Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 8 u. 9)

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Astrid

Mitglied
Die Orgelvesper
Tag 8

Es ergreift mich jedes Mal aufs Neue, wenn die ersten Töne der Orgel erklingen. Ich schließe die Augen. Ich spüre die Musik auf meiner Haut und die tiefen Klänge wie Pulsschläge meines Herzens. Der Tag beginnt sich von mir zu lösen. Seine Stunden ziehen an mir vorüber; Menschen, denen ich begegnet bin, schwingen auf den Flügeln der Musik noch einmal an mir vorbei. Bilder entstehen in meinem Kopf, Texte. Es ist, als riefe mir jemand die wunderbarsten Worte zu und ich müsste sie nur noch aufschreiben. Doch die Musik trägt mich weiter. Ich bin angekommen.

Heute spielt Natalie. Ich sehe, wie ihre Hände über die Tasten streichen, wie ihre Finger springen, je nachdem wie es die Noten erfordern. Ich sehe, wie sie ihre lockige Mähne dabei in den Nacken wirft und völlig versunken ist in ihrem Spiel. Ihre Finger tanzen Ballett auf den Tasten und erst am Ende der Musik taucht sie auf wie nach einer langen Reise. Dann strahlt sie, als würden in ihren Augen Kerzen brennen.

Wir waren eine kleine Gruppe von Menschen, die ihr heute zugehört hatten. Wir waren Reisende. Für kurze Zeit rasteten wir auf dieser Insel, füllten unsere Vorräte auf, um dann wieder hinauszuschwimmen auf das Meer. Doch wir wussten, dass uns Natalie immer wieder Zugang zur Insel gewähren würde.

Ob sie wusste, wie viel das wert war?

Aufgetaucht
Tag 9

Es ist Sonntag. Ich bin immer noch dabei, mich mit diesem Tag anzufreunden, jede Woche aufs Neue. Denn die Straßen sind oft menschenleer, die Geschäfte geschlossen, Menschen nehmen eine Auszeit vom Alltag. Lange Zeit kam ich damit überhaupt nicht zurecht, fühlte mich wie ein Taucher unter Wasser, dem nur noch wenig Luft blieb. Weil ich diese Ruhe nicht aushielt, weil ich die Maschinerie des Alltags brauchte, nicht abschalten konnte.
Weil es mitunter schwerer ist, sich ehrlich eine Pause zu gönnen, als durchzuarbeiten? Doch auch ein Taucher kann nicht ununterbrochen unter Wasser bleiben. Er muss auftauchen.

So ist also heute mein Auftauchtag und ich erinnere mich an Dinge, die ich nur schwer unter Wasser tun kann: Lesen, einfach nur dösen oder in den Himmel schauen, sinnlos viel Zeit vor dem Fernseher verbringen, stundenlang telefonieren, gar nichts tun…

Manchmal gehe ich sonntags abends durch die Straßen und versuche mir vorzustellen, was für ein Tag es für die Menschen war, die hinter den erleuchteten Fenstern wohnten.
Und dann spinne ich mir Geschichten aus. Vielleicht sogar eine von einem Taucher, dem es unter Wasser so gut gefiel, dass er vergaß, rechtzeitig Luft zu holen und der nur durch eine dramatische Aktion in letzter Minute gerettet werden konnte.
 



 
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