Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 39-41)

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Astrid

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Eine rasante Fahrt
Tag 39

Es gibt sie also wieder in den Regalen – die Osterhasen aus Schokolade.
Dabei liegt auf den Gehwegen noch der Streukies vom Winter. Die Temperaturen schwanken. Nach einem Sonnentag setzt Schneeregen ein. Der Winter klammert. Doch sein erbitterter Kampf um jeden Tag geht im munteren Konzert der Vogelsänger unter.
Der Weihnachtsstern auf meinem Fensterbrett verliert die grünen Blätter, doch die roten halten sich tapfer. Neben ihm steht eine Primel.

Als ich nach einem Arztbesuch einen weiteren Termin vereinbaren will, blättert die Schwester im Kalender an der Wand. „Ja, bald ist Ostern“, meint sie, „das erste Quartal vorbei, dann kommt der Sommer und ehe wir uns versehen…“ Mir wird fast übel. „Noch eine schöne Woche“ wünsche ich und mache, dass ich rauskomme.
Es ist, als würde mir ein rasender Zug über die Füße fahren. Ich möchte abspringen oder auf dem nächsten Bahnsteig stundenlang auf einer morschen Bank sitzen…

Ich hole meinen Sohn von der Bahn ab. Ein schlanker junger Mann kommt mir entgegen. „Hallo Mutti, das ist ja eine Überraschung!“ Ich frage ihn: „Sage mal, warst du letzte Woche auch schon so groß?“
„Ach das kommt dir nur so vor, weil du eben kleiner wirst.“ Antwortet er und legt seinen kräftigen Arm auf meine Schulter. Und so stehen wir. Einen winzigen Moment. Der Große und die Kleine. Und der Zug bleibt stehen.

Lieber neunzig als einhundert?
Tag 40
Es ist mein zweiter Besuch bei der 100jährigen Nachbarin. Diesmal sind wir allein. Ich bin ein wenig unsicher, wie wir zurechtkommen. Ich bringe ihr Blumen mit. Sie schimpft darüber.
Sie schneidet den Kuchen an und sucht im Kühlschrank verzweifelt nach der Kaffeesahne. „Wenn ich nicht alles selbst mache, dann finde ich nichts mehr wieder“ schimpft sie nicht ganz ernst gemeint auf ihre Betreuerin. „Ich nehme auch Milch“ sage ich. Sie sieht mich an: „Das können Sie bei sich zu Hause tun, bei mir gibt es Kaffeesahne!“ Ihr Blick duldet keine Widerrede. Ich schmunzle über die kleine Dame, die auf ihren wackligen Beinen am Küchentisch steht. „Setzen Sie sich mal, ich mache das hier schon“ Ich muss sehr laut sprechen, dann versteht sie mich versteht. Ich hake sie unter bei den Schritten bis zu ihrem Sessel.
„Ich bewundere die Buntnesseln an Ihrem Fenster!“ sage ich. „Früher hatte ich die auch.“
„Sie können gern einen Ableger haben.“ Und schon steht sie wieder, humpelt zum Fenster und angelt nach einem kleinen Töpfchen. „Bitte, das können Sie mitnehmen!“ Ich wehre ab. „Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.“ „Nehmen Sie, was soll ich damit, ich habe doch genug.“

Als ich eine Vase für meine Blumen aus der Vitrine hole, sehe ich mich bei meiner eigenen Großmutter zu Hause. Auch sie hatte solch einen Schrank mit den zwei Schubladen unter dem Glasteil. Fotos von uns standen darin und kleine Andenken von der Ostsee.
Es ist ein bisschen, als würde ich sie wieder besuchen. Als würde ich das fortführen. Sie wurde nur neunzig.

Wir trinken Kaffee. Sie zeigt mir alte Fotos. Die meisten darauf leben nicht mehr. „Wissen Sie“, sie hebt den Kopf und sieht mich an, „alle sagen: oh, einhundert, was für ein tolles Alter! und Sie sind aber noch rüstig!“
Leise spricht sie weiter. „Manchmal kann ich das nicht mehr hören. Warum muss ich das erleiden, dass ich so alt werde? Es ist schlimm, wenn die Kräfte nachlassen!“ Wir schweigen. In diesem Moment denke ich, ‚es ist vielleicht gut, Oma, dass du vorher gegangen bist.’



Schenken ist leicht, Annehmen so schwer
Tag 41

Das Töpfchen mit dem Buntnessel-Ableger steht noch immer bei der alten Dame.
Ich erzähle einem Freund von meinem gestrigen Besuch. Auch dass ich diese Pflanze unbedingt mitnehmen sollte.
„Und warum hast du nicht?“ fragt er. „Zum Schluss habe ich es einfach vergessen. Aber es war mir auch sehr unangenehm. Ich gehe doch nicht zu ihr, weil ich etwas bekommen möchte.“
Er schaut mich an. Lächelnd. Ermahnend. Väterlich. Kopfschüttelnd. „Meine Liebe. Du gibst gern, tust es von Herzen. Das Glück, das du dabei empfindest, solltest du auch deiner Nachbarin gönnen!“

Ich denke lange darüber nach. Mein schlechtes Gewissen, mein unangenehmes Gefühl, hat mich nicht sehen lassen, welche Freude sie daran hatte, mir etwas zu geben. Nun schämte ich mich fast dafür. Und dachte wieder an meine Großmutter. Nach einem Besuch bei ihr fuhr ich meist mit einem gefüllten Rucksack nach Hause. Sie hatte viele nützliche Dinge für mich gesammelt und zurückgelegt – Briefmarken, Kaffee, eine Büchse Gulasch, eine Tüte Spirelli. „Dann hast du gleich ein Mittagessen“ höre ich sie sagen. Auch wenn ich alles gut brauchen konnte, behagte mir das Einpacken nicht und ich wollte es stets möglichst schnell hinter mich bringen. Manchmal sagte ich sogar: „ich wollte eigentlich nicht so viel tragen…“ Heute möchte ich weinen bei dem Gedanken daran. Es war doch ihre Freude. Ihre große. Es war ihr Moment. Den ich so wenig würdigte. Ich würde alles darum geben, wenn ich das wieder gut machen dürfte.
Vielleicht kann ich es ja - bei den Menschen, mit denen ich heute zusammen bin. Meinen Eltern, Freunden, der alten Dame. Ich lege ihr ein paar Zeilen in den Briefkasten. Dass ich einen angenehmen Nachmittag bei ihr hatte und die Pflanze einfach vergaß. „Bei meinem nächsten Besuch aber nehme ich sie gerne mit. Danke.“
 



 
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