Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 29-35)

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Astrid

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Wenn es dunkel wird
Tag 29
Wenn es dunkel wird in meiner Seele, wenn ich hilflos mit den Armen rudere im freien Fall -Strohhalme brechend.
Wenn sich die Mauern aus Glas, die mich umgeben, plötzlich selbst zementieren. Wenn ich ruhelos flüchte in den Wald, in die Höhle, nur fort von den Menschen, dabei mich doch so sehr nach ihnen sehnend.
Dann weiß ich, ich muss diese Reise antreten, obwohl ich doch dachte, ich wäre bereits angekommen.
Dann fühle ich mich auf unerklärte Weise stark in meiner Schwäche - ich bin doch Mensch!
Und ich spüre sie zittern in mir die ersten Zeilen eines Gedichts; höre die Melodie eines neuen Traumes.
Dann weiß ich doch, es muss so sein, weil ich das Licht nur wohldosiert vertrage und mich
die Dunkelheit vorbereitet.
Wenn ich unendlich langsam wieder auftauche, war es letztlich doch nur ein Moment.
Und ist es doch das Leben.




Eine Begegnung mit der Vergangenheit
Tag 30

Es ist noch dieselbe Handbewegung – er rückt die Brille zurecht. Ununterbrochen. Obwohl sie akkurat auf der Nase sitzt. Seine Augen wirken kleiner als damals im nun rundlicheren Gesicht. Doch sie flitzen noch ebenso wachsam hin und her. Nichts entgeht ihnen. Mein Herz klopft, als ich ihn entdecke. Am Rande einer Veranstaltung, inmitten der Menschen. Ich erkenne ihn sofort. Wir stehen uns gegenüber. In nervöser Sprachlosigkeit, fremd geworden. Doch zugleich spüren wir eine alte Vertrautheit. Und beim Erzählen blitzen seine Augen noch immer.
Wolfgang. Redakteur. Er ist schuld, dass ich nach meiner Lehre in einer Betriebszeitung gelandet bin. In seiner. Ich bin ihm dankbar. Es war der Anfang. Ich durfte schreiben.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit der schweren Fototasche über dem Arm zum Interview geht. Wenn er sitzt, hält er stets einen Stift, schreibt oder zeichnet Layouts oder dreht ihn hin und her bis er eine Idee hat. An die Wände unseres Büros klebt er Zeitungsseiten. Die fetten Überschriften der Seite 1 bringen das Ideenkarussell in Schwung. Eine Überschrift zu finden, ja das habe ich bei ihm gelernt. Passend, knallig, das Wesentliche verratend. Er war streng.
Ich habe ihn geliebt. Manchmal. Und ich habe ihn manchmal gehasst. Es ist über zwanzig Jahre her.
Bei mir zu Hause hängen neben dem Schreibtisch Sprüche oder Gedichte. Mit Stecknadeln an der Tapete. Zur Anregung. Ich sage es ihm nicht.

„Es ist verdammt lang her“ sagt er. „Ich bin älter geworden.“ Es klingt fast wie eine Entschuldigung. „Nein, du hast dich nicht verändert“ sage ich und sehe zu, wie er die Brille zurechtrückt obwohl sie akkurat auf der Nase sitzt.

Nur weil ich so faul bin
Tag 31

Der Schweinehund ist schuld. Mein innerer. Wie oft nehme ich mir vor, jeden Tag zu schreiben. Und dann kommt er – mit einer stoischen Regelmäßigkeit und macht dem einen Strich durch die Rechnung. Schließlich die Idee, für jeden Tag etwas zu finden, was des Aufschreibens lohnt. Ähnlich einer Kolumne. Jeden Tag mein kleines Glück. Danach lebe ich, aber wird es mir auch gelingen, über die einfachen Freuden zu schreiben? So, dass der Leser daran Anteil nehmen kann, ohne dass er mit dem Kopf auf den Tisch schlägt, weil er über der Lektüre eingenickt ist?
Mein Enthusiasmus ist groß, als ich vor 31 Tagen beginne, meine Idee zu verwirklichen. Ich fühle mich gut. Der Tag hat ein anderes Gesicht. Ich gehe auf die Suche nach Geschichten. Mir sitzt die Angst im Nacken, keine zu finden. Umso größer das gute Gefühl, wenn der Text steht. Doch fühle ich mich wie ein Seiltänzer. Obwohl ich weiß, dass ich über das Seil balancieren kann, bleibt der Gedanke, abzustürzen. Eine Befürchtung, die das Adrenalin in mein Blut pumpt, welches ich so liebe. Welches ich brauche?

Völlig unerwartet steht er wieder vor mir – mein Schweinehund. Säuselt mir tausend Versuchungen ins Ohr, nur um mich dem Schreibtisch fernzuhalten. Ich versuche alles, um ihn loszuwerden. Erzähle anderen davon, damit sie mich zu gegebener Zeit ermahnen können, wenn ich aufgeben will. Ich drucke die Texte aus, lege sie in eine Mappe, sehe, wie diese an Umfang gewinnt. Ich schreibe am Tage, abends korrigiere ich. Ich verkrampfe. Freunde sprechen mir gut zu. Ich verurteile mich nicht mehr, wenn ich erst zwei Tage später den Text schreibe.
Und plötzlich ist es nur noch spannend. Seit ich nicht mehr auf der Suche nach den Dingen bin, kommen sie zu mir – kleine Erlebnisse, Begegnungen. Ich habe das Gefühl, sie passieren mir nur, damit ich sie aufschreibe.
Ich bin neugierig, wohin mich das noch führen wird.

Der wahre Sieger
Tag 32

Er stürzt. Auf der Ziellinie. Im letzten Sprint berührt ihn sein Gegner mit dem Helm und bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Ich schreie, mein Mund gibt Wörter von sich, die ich mir sonst nie trauen würde, in der Öffentlichkeit auszusprechen. Ich pfeife den Gegner aus – zu sehr hatte ich dem Anderen den Sieg gewünscht. Welch dramatisches Ende auf der Bahn beim Sechstagerennen!
Da nimmt der Gestürzte das Mikrofon, spricht zu den aufgebrachten Zuschauern und sagt: „Es war ein fairer Kampf, er sei mit dem Rad weggerutscht, der andere ist der verdiente Sieger.“
Welch eine Geste! Er verliert das Rennen, aber die Herzen der Menschen.

Ich bin kein guter Verlierer. Als Kind war ich schnell eingeschnappt, habe geschimpft. Da flogen auch schon mal die Spielsteine durch das Zimmer.
Heute kann ich mich normalerweise besser beherrschen, verkneife ich mir öffentliche Gefühlsäußerungen. Ziehe mich zurück. Wettkämpfe spielen sich im Verborgenen ab, Neid kommt hinzu. Bin ich fair? Ich möchte perfekt sein. Ich will siegen.

Ich werde dieses Bild nicht los. Der Besiegte als Sieger - stürzen und gewinnen.
Vielleicht muss ich gar nicht perfekt sein.

Die Ruhe nach dem Sturm
Tag 33

Unter meinen Augen liegen dunkle Schatten. Meine Stimme ist heiser vom lautstarken Anfeuern. Ich bin traurig. Es ist der Tag danach. Der von mir so gefürchtete.
Der Fluss fließt weiter. Die Uhren gehen wieder im gewohnten Takt. In den vergangenen sechs Tagen rasten sie – so wie die Fahrer auf der Bahn. So wie das Adrenalin in meinem Blut. Nun kommen wir alle zur Ruhe. Die Uhren. Das Blut. Ich.
Ich hasse das. Möchte weiter feiern, mich lösen von mir. Will keinen Alltag. Ich will nicht warten. Ich bin ein Traumtänzer. Ich würde doch verbrennen, wenn ständig die Sonne glüht. Erst gemeinsam mit dem Schatten bin ich lebensfähig. Doch fällt es mir so schwer, das zu akzeptieren. Jedes Jahr aufs Neue.

Schweren Herzens lasse ich also die Ruhe in den Tag. Ich trinke einen Wein, schneide Zeitungsfotos aus und lebe diese Stunden mit den Bildern meiner Erinnerungen.
Bis zum nächsten Jahr…



Tag 34
Wie ein Baby in meinem Arm

„Ich warne Sie, ich bin nicht talentiert, habe bisher nur fachliche Schriften verfasst.“ So schreibt mir ein Bekannter, den ich bitte, über sein kleines Glück zu schreiben. Danach höre ich eine zeitlang nichts von ihm. Auf einer Veranstaltung treffen wir uns wieder. Er nimmt mich zur Seite, kommt dicht an mein Ohr, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen: „Ich werde etwas schreiben. Aber es wird wohl länger werden. Eine Kurzgeschichte. Und ich weiß nicht, ob das hier reinpasst.“
Ich bin total verblüfft. Freue mich. Seine Augen strahlen. Vielleicht brauchte er nur einen Anstoß, vielleicht gab ich ihm diesen. Ich bin neugierig und kann es kaum erwarten, die Geschichte zu lesen.
Nun liegt sie vor mir wie ein nacktes Baby. Und der Vater des Kindes sagt: „Ich habe mein Bestes getan, jetzt bist du dran, du hast doch schon Erfahrung, gebe mir Tipps.“ Ich halte das Neugeborene voller Glück, voller Ehrfurcht und Angst, etwas an ihm zu zerbrechen. Welche Verantwortung ich trage. Wie schnell kann ein falsches Wort von mir etwas im Keim ersticken, was so wunderbar am Aufblühen ist.
Der Text liest sich nicht schlecht, es gibt nur wenig Schwachstellen und ich fühle mich ziemlich schrecklich, als ich diese erkenne – bei anderen ist das so leicht… Sehr vorsichtig will ich es ihm sagen, möchte ihn führen. Schließlich hat sich hier ein Mensch geöffnet und ich erinnere mich, wie es mir erging, als ich meine erste geschriebene Geschichte aus den Händen gab.
Es scheint auch so viel auch von ihm darin zu sein, dass es mich rührt. Ich habe das Gefühl, er hat diese Geschichte schon viele Jahre in sich getragen und nun wurde sie geboren. Und ich bin vielleicht ein wenig Hebamme. Nun möchte ich auch eine gute Patin werden.
Morgen treffe ich ihn wieder und er wird mich mit großen Augen ansehen und von mir etwas erwarten. Ich bin aufgeregt. Ich bin dankbar.


Die Batterie ist leer
Tag 35

Es ist verrückt, kaum habe ich das erste Ziel erreicht, geht mir die Puste aus. Das Seil, auf dem ich balanciere, hängt durch – ich falle in eine Schlucht. An den rauen Felswänden finde ich keinen Halt. Es ist dunkel. Ich kann nicht schreiben. Ich bin ruhelos. Ich kann mich nicht bewegen. ‚Was soll das?’ will ich laut schreien, doch meine Lippen bleiben stumm. Warum erlebe ich nach einem Hochgefühl, nach einem besonderen Erlebnis solchen Absturz? Oder sollte ich einfach nur die Augen schließen, meinen Motor auf Schongang einstellen und warten, bis dieser Tag vergangen ist? Ich bin mutlos. Ich fühle mich so unwichtig. Alles, was ich mir vorgenommen habe erscheint mir wie glitzernde Schneeskulpturen, die beim ersten Sonnenschein dahin schmelzen.

Ich laufe. Ich laufe mir die Qual aus dem Herzen. Ich entferne mich von mir. Ich komme zurück zu mir. Ich will nicht ankommen. Ich treibe den Puls in die Höhe. Er verdrängt die Gedanken.
Und am Abend ziehe ich die Decke über den Kopf und denke: Manche Tage müssen wohl einfach nur so vergehen.
 



 
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