Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 28)

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Astrid

Mitglied
Gelbe Rosen im Schnee

Ich bin auf dem Weg zu meiner Freundin. Zu mir kann sie nicht mehr kommen. Sehr lange schon nicht. Manchmal aber vermisse ich sie so sehr, dass ich sie mehrmals in der Woche besuche. Manchmal gehe ich auch einfach nur zu ihr, wenn ich Ruhe brauche, mich geärgert habe oder wenn ich einen Rat suche. Oft fühle ich mich besser, wenn ich mit ihr geredet habe.
Wir lernten uns bei einem Konzert kennen. Unsere Kinder waren dabei, kleine Männer damals noch. Mit ihr aß ich den ersten Thunfischsalat meines Lebens. Sie stand einfach mit einer riesigen Schüssel vor meiner Tür - selbst gemacht natürlich. Im Sommer lagen wir auf einer Decke im Hof und sahen unseren Kindern beim Spielen zu. Wir feierten Silvester zusammen und heulten im Kino an der gleichen Stelle des Films. Und die kleine Brosche mit der Seidenmalerei, die sie während einer Kur anfertigte, habe ich noch immer.

Heute bringe ich ihr einfach nur Blumen. Es ist ein Ritual. Ich gehe stets den gleichen Weg und schaue, was sich verändert hat, welche Sträucher blühen, ob ein Angler am See sitzt. Damit ich ihr das erzählen kann.
Heute blüht kein Strauch. Das Eingangstor quietscht und steht wieder eine Handbreit offen. Der weite Ruheraum schluckt die Geräusche der unmittelbar daran vorbeiführenden Hauptstraße. Ich lasse mich in die Stille fallen. Meine Schritte sind lautlos im Schnee. Ich bin allein. Nur meine Spuren. Ich sehe zurück. Es gefällt mir.

Mit der Hand fege ich den Schnee vom Grabstein. Mir bleibt nichts anderes zu tun. Sonst harke ich, entferne Unkraut und rede mit ihr. Vor elf Jahren starb sie. Ihr Sohn ist heute zwanzig. Wie meiner. Ihr Mann lebt wieder mit einer Frau zusammen.
Sie fehlt. Ihm. Mir. Noch immer. So sehr.
 



 
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