Überfahrt

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Violetta

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Überfahrt

Wenn Jonas nicht bald seinen Pass findet, fahren wir alleine und lassen ihn einsam am Pier zurück. Verlockende Vorstellung. In der Nachmittagssonne verschmilzt der Hafenasphalt von Ancona langsam aber sicher mit den Sohlen meiner Nikes zu einer homogenen Masse, Lex an meiner Seite keucht leise, aber vernehmlich, dass sie etwas zu trinken braucht, auf jeden Fall kalt und bittebitte auch alkoholisch. Ihr Max kniet solidarisch neben Jonas und gräbt sich zum x-ten Mal durch dessen Rucksack. Kein Pass.
„Geht doch schon vor, Mädels“, demonstriert Jonas Großzügigkeit. „Reserviert uns einen Platz an der Bar, hier macht ihr uns nur nervös mit euren destruktiven Vibes.“
Max, bis zu den Ellenbogen im Gepäck meines Freundes verschwunden, nickt uns aufmunternd zu. „Das fällt euch ja früh ein“, knurre ich, schultere den 18 Kilo-Rucksack und quäle mich damit Richtung Fähre, Alexa im Schlepptau.
Campingurlaub in Griechenland, was für ein Schwachsinn.

Noch eineinhalb Stunden bis zur Abfahrt, aber die Kriti II platzt vor Touristen schon fast aus ihren Stahlnähten. Vornehmlich Mamis und Papis mit ihren herumtobenden Bälgern, die Opels mit angekoppeltem Wohnwagen parken auf dem LKW-Deck. Herr und Frau Vorzeigefamilie haben natürlich Kabine gebucht, im Unterschied zu uns. Chronische Pleite bedeutet Deckspassage, bedeutet Schlafsack auf Isomatte auf nacktem Boden. Wie es scheint, sind wir nicht die einzigen: rechts von uns grölt eine Horde von Teenagern Songs von Robbie Williams, direkt neben den Toiletten macht ein Rudel Biker gerade Inventur unter den Bierbeständen.
Lex sorgt sich um unsere Nachtruhe. Das ist verständlich, sie ist frisch verliebt und kann sich von der Vorstellung einer romantischen Sternennacht in Maxens Armen und Schlafsack nicht so einfach trennen. Wir finden also einen windstillen Platz nahe am Bug, wohin sich noch niemand verirrt hat, ausgenommen eine kleine Gruppe, die auch nach Campingurlaub aussieht. Sie machen einen friedlichen Eindruck, ein Pärchen spielt Karten, die anderen lesen. Wir murmeln Hallo, breiten unsere Sachen großflächig aus und verziehen uns zur Bar. Im Schatten wird die Hitze endlich erträglich.

Als sich eine Stunde später meine Laune ein wenig gebessert hat (vielleicht wurde Jonas ja von der Mafia verschleppt), tauchen die beiden schließlich auf. Max stürzt sich mit Enthusiasmus auf Lex, Jonas sich auf meinen Caipirinha. „War im Buch“ ächzt er. Ich brauche ein bisschen, bis ich kapiere, dass er den Pass meint, der offenbar in seinem Angeberexemplar von Der Mann ohne Eigenschaften verschwunden war.
„Alles deine Schuld“, konstatiert er und schlürft zufrieden die letzten Tropfen aus meinem Glas. „Da übernehme ich die ganze Reiseorganisation, bitte dich nur darum, meinen Rucksack zu packen, und du schlampst herum. Wozu glaubst du, ist das Extra-Fach für Dokumente da?“
Alles in mir verlangt nach einem weiteren Drink. Ich ordere Campari-Soda und stelle mich an die Reling, während die Fähre endlich ablegt. Max und Lex kleben aufeinander, paaren sich mit den Augen, kriegen nichts mehr mit von der Welt und vom offenen Meer das vor uns liegt und irrsinnig schön ist. Jonas sowieso nicht, der findet nur meinen Campari stillos, eine Beleidigung für den Gaumen, ohne Klasse und damit typisch für mich.
Alles egal, der Wind riecht so gut.

Unser Plätzchen am Bug ist verlassen, als ich dort in meinem Rucksack nach frischen Klamotten wühle. Was ich brauche, [ ]ist ein Kleid, das im Wind weht. Wenigstens ein bisschen. Ich schlüpfe aus T-Shirt und Shorts und tauche ein in kühle Seide. Im Geiste höre ich Jonas spötteln, dass nur eine Tussi, aber wirklich nur eine Tussi fähig ist, ein Seidenkleid zum Campen mitzunehmen. Ebenfalls im Geiste schicke ich Jonas zu den Fischen.
Beim Schließen des Rucksacks fällt mein Blick auf ein Buch, das halb unter meinem Schlafsack hervorlugt. Griechische Mythologie, das Lesezeichen liegt bei der Geschichte von Daphne und Apoll. Eine Nymphe, die sich lieber in einen Baum verwandeln lässt, als mit einem Gott ins Bett zu steigen finde ich sehr sympathisch. Nicht das Jonas ein Gott wäre oder ich eine Nymphe. Aber herrlich, die Vorstellung, ihn mit so viel Entgültigkeit abblitzen lassen zu können.
„Jammerschade um Daphne, nicht?“. Die Stimme kommt von links und gehört einem Kerl mit ausgefransten Jeans und Fünftagebart. „Aber manchmal erfordern unerträgliche Situationen eben harte Entscheidungen.“ Er grinst und schiebt sich die Sonnenbrille ins Kraushaar. „Obwohl ich es übertrieben finde, gleich ins Reich der Flora überzugehen.“
Fühle mich ertappt. „Das ist nicht mein Buch, jemand hat es unter meinen Schlafsack gelegt ...“
„Ich weiß“, fällt er mir ins Wort. „Das war ich. Ich dachte, es könnte passen.“ Noch breiteres Grinsen auf meinen fragenden Blick. „Du musst wissen, ich finde die Bord-Bar auch gemütlich und der Caipirinha da ist ausgezeichnet.“

Er will mir nicht sagen, wie er heißt, behauptet aber, wir seien Nachbarn und er gehöre zu der Gruppe von Campern, die sich den Bugplatz mit uns teilt. Mich nennt er Daphne und besteht darauf, meinen wirklichen Namen erst dann zu erfahren, wenn ich mein Apoll-Problem gelöst habe.
Das Problem sitzt derweilen in der Spielhalle und jauchzt vor Vergnügen, weil es dort eine Uralt-Pacman-Spielkonsole gibt, in die er sein ganzes Kleingeld investiert. Von Max und Lex keine Spur. „Sind bestimmt Sonnenuntergang gaffen“, sagt Jonas, ohne vom Spiel aufzusehen. „Wie wär’s, wenn du dich nützlich machst und mir etwas Essbares organisierst?“
„Daphne?“ Mein Nachbar hat in der Tür gewartet und winkt mich heraus. „Die Sonne geht wirklich gleich unter. Das würde ich gerne sehen. Komm mit.“ Er hat eine Flasche Retsina gekauft, die wir an der Reling öffnen. „Auf die Götter und die Göttinnen“, prostet er mir zu, während ein abartig roter Sonnenball ins Ionische Meer taucht.
Im Angesicht dieser Pracht beschließe ich, ihn Helios zu nennen, nach dem griechischen Sonnengott. Wir stehen sehr nah beisammen. „Warum Helios?“, fragt er in mein Ohr. „Weil du so ein sonniges Gemüt hast“, sage ich. Die Wahrheit ist, dass mir warm wird in seiner Gegenwart. Aber das muss er nicht wissen.

Sommernacht auf einem schwarzen Meer. Wir pirschen über das Schiff, vorsichtig darauf bedacht, keinem von unseren Reisebegleitern zu begegnen. Einmal sehe ich Max und Lex engumschlungen am Bordpool sitzen und wechsle sofort die Richtung. Schließlich erreichen wir unseren Lagerplatz, Jonas ist nicht da, Erleichterung. Auf der anderen Seite haben die Kartenspieler ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Helios-oder-so kramt eine weitere Flasche Retsina aus seinem Vorrat, bevor er sich etwas abseits stellt und eine Zigarette anzündet.
Ich durchsuche mein Gepäck auf Essbares. Der chaotische Zustand meines Rucksacks verrät mir, dass Jonas schon vor mir da war, vermutlich auf der Suche nach weiterem Pacman-Kleingeld. Zwei Müsliriegel und eine Packung Erdnüsse, mehr gibt mein Proviant nicht her. „Komm schon, Daphne“, flüstert es aus dem Dunkel. „Ich habe den perfekten Platz für unser Mitternachtspicknick gefunden.“

„Warum fährst du mit einem Mann auf Urlaub, den du nicht leiden kannst?“
„Das frage ich mich jede Minute. Irgendwo in mir schummert wohl die Hoffnung auf ein Wunder.“
„Worüber redet ihr, wenn ihr alleine seid?“
„Wir reden nicht. Schon lange nicht mehr. Und alleine bin vor allem ich.“
„Du sagst das so fröhlich.“
„Ich bin fröhlich.“
Wir haben ein eigenes Boot. Es hängt gute zwei Meter in der Luft, über dem Passagierdeck. Ich fühle mich sicher dort, denn es ist ein Rettungsboot. Ein Boot für meine Rettung, groß genug für fünfzehn eng aneinandergedrängte Passagiere. Riesig für zwei wohlig aneinandergeschmiegte Menschen, die nicht gefunden werden wollen.
Wir haben eine abenteuerliche Kletterpartie hingelegt und die Persenning über dem Rettungsboot gelockert. Jetzt liegen wir auf seinem Schlafsack, füttern uns gegenseitig mit Erdnüssen und haben den ganzen Himmel über uns. Der Mann, den ich Helios nenne, erzählt mir leise Geschichten, wie die von Kallisto, einer sterblichen Frau, die von Zeus verführt wurde. Darauf verwandelte Göttergattin Hera sie aus Eifersucht in einen Bären, Zeus traute sich nicht, Kallisto zurückzuverwandeln, sondern setzte sie stattdessen als Sternbild an den Himmel. Wir suchen den Großen Bären und prosten ihm mit unserem letzten Schluck Retsina zu.
Dann beginnt Helios, mich mit Sonnenstrahlen zu streicheln.

Ich muss geschlafen haben, denn ich schrecke hoch vom Lärm unter mir. Aufgeregtes Durcheinanderrufen, eine Frau weint. Nach ein paar Sekunden der Desorientierung blitzt Erinnerung auf und ich taste neben mich. Nichts. Ich liege allein auf dem Boden des Rettungsbootes, während zwei Meter unter mir eine Stimme laut wird, die ich als die von Jonas identifiziere. „Seit sechs Stunden, six hours. What’s the matter with your fucking security system?”
Ich blicke über den Bootsrand und sehe neben Jonas zwei weiß uniformierte Männer stehen, die ratlos um sich blicken. Einer spricht in ein Funkgerät. Alexa und Max lehnen engumschlungen an der Reling und schauen auf das schwarze Meer hinaus. Lex schluchzt ab und an laut auf, Max murmelt beruhigend in ihr Haar.
Er ist über Bord gegangen, schießt mir durch den Kopf und die Vorstellung fegt alles andere fort. Innerhalb einer Minute bin ich aus meinem Boot halb geklettert, halb gesprungen und stürze an die Reling. Das Meer ist ruhig und dunkel, nichts ist zu sehen außer der weißen Gischt, die unsere Fähre als Spur durch die Nacht zieht. Panik in meinem Bauch, neben mir ein Schrei, und schon hängt Lex an mir, heulend. Stammelt da bist du ja, du lebst und wir dachten du wärst ertrunken, was war denn los, mein Gott, bin ich froh. Dann drängt sich ein schnaubender Fährenbediensteter dazwischen und bellt in stark griechisch eingefärbtem Englisch, dass es verboten ist, in die Rettungsboote zu steigen, außerdem gefährlich and don’t do that again, Lady. Never!
Schließlich kommt Jonas langsam auf mich zu, weiß im Gesicht, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. „Du willst mir den Urlaub versauen, stimmts“, zischt er. „Blöde Kuh. Besoffen im Rettungsboot eingeschlafen und wir durchkämmen das ganze beschissene Schiff.“
Ich nicke abwesend und suche mit den Augen nach meinem Geliebten, aber das Deck ist leer bis auf ein paar schlafende und ein paar aus dem Schlaf gerissene Passagiere. Niemand davon sieht vertraut aus.
Wieder bei unserem Platz am Bug. Die Stelle, an der vorhin noch sein Gepäck gelegen hat, ist jetzt leer.
Vier Uhr morgens, aber kein Gedanke an Schlaf. Mein Herz pocht bis zwischen die Beine. Ich liege mit geschlossenen Augen auf der Isomatte und rufe meinen Geliebten zurück. Öffne alle paar Minuten die Augen, aber er kommt nicht wieder.
Irgendwann geht die Sonne auf.

Es ist sieben Uhr, als ich beginne, systematisch die Fähre zu durchkämmen. Ich steige über Schlafende, inspiziere die frühstückenden Gäste in Bar und Restaurant. Dann geht es weiter aufs Fahrzeugdeck. Ich quetsche mich zwischen Wohnmobile und LKWs, gehe jeden einzelnen Korridor ab. Eine Gruppe schnatternder Dänen will mir Kaffee aufdrängen. Aber keine Spur von ihm. Nichts.
Zurück am Bug schaffe ich es in einem günstigen Moment, unser Nachbargrüppchen anzusprechen und nach dem Verbleib ihres Freundes zu fragen. Doch dort will niemand ihn kennen. Ich bedanke mich halbherzig und stolpere davon. Noch einmal Richtung Heck.
Bei meiner dritten Runde über die verschiedenen Decks steht plötzlich Lex vor mir und hält mich fest. „Verrätst du mir, was du suchst?“ Ich schüttle stumm den Kopf. „Jonas ist supersauer“, fährt sie fort. „Geh und rede mit ihm. Bitte.“ Ich befreie mich unwillig aus ihren Armen. Sie sieht traurig aus, seufzt. „Wie du meinst, aber in einer Stunde landen wir in Patras. Es ist Sommer, wir haben Ferien, alles könnte wirklich wunderbar sein. Bitte.“

Der Asphalt am Hafen von Patras ist noch heißer als der gestern in Ancona und verbreitet durchdringenden Teergeruch. Jonas leitet uns unbeirrt Richtung Hauptstasse, eine Peloponnes-Karte in der Hand. Er hat einen Strand auserkoren, der das ultimative Urlaubsparadies sein wird, das sagt ihm sein Gefühl. Außerdem gibt es dorthin einen direkten Bus von Patras aus. Wir schleppen uns zur Hauptstraße und versuchen, aus dem griechischen Fahrplan schlau zu werden. „Das kann ja kein Schwein lesen, können die nicht in einer normalen Schrift schreiben?“, grunzt Jonas und blickt sich suchend um, wahrscheinlich nach einem Dolmetsch.
Ich könnte ihm helfen, aber ich will nicht, denn mir ist gerade ein Straßenschild ins Auge gesprungen, das nur ein Wink der Götter sein kann und die Entfernung nach Olympia mit 75 Kilometern angibt. Olympia. Götter. Nymphen. Mein Entschluss kommt ganz leise und von selbst. Ich schnappe meinen Rucksack und marschiere auf die andere Straßenseite, wo ich meinen Daumen in Richtung des Olympia-Pfeils halte. An der Bushaltestelle gegenüber sehe ich Jonas wütend gestikulieren, Lex den Kopf schütteln, während Max beschwichtigend seinen Arm um sie legt. Was sie mir zurufen, schluckt der Lärm des dichten Verkehrs, dann kommt auch schon der Bus und versperrt mir die Sicht auf die drei. Als er abfährt, sind sie weg.

Seit fünf Minuten allein auf einer griechischen Durchfahrtsstraße. Mein Daumen zittert ganz leicht, dabei bin ich nicht nervös, sondern unendlich berauscht, schwebend in meiner neu erworbenen Freiheit. Merke gar nicht, dass ein weißer Passat vor mir stehen bleibt. Erst die Hupe quäkt mich in die Realität zurück.
Ich öffne die Beifahrertüre.
„Eine Nymphe auf dem Weg zur nächsten Quelle?“
Vor lauter Erleichterung sitzt mir das Weinen näher als das Lachen. „Nein. Auf dem Weg nach Olympia.“
„So ganz ohne Apoll im Reisegepäck?“
„Ganz. Ohne.“
Er steigt aus und hilft mir, meinen Kram auf die abgewetzte Rücksitzbank zu wuchten. Dann drückt er mich an sich.
„Übrigens“, sage ich in sein offenes Hemd hinein, „ich heiße Clara.“
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo Violetta,

die Erzählung hat mich vom Inhalt her nicht gerade vom Hocker gerissen. Es liegt wohl daran, dass der Text mehr in Richtung Reiseerlebnisse geht und das ist nicht gerade mein Lieblingsgenre.
Davon abgesehen entdecke ich aber eine frische, schnörkellose Sprache, die mir gefällt. Ich denke, da dürfen wir hier in der Lupe noch einiges von Dir erwarten. Bin gespannt.

Gruss
Socke
 

Violetta

Mitglied
Hallo Socke!

Erstmal danke für Dein Feedback! Und fein, dass Dir immerhin mein Stil gefallen hat.
Was die Thematik betrifft, so war die Geschichte eingentlich nicht als "Reiseerlebnis" konzipiert, aber ich fand, dass die Fähre eine interessante Kulisse abgibt. Mag sein, dass der Hintergrund schließlich zu dominant geworden ist.

Liebe Grüße
Violetta (die sich Mühe geben wird, Dich bei nächster Gelegenheit doch noch vom Hocker zu reißen :))
 

Violetta

Mitglied
Lieber Zarathustra!

Danke für Dein Lob! Es freut mich, Dich erfrischt zu haben, besonders angesichts der heutigen Temperaturen :cool:
Alles Liebe!

Violetta
 



 
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