) Deine kritische Stimme ist durchaus legitim.

Danke für deine Gedanken dazu und viele Grüße

Daja
 

Winfried Hau

Mitglied
Hallo Daja,
deine Texte haben für mich eine Seele, da geht es nicht nur um intellektuelle Wortspielereien, sondern um Tiefe.
Bestellt sein erinnert mich an Geworfen- Sein, an ein Schicksal, dem man nicht entfliehen kann. Das sind Grundannahmen der Existenzphilosophie.
Aber ich denke, bei deinen Texten sollte man nicht zuviel herumtheoretisieren. Sie wirken.

L. G.
Winfried
 

Daja

Mitglied
Hallo Winfried,

vielen Dank für dieses schöne Kompliment! Freut mich sehr, dass mein Gedicht dich berühren konnte. Dieses liegt mir auch besonders am Herzen, da es ziemlich persönlich ist und auch ein wenig philophisch. Deine Lesart scheint sich mit meiner Intention zu decken.

Liebe Grüße und frohe Ostern,
Daja
 



 
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