Übersetzungstheorie

Da ich mit meiner Muttesprache Deutsch immer zwischen Fremdsprachen gelebt gelebt habe, zuerst in Transsylvanien, wo ich in der alten siebenbürgisch-sächsischen Stadt Sighisoara-Schäßburg geboren wurde, das bis 1919 zur "kaiser-königlichen" Donaumonarchie, dem kafkaesken Kakanien gehört hatte: Ungarisch, Rumänisch, Jiddisch waren die Sprachen des Alltags; dann in Bukarest, wo ich (Germanistik) studiert habe, 10 Jahre Redakteur einer deutschen Zeitschrift gewesen war, und in einer rumänischen Familie gelebt hatte. Hier unterhielten sich bis in meine Träume hinein die Sprachen (und auch die Literaturen) miteinander, und es wäre erstaunlich gewesen, wenn ich in diesem hochsensiblen Zustand, dazu noch in einer Diktatur, mich nicht in die Sprache und in die Übersetzung gerettet hätte; früh schon aus starker innerer Bindung an meine rumänischen Kollegen und ihren Stil (sehr oft des Widerstandes!).
So entstanden vor allem Lyrikübersetzungen der Generationskollegen: Nichita Stánescu, Cezar Baltag, D. Tsepeneag, Nina Cassian, Ion Caraion, G. Mazilescu, G. Pitut, Marin Sorescu, Petre Stoica, Magdalena Constantinescu, Ana Blandiana u.v.a.
Dann die Klassiker der Moderne: Tzara, Eugène Ionesco, Urmuz, Lucian Blaga, Tudor Arghezi (viele "Paraphrasen"), Ion Barbu, Ion Vinea, Virgil Teodorescu u.a. Vor allem auch B. Fundoianu ( den rumänisch-französischen Essayisten und Lyriker, der in Auschwitz umgekommen ist.) In Deutschland habe ich seit meiner Übersiedlung 1969 viel vermittelt und an Anthologien mitgewirkt, bzw. selbst Anthologien zusammengestellt.
Prosa habe ich von Eminescu, Francisc Munteanu und in letzter Zeit von Norman Manea übertragen. Zur Zeit arbeite ich an den Briefen E.M. Ciorans, einer Edition für Suhrkamp in deutscher Sprache. Und dann an Texten Constantin Noicas.

Extreme Lagen bringen im Schock Erkenntnisgewinn, und wir, einmal davon geprägt, können uns lebenslang nicht mehr entziehen; es ist nicht nur ein Schatzhaus der Sprache und der Erfahrung, es ist ein Mehr an Unentrinnbarkeit: Unter Druck wird erkennbar, was in der Gegenwart verdeckt, Geschichte macht, die neue Bodenlosigkeit, die mit einem, wenn auch Verlorenen umgehen muß.
Schon durch die Diktatur war das "Wohnen kein Ort" mehr: Christa Wolf nannte es für die DDR: "Kein Ort. Nirgends". Verhindertes, vergeudetes Leben. Securitate, Stasi erzeugten einen permanenten Ausnahmezustand; etwas Irres; wo öffentliche Formen zerstört waren, entstand wider staatliche Unterwelten die Solidarität der Angst. Die Revolution 89 hat sie noch radikaler aufgelöst. "Stehende Zeit", Täuschungen des Raumes. Als wäre Realität - das Stück eines irren Poeten, Plagiat, Fälschung gewesen. Doch der Sprachsinn wurde außerordentlich geschärft:
Nur im Negativ, als Paradox war zu sagen, was ist. Sie zeigten und zeigen nun aufs Neue wieder, daß es sich um eine gestundete, künstlich aufgehaltene Zeit gehandelt hat. Wahr sind dagegen Hypostasen des Fremden, wo auch die Sprache sich von Satz zu Satz wundert, daß sie noch da ist, und es sagt.
Noch in Bukarest habe ich eine Anthologie österreichischer Prosa auf Rumänisch in zwei Bänden (1300 Seiten) herausgebracht, die aber auch dm gleichen Prinzip der Sprachspannung und der Interlinearversion diente.
Aus dem Italienischen habe ich recht spät zu übersetzen begonnen, erst ab 1975 ( ich lebe abwechselnd in Stuttgart und in Camaiore/ Lucca seit Mai 1973). 1975 habe ich ein Buch "Sozialisation der Ausgeschlossenen" über die geöffneten Heilanstalten in Italien bei Rowohlt (eine Originalausgabe) aus dem Italienischen herausgebracht. Wieder wollte ich versuchen etwas zu vermitteln: ein Modell zu übertragen. Und laufend habe ich vor allem Lyrik für deutsche Zeitschriften und den Funk übersetzt: Michelangelo, Dino Campana, Giuseppe Ungaretti, Carlo Michelstaedter u.a..
Dann Amelia Rosseli, in letzter Zeit: Sinsigalli, Rebora, Sereni. Fortini, Buffoni
Doch auch jüngere oder unbekannte Kollegen, wenn der "Funke" sprang: Luciano Fintoni, Elisabetta Robert , Maura del Serra, Giuliana Lucchini u.a.
Und ich habe weiter vor, vor allem "Paraphrasen" zu schreiben, auf den Namen nicht zu achten, sondern auf das Gedicht, das mich berührt: wobei mich vor allem Gedichte über die Grenze, an der Grenze, dort, wo das Undenkbare, vor allem die Todeserfahrung in der Metapher gerade noch faßbar, im inneren Takt noch hörbar wird, und aufhorchen läßt.

Oktober 1996



Mimesis
( Parafrazi, rielaborazione, traduzione)
Meine Gedanken zum Übersetzen gehen von Walter Benjamin aus und von Rudolf Pannwitz: "Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers." So daß "die Grenzen des Deutschen erweitert", etwa um das Fremde, hier des Italienischen, erweitert wird. Wie in der Tangente berührt die Über-Setzung das Original nur flüchtig, und im heißen Berührungspunkt, der ein flash sein muß, um dann "nach dem Gesetz der Treue (aber im Innersten der angestoßenen Sprachphantasie) in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen, um sie als "Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen". So erst wird der sehr unterschiedliche "Gefühlston" der Sprachen, der etwa "Brot", "pane" bestimmt, in jener Ursprache der Phantasie im Geistigen aufgehoben und in-eins-gesetzt.

Denn so wie ich es auch bei meinen eigenen Gedichten Fragenden immer wieder sage, daß der Text nur der Anstoß sei, ein eigenes Gedicht im Leser in Bewegung zu setzen, so sehe ich (mit Walter Benjamin) auch die Übersetzung, vor allem die "Paraphrase", und lasse mich im flash vom fremden Gedicht "berühren", genau wie auch bei Erregungen in Ausstellungen, oder im Falle der Sixtinischen Kapelle, über die ich viele Bildgedichte geschrieben habe, (drei Bände sind erschienen: "Das Neue Licht Michelangelos" 89-91), so lasse ich diese Erregungen zu emotionalen Assoziationen werden, die ein neues Gedicht entstehen lassen, das dem Original so nahe geht, ja zu Leibe rückt, bis es sich im Leser selbst verändert. Das schafft eine wörtliche Übersetzung nie, die von Konserven ausgeht und solche auch herstellt.
Die wortlose Ursprache ist vielleicht am besten vorstellbar in jener Sphäre, wo alles-eins wird, einer undenkbaren, aber emotional im Sprach-Zwischenraum und dem meta-pherein Mitvibrieren am Rande des Ganz Anderen, der Perspektive etwa der Toten, der wir uns nur intuitiv, wie Rilke etwa in seinen "Duineser Elegien" annähern können.
Bei den vergangenen, also körperlich unerreichbaren Poeten etwa, wie Baudelaire, stehen die Toten noch in den Synästhesien als "Literatur" unbeweint, aber fühlbar da im Zwischenraum der Zeilen, ja, der große Franzose maß an diesem kultischen Element, das ihm das Zeitvergehen erträglicher machte, den Grad des Zeit-Zusammenbruches und seinen eignen, so daß er fast Lust daraus schöpfen konnte, damals. Man kann dieses Zusammenbrechen als Prinzip sogar ins Übersetzen einführen, nämlich alles zuerst auszulöschen und einen neuen kreativen, ja existentiellen Akt zu "be-gehen", was heißt, daß der Gedichtübersetzer nur solche Texte übertragen darf, die ihn zutiefst, also in einer Sprachschicht des Unbewußten berühren, wo alle Sprachen eine sind.

Dazu aber gehört eine besondere Art von Kraft: Liebe, oder besser, ein Schuldgefühl, wenn diese heute im Alltag nicht so da ist, wie es sein müßte, wenn wir uns an jenem Zustand messen, der jeden Augenblick als intensio, als intensivstes Leben, das vergeht, anpeilt. Im Rumänischen gibt es ein besonderes schönes Wort für Schwäche. "Slab de îngeri." Engelsschwäche. Kein Engel, keine Substanz, kein Gefühl, kein durchwachsenes starkes Leben. An der Wand meines Bukarester Schreibtisches hatte ich eine Abschrift von Korinther 13 angebracht: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle." Und wie oft klingt diese Schelle, wenn ich leer bin und ich nur intellektuell oder assoziativ rede. Und lebe.
Ich fand genau diese Stelle auf der Wartburg als Beispiel aus Luthers Bibelübersetzung. Und noch ein wichtiges Wort, das meine Poetik genau wiedergibt: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ichs stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.".
Und beim Schreiben ist es so: Da wir sonst jeden normal gelebten Augenblick im Selbstvergessen verlieren, ist es wie beim Gedichtschreiben selbst auch beim Übersetzen, einen ver-rückten, einen beglückenden ekstatischen Zustand: Im Augenblick des Sturzes (und des Ich-Verlustes, ja, des Sprachverlustets zuerst in der fremden Sprache!) leuchtete es hell auf, wo ein Schrei sein sollte, ist seltsames Glück, ja, Triumph, daß das Sichtbare als Schönheit auch im fremden Wort eingekehrt, besiegt worden war, als "ein Appell," wie Walter Benjamin diese Auferstehung im Selbstauslöschen wunderbar definiert, "Appell zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer Sterben nannten." Dies Eingedenken, diese correspondences, wie Baudelaire dieses nannte, hat bei jemandem, der zwischen allen (verlorenen) Sprachen und (verlorenen) Ländern lebt, noch den Nebeneffekt, das unwiederbringlich Verlorenes nur als ein Nichts vergangen zu sein scheint, das jenseits des Denkbaren wieder rettbar ist (also sowohl Länder, als auch Sprachen!) Nun rettbar in der fremden Sprache, die es "aufhebt". Das Gewesene, auch vor unserem Leben gewesene, hebt auch im Übersetzen, wie im Gedichteschreiben, die Todesangst auf, da es "gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während des Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren", uns neu berühren, Gegenwart werden kann, wie Benjamin treffend sagt.
Genau dieses heißt es auch, jedes Gedicht nun in die eigene, hier in meinem Fall in die deutsche Sprache (und ihr großes geistiges Erinnerungsgewebe) zu bringen: heißt einen völlig neuen kreativen Akt begehen und nicht ein fast gedanklenloses Abschreiben, wie viele Übersetzungen, eine Mimesis, wie sie Platon wirklich meinte, nicht wie sie etwa B.Auerbach in seinem berühmten Buch vor-schrieb: Daß ich die marxistische Ästhetik mit ihrem primitiven Realismus, ihre Wiederspiegelungstheorie in meiner ehemaligen östlichen Heimat abgelehnt hatte, und in allen heute grassierenden Realismuskonzepten weiter ablehne, geht ja auch in diese Richtung: Es war die falsche Verwendung des alten Begriffes "Mimesis", was keineswegs Realitätsspiegelung heißt, sondern Sichineinssetzen mit der "Ebenbildlichkeit", die "Apriorität des Individuellen" zu entdecken (Omoisis to theo, bei Platon: Angleichung an das Göttliche im Menschen. Dazu gehört, den Schein, das sogenannte "Wirkliche", die Hülle zu zerbrechen, zu entlarven; in der Moderne mit sprachlichen Mitteln; meta-phérein -Metapher- heißt ja hinüber-tragen, anderswohin tragen.) Und genau so im fremden Gedicht diesen Kern zu entdecken, ihn zu enthüllen, die Bilder in die Tiefe führen, wo sie mich berühren, dann erst wieder als neues Sprachbild im Deutschen auftauchen lassen .
Mich haben z.B. die Rilke-Übertragungen von Michelangelos Sonetten sehr angerührt, während mich alle anderen textgenauen "Übersetzungen" völlig kalt ließen! Ebenso Ungaretti von Celan übersetzt, alle anderen waren "textgenau" und hatten doch mit Ungaretti wenig (oder gar nichts) zu tun!
Paraphrase also, sie erlaubt den Berührungsfreiraum, der so ist wie in der Existenz die Zeit: nach Plotin "Zeit ist das Leben der Sele", dieser Freiraum ist also mehr als nur eine "Übertragung", sondern ein Hinübertragen, und so nenne ich meine Übertragungen lieber "Paraphrase"; wobei das griechische "Daneben-reden", nicht das "Danebensein" der Übersetzung heißen soll, sondern wirklich "Hinzufügung zu einer Rede", erweiternde Umschreibung, d.h. abwandelnde Wiedergabe einer Textvorlage. (Vgl, Otto F. Best, Handbuch literarischer Fachbegriffe", 9. Auflage Frankfurt/Main 1980.)
Über die Notwendigkeit der ekstatischen Paraphrase also wäre viel zu sagen, vor allem aber über die Unübersetzbarkeit des Unsichtbaren, das in jedem "guten" Gedicht, auch in der fremden Sprache umkreist wird, sich aber in dem trifft, was wir das "Eine" nennen können, eben nicht das sichtbare "Ding" oder "Wesen".
Moderne Literatur ist undenkbar ohne radikale Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, daß sich der Baum wundern würde, wüßte er, daß wir ihn "Baum" nennen; und doch glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir "Bewußtsein" oder gar "Gott" sagen. Wittgenstein empfiehlt als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare "Aura" und den "Schock", Joyce die "Epiphania"; und George Steiner meint - weit zurückgreifend - all dies kulminiere in Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aaron", dem Aufschrei des Erweckerpatriarchen Moses: "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt." Das Fehlende also erst sage aus, was ist.
Ausgerechnet der Stotterer ( der Sprachverhinderte) Moses erhielt am Sinai von dem "Einen Gott" die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie ein "Baum" angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche Thora - oder die fünf Bücher Mosis SCHRIFT - aber das Sinai-Ereignis ist unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, viel mehr als jede andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges, das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik ist.

April 2001
 



 
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