Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 25)

Astrid

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Das Herz einer Mutter
Tag 25
Und plötzlich ist es wieder Winter. Die Wiese vor meinem Fenster leuchtet am Abend mit ihrer neuen weißen Decke. Die Kinder haben Ferien und scheinen die Einzigen in dieser Stadt zu sein, die sich über den Schnee freuen. Es ist glatt, ich rutsche einige Male. Auf meinem Teppich im Flur knirscht es, weil ich den Streukies dutzendweise in die Wohnung schleppe. Ich friere.
An der Straßenbahnhaltestelle treffe ich die Frau, die über mir wohnt. Sie spricht nur gebrochen deutsch. Sie war die Erste, die mich freundlich ansprach, als ich hier neu einzog. Und sie sagt immer dasselbe, wenn sie mich sieht: „Gute Frau, nix laut.“
„Frau Vorsicht, glatt“ sagt sie heute. Ich stelle mich zu ihr. „Ganz schön kalt“ sage ich. Sie lächelt. „In Kanada Minus dreizehn Grad“ sagt sie. „Tochter wohnt dort.“ Sie weint. „Ihre Tochter lebt in Kanada? So weit weg?“ Ich bin erschüttert, ihre Tränen erschüttern mich. „Aber sie war doch hier zu Besuch?“ „Ja im Sommer, drei Monate.“ Sie weint wieder.
Ihre Bahn kommt. Sie winkt mir zu. Ich friere. In meinem Bauch fühle ich einen Eisklumpen. „Kanada“ wiederhole ich in Gedanken und stelle mir vor, meine Kinder lebten so weit entfernt von mir. Es würde mir das Herz zerreißen.

Ich werde es den Tag über nicht los. Ihre Worte und wie sie weint. Ich möchte ihr etwas Gutes tun. Ich bin mir unsicher, will ich engeren Kontakt? Doch es ist das Herz einer Mutter, das weint und mit dem Herz einer Mutter will ich antworten. Ich kaufe drei lachsfarbene Rosen und klingle bei ihr. Sie ist nicht da. Enttäuscht, aber auch ein bisschen erleichtert, verschwinde ich wieder in meiner Wohnung.
Die Rosen stehen auf meinem Flur. Immer wenn ich ins Bad gehe, sehe ich die Vase. Doch für mich habe ich sie nicht gekauft. Am Abend klingle ich erneut bei ihr. „Moment Frau!“ ruft sie, schließt auf und sieht mich völlig überrascht an, als ich ihr die Rosen hinhalte. „Weil Sie so traurig sind wegen Ihrer Tochter“. Ich soll reinkommen. „Kaffee trinken, Frau“. „Vielleicht ein anderes Mal“ sage ich „ich muss wieder runter“. „Komm schauen!“ Ich soll mir ihr Wohnzimmer ansehen. Wie groß und gemütlich es wirkt. (Meines ist ja auch Schlaf- und Wohnbereich, weil das zweite meinem Sohn gehört.) „Das mit dem Kaffee holen wir nach“, verspreche ich und bin froh.
Gehen zu können und da gewesen zu sein.
 



 
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