Und die Angst braucht ihre Zeit

„Wer keine Zeit hat, muss auch keine Angst vor mir haben, wenn Sie verstehn, was ich meine.“ Der Mann neben mir lächelt entschuldigend. „Eigentlich hab ich nie Zeit. Wer Zeit besitzt, hat Angst!“ Kurz steht er von der Plastikbank der U-Bahn-Station auf und setzt sich wieder neben mich. „Wenn ich Ihnen Zeit lass zum Antworten, sagen Sie sowieso nur, was ich nicht hören will.“ Sein Dauerlächeln wirft Falten um die Augenwinkel, ansonsten glänzt die glatte Haut seines kindlich anmutenden Gesichts matt im Neonlicht. „Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte: Es ist nicht einfach, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bist du erst mal am Verteidigen, wirds schwierig. Angreifen musst du, angreifen, angreifen…“
Ich will ihm etwas erwidern und werde schon beim Einatmen von ihm unterbrochen.
„Wer schweigt, besetzt keine Zeit, wenn Sie verstehn, was ich meine. Man muss Zeit besetzen wie Land. Zeitnahme ist Landnahme.“
Zwei Frauen vor uns, schwer bepackt mit Plastikeinkaufsbeutel, sehen sich Kopf schüttelnd nach uns um. „Wenn mein Mann mehr reden würde…. Der erzählt kaum was.“ Die andere etwas kleinere, sie trägt zwei Einkaufsbeuteln mehr, nickt. „Meiner ist auch ein großer Schweiger. Sagt er was, beschwert er sich nur, dass ich den Schnabel nicht halten kann.“
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale.“, dröhnt die Lautsprecheranlage, „Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit mit bis zu zwanzig Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Da haben wir zwanzig Minuten mehr Zeit, die uns woanders fehlen wird.“ Der Mann neben mir auf der roten Plastikbank, er mag etwa fünfzig sein, schlägt sich auf die dünnen Schenkel, die in einer zu weiten Stoffhose mit Bügelfalte stecken. „Zeit is Geld. Hast du kein Geld, kannste nich mal U-Bahn fahrn.“ Er kratzt seinen modischen Dreitagebart, wischt die Hände an seinem schwarzen, von einem nicht unbeträchtlichen Bauch gewölbten Leinenhemd ab und lacht kurz auf.
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit mit bis zu zwanzig Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Was mach ich jetzt mit der überflüssigen Zeit?“Seine Oberschenkel beginnen leicht zu zittern. Wieder wischt er sich die Hände am Hemd ab. „Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich noch sagen soll!“ Er kaut auf seiner ungewöhnlich dicken Unterlippe, kratzt sich die nackten Unterarme und redet weiter.
„War schon beim Psychiater. Der hat mir Beruhigungsmittel verschrieben und mit mir geredet, geredet, geredet…. Jedes dritte Wort war Angstreduzierung. Angstreduzierung. Angstreduzierung. Seine Tabletten ham mich was ruhiger gemacht. So ruhig wollt ich gar nicht werden…“
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit mit bis zu zwanzig Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Eigentlich müssten die Verspätungen doch mit der Zeit geringer werden. Die wollen nicht, dass du genau weißt, wann die Bahn kommt. Bei denen steht die Zeit still. Wenn Zeit still steht, hab ich keine Angst. Aber sie muss anhalten, wenn ich gerade keine Angst hab. Neulich hielt sie an, als ich in nem Fahrstuhl stecken blieb. War ziemlich voll. Die Leute glotzten mich alle mit aufgerissenen Angstaugen an. Hab sofort auf den roten Knopf gedrückt. Fing so ne Computerstimme an zu säuseln. Haben Sie ein wenig Geduld und bewahren Sie bitte Ruhe. Unser Mitarbeiter ist bereits auf dem Weg und wird in Kürze bei Ihnen sein. Nach zwei Minuten wieder: Haben Sie ein wenig Geduld und bewahren Sie bitte Ruhe. Unser Mitarbeiter ist bereits auf dem Weg und wird in Kürze bei Ihnen sein. Im Fahrstuhl roch es nach diversen Deos, Parfüms und ganz ordinärem Schweiß. Und alle zwei Minuten: Haben Sie ein wenig Geduld und bewahren Sie bitte Ruhe. Unser Mitarbeiter ist bereits auf dem Weg und wird in Kürze bei Ihnen sein. Dabei kannst du überhaupt gar keine Ruhe bewahren. Nach über ner halben Stunde, setzte sich der Fahrstuhl langsam in Bewegung, blieb ein Stockwerk tiefer stehen. Der Hausmeister öffnete die Tür und entschuldigte sich. Die Leute hätten ihn fast umgerannt…. Ich stand plötzlich allein rum und stieg schließlich die Treppe runter.“
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit mit bis zu zwanzig Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Wenn nicht bald ne Bahn kommt, dann …!“ Er holt Luft, springt auf, setzt sich wieder. Unter seinen Achseln auf dem Hemd zeichnen sich handtellergroße Schweißflecken ab.
Die Anzahl der Menschen auf dem Bahnsteig wächst zusehends. Einige gehen unruhig auf und ab. Die meisten sehen in die Richtung, aus der die Bahn kommen soll.
„Is ne Unverschämtheit, Leute warten zu lassen. Die ham bestimmt was Besseres zu tun, als in ner U-Bahnstation rumzustehen.
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit noch mit bis zu zehn Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Noch zehn Minuten. Die erste Bahn wird überfüllt sein. Aber in der zweiten ist meist genügend Platz.“
Ich stehe auf und sehe in den U-Bahn-Tunnel. Ein schwacher Lichtschimmer verrät die nächste Station.
„Na, kommt schon ne Bahn? Manchmal sagen die nämlich, es dauert länger und dann kommt doch früher ne Bahn. Die Fahrgäste sind besonders froh und vergessen schnell ihren Ärger über die Verspätung. Das ist höhere Psychologie, wenn Sie verstehn, was ich meine.“
Aus dem U-Bahntunnel dringt entferntes Donnergrollen, dann flammen aus einer leichten Linkskurve kommend Scheinwerfer auf. Die in der Nähe der Gleise Stehenden gehen unwillig einen Schritt zurück. Weiter hinter Stehenden drängen nach vorn. Der neben mir steht auf, geht hastig in Richtung Gleise und kommt zurück. „Endlich!!“
Wie erwartet, ist die Bahn vollkommen überfüllt.
„Ich warte auf die nächste!“ Mein Nebenmann hört sich entschlossen an.
„Ich auch.“ Erwidere ich, obwohl ich seinem Gerede entkommen möchte.
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit noch mit bis zu zehn Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
„Stimmt doch gar nicht. Da kommt schon die nächste Bahn!“ Er springt auf und zeigt mit dem Finger in Richtung U-Bahntunnel.
Die Bahn fährt vor. Sie ist ziemlich leer. Ich stehe auf, er folgt mir. Wir müssen lange vor der offenen Tür warten, bis alle vor uns eingestiegen sind.
Gerade will ich meinen Fuß in die Bahn setzen, da reißt er mich zurück. Obwohl ich mich heftig wehre, hält er mich fest.
„Lassen Sie mich los.“
Schweigend umklammert er meinen Oberkörper und meine Arme. Ich bekomme kaum Luft. Seine Augen stieren mit einem Blick, der keinerlei Zweifel aufkommen lässt. Ich bin ihm ausgeliefert. Vollkommen. Wir sind allein auf dem Bahnsteig. Er lacht laut auf. „Für mich hat sowieso keiner Zeit. Die muss ich mir bei Anderen klauen.“
Dann lässt er mich plötzlich los, rennt zur Rolltreppe, nimmt, obwohl sie sich schon aufwärts bewegt, zwei Stufen auf einmal.
Die nächste Bahn rollt ein. Sie ist beinahe leer.
„Hier spricht die Verkehrsleitzentrale. Wegen eines technischen Defekts muss auf der Linie eins und acht derzeit noch mit bis zu zehn Minuten Verspätung gerechnet werden. Wir bitten, die jeweiligen Verspätungen zu entschuldigen.“
Ich steige in die Bahn und lass mich seufzend auf den nächsten Sitz fallen.
 



 
Oben Unten