Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 38)

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Astrid

Mitglied
Eine echte Bewährungsprobe
Tag 38

Sie ist besser als ich. Das wusste ich vorher. Sie ist meine Freundin. Ich war nicht glücklich, als sie sagte, sie macht mit bei uns. Sie ist eine Bereicherung für unser Kabarett. Ich bin nicht neidisch. Nein wirklich. Ich gönne es ihr und bewundere sie auch, habe ja selbst Freude daran, ihr zuzusehen. Ich bin erst nach ihr dran. Ich bin verkrampft, bekomme die Betonung nicht hin. Der schauspielerische Leiter bemüht sich, mich in die richtige Stimmung für die Szene zu versetzen. Auch sie sagt etwas. Locker sitzt sie auf ihrem Stuhl. Ich erstarre innerlich. Plötzlich bin ich wieder das kleine Mädchen, das am liebsten gleich anfangen möchte zu weinen, weil es ausgeschimpft wird. Ich schlucke. Wut kraucht in mir hoch. Am liebsten würde ich mit dem Fuß aufstampfen, den Text auf den Boden werfen und abhauen. Ich versuche zu lächeln. Hilft wenig.
Wie oft bin ich früher geflüchtet. Nein, so schnell gebe ich nicht mehr auf! Ich kriege das hin. Tatsächlich, als wir die Szene das dritte Mal spielen, treffe ich den richtigen Ton, bin ich locker.
Die Probe ist beendet. „Du ich muss heute gleich los, wir telefonieren.“ Ich bin nicht böse, dass sie gleich geht. Auf dem Heimweg erzähle ich einem anderen Kabarett-Mitglied, einem Freund, dem ich vertraue, von meinen Ängsten. „Ist doch Quatsch! Nein, du darfst auf keinen Fall aufhören, du würdest ja auch fehlen!“
Ja ich würde fehlen. Es geht hier nicht nur um mich und meine verletzte Eitelkeit. Was bilde ich mir nur ein?
In der Nacht träume ich von ihr, wie sie mich ansieht, als ich spiele, wie sie kritisiert. Schweißgebadet wache ich auf.
Und ich denke an den Gestürzten beim Radrennen, der wahre menschliche Größe zeigte. Der gewann, weil er verlor. Es stimmt, ich muss nicht perfekt sein. Aber ich muss zu dem stehen, was ich tue. Ich werde sie anrufen.
 



 
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