Und einer zog die Gerade

Mitunter hatte meine Mutter wirklich grandiose Einfälle, und zu einem ihrer besten zählte der, jeden Sonntag - und das mit heller Freude und Begeisterung - eine riesige Schüssel Götterspeise und die dazugehörige Vanille-Soße zu kochen und der gesammelten Familie zu präsentieren und zu überlassen. Und das Gute daran war vor allem, dass sie nicht wie die meisten Leute zu wenig Vanillesoße kochte. Sie machte immer mehr als genug davon, vor allem weil sie wusste, dass ich süchtig danach war, sie am liebsten Tassenweise pur trank.
An einem solch besagten Sonntag jedenfalls, gestand ihr dann mein Bruder Andrew, dass er ausziehen wolle. Unser Vater war an diesem Sonntag nicht zuhause, sondern zu irgendeinem Computerseminar nach Silicon Valley gefahren. Ich glaube kaum, dass mein Bruder in seiner Anwesenheit groß mit dieser Sache herumposaunt hätte. Denn immerhin rutschte schon mir ein Stück grüner Götterspeise vom Löffel, als er es aussprach - kurz vor dem Mund.
Ich blickte auf, wie ein ahnungsloses Glühwürmchen, das in der lauen Mittagsson-ne erwachte, und leckte die Vanille-Soße von meinem Löffel.
„Hör auf, mit solchen Dingen zu spaßen“, sagte unsere Mutter, obgleich nie etwas ernster geklungen hatte, als diese Worte aus dem Munde meines Bruders.
„Du weißt, wenn es dein Vater hören würde, dass du so sprichst, ...“
„Er hört es aber nicht“, schnitt er ihr das Wort ab. „Und ich weiß, warum ich gerade diesen Augenblick nutze, um es dir zu sagen. Es ist mir ernst, Mom ...“
„Sprich nicht weiter. Bitte nicht jetzt.“
'Bitte nicht vor Billy', schien fast zu fehlen, doch ich bemühte mich nur, mir meine kleine grüne Schüssel zum Versteck zu machen. Die mit den wundervollen grünen Glaskugeln am Rand, meine Lieblingsschüssel.

Meine Mutter ist ein Mensch, der noch nie großartig viel davon hielt, den Dingen ins Auge zu blicken.
„Mutter, ich bin Vierzehn“, musste ich sagen, ehe sie damit aufhörte meine Unterhosen, Socken und so weiter fein säuberlich sortiert in den Schrank meines Zimmers zu räumen. Dann jedoch hörte sie blind auf. Für immer, und schluckte den Schmerz mit der Gewissheit herunter, dass es irgendwann so kommen musste, obgleich sie wohl die Letzte war die wirklich daran glaubte.
Manchmal frage ich mich, weshalb meine Mutter kein geistig oder körperlich behindertes Kind zu Welt gebracht hat. Es mag brutal klingen, aber ich bin nun mal dafür, der Wahrheit kalt entgegen zu blicken. Sie wäre die perfekte Mutter für ein behindertes Kind, denn auch wenn es ihr nicht ewig möglich gewesen wäre, so hätte ihr doch ein behindertes Kind die Gelegenheit gegeben, sich um ein längeres zu kümmern als bei uns.
Als ich meiner Mutter sagte, dass ich Vierzehn sei und so weiter, legte sie die Sachen noch zuende in den Schrank und auch ein paar Tage später fand ich sie dort, immer rechtzeitig, immer ordentlich. Doch nie mehr ließ sie sich dabei erwischen und nach ca. drei Tagen fand ich die Wäsche nur noch auf meinem Bett liegen.
Meine Mutter braucht ihre Zeit, von den Dingen Abschied zu nehmen. Sie braucht ihre Ruhe, den Schmerz der diskreten Aufforderung zu schlucken und zu vergessen, und die Worte Privatsphäre, Persönlichkeit und Eigenständigkeit zwischen sich und ihre Kinder zu schieben.
Vielleicht liegt es an ihr, vielleicht auch daran, dass sie eine Mutter ist. Und ich würde mich nicht einmal wundern, wenn es sogar an der Verzweiflung und Verbitterung läge, welche sich mit der Zeit unter allen denkenden Menschen ausbreitet. Bei ihr mag es mitunter auch die Einsamkeit sein, die mein Vater ihr mit den Jahren der Arbeit mehr und mehr zuteil werden lässt, und vermutlich die Konfrontation mit dem Älterwerden. Doch es lässt mich erschrecken, dass ein weiterer Teil ihrer Depressionen der gleiche ist wie bei mir - die Welt, das Leben, das Sein und alle Qual einer gesicherten Zukunft.
Es ist nicht leicht, an seiner eigenen Mutter depressive Emotionen zu erkennen, denn es verdeutlicht ihre Ausweglosigkeit, trotz ihrer scheinbaren Sicherheiten. Sie, die dir Kraft und Unterstützung geben sollte, weiß offensichtlich selbst keine Antwort, keinen sicheren Rat. Und je früher du das feststellen musst, desto früher musst du anfangen, erwachsen zu werden. Aber zugleich ist diese Feststellung auch wie der unausgesprochene Satz: „Werde nicht älter!“
Schnell zu leben und früh zu sterben, ist nicht mehr als die Umsetzung dieser Warnung. Und sie erfordert eben von dir, auch jenes Haus zu verlassen, in dem dir diese Warnung in jeder Minute über den Weg laufen kann und wird.
Genau deshalb wollte mein Bruder ausziehen. Weil er wusste, er würde sterben. Irgendwann. Doch er wollte nicht länger davor gewarnt werden.

In der Nacht des Sonntags, an dem mein Bruder unserer Mutter sagte, dass er ausziehen würde, blieb sie außergewöhnlich lang wach. Sie hörte leise europäische Musik und versuchte mehrmals, meinen Vater zu erreichen - ohne erfolgversprechende Ergebnisse. Später, noch viel später, nämlich als ich und mein Bruder schon längst in unseren Betten lagen und schliefen, wachte ich doch noch einmal auf und ging zur Toilette. Auf dem Weg dorthin sah ich, dass die Zimmertür meines Bruders leicht offen stand. Da ich seit jeher sehr anfällig bin, was halb offene Türen betrifft, ging ich sofort hin, sie zu schließen. Doch als ich dabei einen Blick in Andrews Zimmer warf, sah ich, dass unsere Mutter dort neben seinem Bett kniete und ihn ansah. Sie hielt die alte, hässliche Brille in den Händen, welche Andrew als Kind hatte tragen müssen. Sie hielt sie in beiden Händen zwischen dem Schoß und sah ihn einfach nur an. Im Licht der Straßenlaterne, welches seicht durch das vom Regen beperlte Fenster ins Zimmer schien, konnte sie nicht einmal viel erkennen. Aber sie saß dort und tat es noch immer, als ich schon längst von der Toilette zurück war. Sie saß da und war die Frau, die sie immer war. Die Frau mit den Sorgen, den Depressionen und der Liebe zu ihrer Familie. Sie saß dort als die Mutter die sie war, die Mutter die wusste, dass sie diesmal nicht sehr viel Zeit hatte, um in Ruhe Abschied zu nehmen und den Schmerz zu schlucken.
Ich weiß bis heute nicht, wie lang sie noch dort gesessen hat und ich habe sie auch niemals danach gefragt. Ich erinnere mich nur, die Tür nicht geschlossen zu haben und daran, dass sie am nächsten Morgen noch immer das gleiche Kleid trug wie am Abend zuvor. Und ich erinnere mich, dass auf Andrews Nachttisch diese Brille lag. Die Brille, die er als Kind hatte tragen müssen. Als Kind unserer Mutter.

Kinder haben ebenso herausstechende Merkmale wie alte Menschen. Denn sie beide sind Extreme, die sich mehr und mehr einer Mitte nähern, oder sich von ihr entfernen. Vielleicht hat man sein Leben ja gerade dann richtig gelebt, wenn man als alter Mensch wieder genauso ist wie als kleines Kind. Vielleicht. Und vielleicht hat es auch deshalb irgendetwas zu bedeuten, dass mein Bruder Andrew 1965 bereits im Alter von 19 Jahren starb und beerdigt werden musste.
Babys sind fast zurückhaltend was ihr Verhalten in der Öffentlichkeit betrifft, wohingegen Sechs/Siebenjährige wahre Unterhaltungstalente sind. Sie springen, tanzen und imitieren, setzen sich vor aller Öffentlichkeit in Szene, sind Schauspieler und Akrobat. Immer gut, immer gekonnt, immer amüsant. Später, mit Vierzehn oder Fünfzehn, werden sie nur frech und dumm bei ihrem ständigen Versuch, sich und ihre Art, ihr Können als etwas Herausragendes in den Vordergrund zu spielen. Von dort an spalten sie sich in viele verschiedene Typen auf und erst im Alter ist es wieder zu erkennen: Wie sie nach harter Arbeit und der Gründung einer Familie langsam damit beginnen zu verreisen, Töpferkurse und Umschulungen zu belegen, wie sie sich ein Haustier anschaffen oder anfangen zu malen. Wie sie damit beginnen, sich selbst zu beweisen, dass sie noch frisch und aktiv sind, dass ihre Arbeit etwas wert war und sie durchaus Freizeit, Freiheit und Aktivität besitzen. Sie wollen zeigen, welch schönes Leben sie sich erbaut haben, doch es lässt sich einfach nicht leug-nen, wie traurig sie darin aussehen. Sie tun es allein für sich selbst, damit bin ich einverstanden und ich will mich auch gar nicht darüber lustig machen. Es ist nur so, dass mich diese Dinge unglaublich deprimieren. Ein alter Mann, der endlich eine große Sommerreise macht, beispielsweise, sieht erbärmlich aus, wenn er in seiner trist geschnittenen, marineblauen Badehose über den Strand läuft und sich die weißen Haare auf seiner bleichen, knochigen, faltigen Brust vor dem frischen Wind des Meeres fürchten. Ich will nicht sagen, dass man sein Alter verstecken muss. Jeder Mensch hat das Recht zu sterben und zu leben, so früh oder so lange er will. Doch ich kann in Falten keine Schönheit entdecken. Hin und wieder eventuell Respekt. Aber was ist denn schön daran, fast nichts mehr zu verstehen und Sachen doppelt falsch zu machen? Was ist schön daran, Hände aus Sandpapier zu haben und beim Luftholen Speichel aus dem Mundwinkel zu verlieren? Ich weiß zwar nicht mehr, was ich als kleines Kind bezüglich meiner Großeltern darüber gedacht habe, aber ich glaube kaum, dass es in mir den Wunsch auslöste, so bald wie möglich wie sie zu sein. Niemand will auf diese Art alt werden, aber es scheint keinen anderen Weg zu geben.
Meine Mutter beispielsweise hat sicher ein junges Herz, wenn es auch längst etwas blass, traurig und einsam geworden ist. Und dennoch sieht sie nicht gut aus, wenn sie in den karierten Flanellhemden, den dreckigen Jeans und mit ihren langen, offenen, weißen Haaren in ihrem Garten hockt und mit Mühe das Unkraut zupft. Ständig will man zu ihr sagen: „Lass mich das doch machen." Dabei will man es gar nicht tun. Meine Mum ist alt. Und ihre Spuren sind die Spuren eines harten Lebens. Eines Lebens voller Arbeit und himmlisch höllischer Familienidylle. Wenn ich in die grauen Augen meiner Mutter blicke, ohne dass sie es bemerkt, und wenn ich ihre dunkle, faltige Haut betachte, dann sehe ich, dass sie keinen wahrhaft guten Grund hat, glücklich zu sein, da sie einzig und allein die Erinnerung an ein Leben besitzt. Man wird glauben, meine Mutter hätte alles richtig gemacht. Doch wenn ich sie betrachte, kann mir niemand sagen, dass in ihren leeren Augen irgendwo ein Funken Hoffnung oder Glück verweilt. Was ist schön daran, auf den Tod zu warten, wenn man das Leben schon vor langer Zeit verloren hat?

Der Tag an dem mein Bruder von zuhause auszog, war ein seltsamer Tag. Unser Vater war gerade nicht zuhause und hatte noch immer keine Ahnung von den Plänen Andrews. Mein Bruder nahm seine Sachen, sagte uns auf Wiedersehen und verschwand.
Ich hatte erwartet, dass meine Mutter etwas in der Art sagen würde wie: „So, nun sind wir wohl allein“, oder zumindest: „- einer weniger.“ Doch sie sagte nichts. Zwei Stunden lang schwieg sie und nachdem das Abendessen fertig war, bat sie mich den Tisch zu decken und rief laut in den Flur, dass das Essen fertig sei, wie sie es immer getan hatte wenn das Essen fertig war. Ich hielt einen Augenblick lang inne und wollte erst etwas sagen. Doch dann blickte ich auf die drei Teller, die ich gewohnheitsgemäß auf dem Tisch verteilt hatte und schwieg, sah meine Mutter an, wie sie das Essen vom Feuer nahm. „Das Essen ist fertig!“ hatte sie gerufen, in ein leeres Haus hinein. Ich werde diese Worte nie vergessen, die sie rief als wir ganz allein in der Küche standen.
Andrews Teller blieb voll und wurde kalt. Als unser Vater nachhause kam, fand er den Brief, welchen Andrew für ihn geschrieben hatte. Es war ein sehr dicker Brief und mein Vater nahm ihn und zog sich damit in seine Bastler-Garage zurück. Er holte sich nur Kaffee und ein Sandwich und blieb damit die ganze Nacht in der Garage.
Manchmal, wenn sich mein Bruder Zeit nahm, konnte er genau das sagen was es zu sagen gab. Und manchmal gelang es ihm sogar, das in den Worten unseres Vaters zu tun.
Andrew besuchte uns nach seinem Auszug nicht sehr oft, ehe er ein paar Wochen später zur Armee eingezogen wurde. Andrew hielt es für keine schlechte Sache und meinte sogar, es würde ihm in gewisser Weise gut tun. Seine Briefe sprachen jedoch bald von etwas anderem, als er in Vietnam stationiert wurde. Sie waren immer sehr lang, doch es waren nicht viele. Wenn er schrieb, schrieb er darüber was er tat und tun musste und davon, dass er gern zurück möchte, dass er das Gefühl habe es wäre eine Art Strafe dafür, dass er zuhause ausgezogen war. Was er schrieb war hart und es änderte meine Sicht in Bezug auf eine Menge Dinge. Ich begann mich für den Kennedy-Mord zu interessieren, für die Ermordung Martin Luther Kings und für die Watergate-Affäre. Ich erschrak über ihre Zusammenhänge und darüber, wie mein Bruder Opfer dieser Verkettung und dieses Wahnsinns wurde. Ich hatte das Gefühl, dass er dem einen System, nämlich dem der Familie, der geregelten Arbeit und des Einfamilienhauses entkommen war, doch dass unser Glück noch von einer viel größeren Macht, einem noch größeren System beeinflusst werden konnte. Und in diesem System schien mein Bruder nun hoffnungslos verfangen und konnte auch dort nicht glücklich werden.
Schnell leben, jung sterben. Doch sobald du beginnst selbstständig zu denken und danach zu handeln, scheinen sie dich auszuschalten. Auf sehr makabere Art und Weise.
In einem seiner Briefe schrieb mir mein Bruder, dass sie immer dann wenn sie sich versteckten und einer raus musste, um zu sehen was der Feind trieb, die Sache auslosten. Er schrieb, dass sie ein paar Spielkarten hätten, genau so viel wie sie gerade Soldaten waren - fünf/sechs in seinem kleinen Trupp. Es waren lauter ungerade Karten, bis auf eine. Und wer die zog, musste raus.
Mein Bruder fiel in diesem Krieg und sie meinten, wir könnten von Glück reden, dass wir ihn immerhin beerdigen konnten und er nicht vom Napalm zerfressen im vietnamesischen Schlamm verkam.
Ich weiß nicht, ob mein Bruder getötet hatte. Doch ich weiß, dass er getötet wurde. Sie lagen vor dem Feind, versteckt hinter Schlamm und Gras. Und einer zog die Gerade. Andrew.

(c)David Winterhurst[1996]
 



 
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