Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 20 u. 21)

Astrid

Mitglied
Der Weihnachtsbaum auf der Straße
Tag 20

Vor meinem Haus liegt ein Weihnachtsbaum. Er ist nackt, nur vereinzelt blitzt ein vergessener Streifen Lametta. Er hat seine Schuldigkeit getan. Der Wind, der immer noch sehr stark bläst in diesem Januar, hat ihn wohl von dem Sammelplatz an der Ecke hierher geweht. Amüsiert sehe ich in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster, um nach ihm Ausschau zu halten. Es dauert nicht lange, und er liegt mitten auf der Fahrbahn. Da hat er aber Glück, dass es eine kaum befahrene Nebenstraße ist. Sonst wäre er zu guter Letzt auch noch überfahren worden. Nackt, nur mit Restlametta.

Irgendwie ist mir, als würde mir das Bäumchen etwas sagen wollen. Aber was? Hinzuschauen? Nicht so durch das Leben zu rasen, nicht so schnell zu vergessen? Auch ich werde mit rein gezogen in den Sog der Zeit. Selbst mein Sohn hat schon vor Jahren gestaunt, wie schnell die Zeit vergeht, als das Weihnachtsfest vor der Tür stand.
In elf Monaten und ein paar Tagen wird es wieder soweit sein. Sollte ich mich vielleicht schon nach Geschenken umsehen? Mich wundert es fast, dass es noch keine Ostereier zu kaufen gibt, aber lange würde das sicher auch nicht mehr dauern.
Ich versuche, diesem Sog zu entkommen, ich will diese Hetzjagd nicht mitmachen. Ich wünsche mir, dass meine gelebte Zeit des Jahres nicht weggeworfen endet wie das Bäumchen auf der Straße. Doch wohin damit, wo soll ich sie aufbewahren? Wenn wir jedes Jahr den Weihnachtsbaum aufheben würden, müssten wir irgendwann in eine größere Wohnung ziehen, abgesehen von den unzähligen heruntergefallenen Nadeln…
Mir fällt nur eine Möglichkeit ein - ich nehme sie mit in den kommenden Tag, dass er reicher wird durch meine Erfahrung und die Erinnerung an gelebte Glücksmomente. Dafür brauche ich keine große Wohnung, nur ein großes Herz.
Als ich aus dem Haus gehe, liegt das Bäumchen bereits vor dem Nebeneingang, auf die ersten Stufen der Treppe geweht. Ich hebe es auf, trage es zurück zu den Wenigen, die noch am Müllplatz liegen und gehe einkaufen.
Als ich auf dem Rückweg wieder daran vorbeigehe, sehe ich noch mal zu ihm und denke: gut, dass der Wind dich heute vor mein Haus geweht hat.

Hände zwischen warmen Steinen
Tag 21

Meine Hände tauchen ein in die steinige Wärme, tasten, wühlen, schaufeln. Sie spüren dabei keine Anstrengung, nur wohltuende Wärme. Sie entspannen. Ich entspanne. Meine Sinne sind angeregt. Meine Zunge löst sich, ich rede.
Weil die Heilung meiner rechten Hand doch länger dauert, gehe ich ab heute zur Ergotherapie. Im Gegensatz zur herkömmlichen Physiotherapie spricht sie alle Sinne an und ich werde selber aktiv. Als die Therapeutin die breite Schale mit den vorgewärmten Steinen vor uns auf den Tisch stellt, bin ich noch etwas skeptisch. Doch als auch sie ihre Hände darin eintaucht, fühle ich mich sicherer. Ich finde es wunderbar, dass wir beide die Wärme in den unteren Schichten der Steine suchen und finden und ich empfinde eine große Nähe zwischen uns.
Die Hände sind beschäftigt und aus unserer Nähe entstehen Worte, ein Gespräch. Wir sind beide Mütter von zwei Kindern, mit dieser Praxis hat sie sich einen Traum erfüllt, sie fragt mich nach dem, was ich tue. Noch nie habe ich mich so wunderbar entspannt gefühlt und einem mir noch bis vor wenigen Minuten fremden Menschen, so nahe.
Die Steine sind glatt, unterschiedlich groß und erinnern mich an einen Urlaub am Meer. Mein Geist befindet sich nicht mehr in diesem Raum.
Noch auf dem Heimweg spüre ich die Entspannung und suche nach Worten, um meine Gefühle beschreiben zu können, um zu notieren und festzuhalten, was ich zwischen den Steinen empfand.

In der Straßenbahn treffe ich eine Bekannte. „Wo kommst du denn her?“ fragt sie mich.
„Ich? Von der Ostsee.“
 



 
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