Ungewissheit

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Tine

Mitglied
Feierabend, ich sehe auf mein Handy, mehrere Nachrichten.

„Ruf mich an, sobald du das ließt. Es ist etwas Schreckliches passiert.“

„Ruf zurück, es ist etwas Furchtbares geschehen.“

„Ruf mich sofort an, noch bevor du die anderen anrufst.“

Ich verharre im Moment der Ungewissheit, im Augenblick in dem „es“ noch nicht geschehen ist, in der letzten Sekunde, in der alles in Ordnung ist. Ich wähle, ich rufe an.
 

Duisburger

Mitglied
Das kann der Anfang einer Geschichte sein, doch keinesfalls ein fertiges Werk.
Da fehlt alles, was eine gute Geschichte ausmacht. Es gibt keine Einleitung, keinen Spannungsbogen, keinen Schluss (was ist den nun die schreckliche Nachricht?).

Als Leser bleibe ich hier ratlos zurück.
 
D

Dominik Klama

Gast
Geht an sich in Ordnung. Ich als Leser bin zwar immer eher sauer auf den Autor, dass er mir die Tatsache, dass er keine Lust hat, besonders viel zu arbeiten auch noch als "gewitzt" anzudrehen versucht und dafür gemocht werden will... Geht aber an sich in Ordnung: einige Züge einer Geschichte andeuten, um sie dann zu verweigern. Herr Peter Bichsel kokettierte sein halbes Leben damit, dass er das tat.

Daniel Kehlmann hat in diesem "Ruhm", diesem Zwischending aus Kurzgeschichtensammlung und Roman, also dieser etwas willkürlichen Versammlung unterschiedlicher Protagonisten und unterschiedlicher roter Fäden, die sich hin und wieder alle mal "Hallo" sagen, einen Seicht-Literaten aus Brasilien, dessen Name man weltweit an den Kiosken liest, entweder als Buchautor oder in einer Schlagzeile auf einer Zeitschrift. Dessen Bücher handeln offenbar stets davon, wie man ein "gutes Leben" führt, wie man sich glücklich und zufrieden und aufgehoben auf der Erde fühlt. Er selbst betreibt das aber ganz zynisch, er weiß genau, dass es eine Masche ist, die sich blendend verkauft und die ihn reich macht. Nun erhält er aus der tiefsten brasilianischen Provinz den Brief einer eher naiven und sehr gläubigen Frau, die ihn bestärken will in seinem Tun. Und erkennt, dass diese Frau das alles, was er schon lang nicht mehr glaubt, tatsächlich glaubt und daher wirklich glücklich ist, während er, der alles hat, es nicht ist. Da nimmt er eine Pistole, richtet sie sich vor die Stirn, drückt aber nicht gleich ab, sondern überlegt ... Wie werden sie wohl drauf reagieren, wenn er jetzt abdrückt, wenn er morgen tot ist? Was werden sie über ihn schreiben? Wie werden sich die Bücher verkaufen? Werden Leser wie die Briefschreiberin sich dann von ihm verraten vorkommen?

Das war die Geschichte. Ob er abdrückt oder nicht, steht nirgendwo.

Das Problem dabei ist nur: Ich, als Leser, glaube es nicht. Ich glaube nicht Daniel Kehlmann, weil ich nicht glaube, dass ein einzelner Fanbrief einen so großen Medienstar dermaßen erschüttern kann. Und ich glaube nicht dir: Drei Leute rufen an und sagen, es sei etwas ganz Schlimmes passiert. Da glaube ich einfach nicht, dass keiner nur die geringste Andeutung macht, worum es sich in etwa handelt. Jemand sagt, ruf erst mich an, bevor du sonst jemand anrufst. Ohne dafür einen Grund zu nennen ("Ich muss dir erst noch was sagen, was sonst noch keiner weiß.") oder konkret vor dem Kontakt zu einer anderen Person zu warnen: "Sprich zuerst mit mir! Auf keinen Fall mit deinem Bruder, der dreht jetzt schon durch. Hast du Bargeld im Haus?"

So was. Ist doch auch nett.
 

Paloma

Mitglied
Hallo Tine,

du bist ja noch ganz neu hier, deshalb erst mal: Herzlich Willkommen in der LeLu und lass dich nicht verunsichern, eigentlich ist es schön hier. ;)

Eine Miniatur, die noch zu überarbeiten ist, wie ich meine.
Die Texte der „mehreren“ Nachrichten, kannst du kürzen.

„Ruf mich an, sobald du das liest (nicht [red]ließt[/red]).“ „Etwas Furchtbares ist geschehen.“ „Es ist etwas Schreckliches passiert.“

Dann hast du schon mal die ganzen Wiederholungen raus.

Und auch der letzte Satz geht noch kürzer, einfacher:
Ich verharre in der letzten Sekunde, in der meine Welt noch in Ordnung ist, bevor ich wähle.

Das der/die Prota. dann auch anruft, kann man wohl als selbstverständlich vorauszusetzen.

Ein anderes Problem ist allerdings die Perspektive. Dein/e Prota. kann nur vermuten, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist. Die SMS könnten auch ein dummer Streich sein oder an die falsche Adresse geschickt worden sein, oder … oder …
Und es ist auch fraglich, ob er/sie bei so einer Nachricht erst mal weiterliest, wer sonst noch alles gesimst hat, oder gleich zurückruft.

Du siehst, da ist noch Arbeit angesagt.

Liebe Grüße
Paloma
 

Val Sidal

Mitglied
Tine,

ein erstes, intuitives Lesen ergibt einen unsinnigen Inhalt:

ErzählerIch hat Feierabend, die (wie man unterstellt, an ihn gerichteten) Nachrichten beziehen sich auf das Schreckliche (aber Vergangene) und fordern den zukünftigen Anruf.



ErzählerIch verharrt im [blue]Moment[/blue] (eigener) Ungewissheit (die Nachrichten sagen nicht, worum es geht), und (unterstellt: im selben)[blue] Augenblick[/blue] als „es“ (als nicht wirklich das vorhin eingeführte es, sondern ein Was-auch-immer So-zu-sagen-es noch nicht geschehen ist, in der letzten [blue]Sekunde[/blue] …

So gelesen, ist das Mist!

Verwerfe ich meine Annahmen, z.B. in dem ich mir ein Chat-Room vorstelle, und/oder, dass die Nachrichten gar nicht an den ErzählerIch gerichtet sind, und/oder, dass er die Nachrichten sich selbst gesendet hat, und/oder so weiter ..., dann bekommt der Text einen Sinn: einen beliebigen, dem Leser vollständig überlassenen Sinn.

Und so was ist nicht Literatur, sondern joke -- literarisch: Mist.
 

Tine

Mitglied
Feierabend, ich sehe auf mein Handy, mehrere Textnachrichten.

„Ruf mich an, sobald du das ließt. Es ist etwas Schreckliches passiert.“

„Ruf zurück, es ist etwas Furchtbares geschehen.“

„Ruf mich sofort an, noch bevor du die anderen anrufst.“

Ich verharre im Moment der Ungewissheit, im Augenblick in dem „es“ noch nicht geschehen ist, in der letzten Sekunde, in der alles in Ordnung ist. Ich wähle, ich rufe an.
 

Tine

Mitglied
Feierabend, ich sehe auf mein Handy, mehrere Textnachrichten.

„Ruf mich an, sobald du das liest. Es ist etwas Schreckliches passiert.“

„Ruf zurück, es ist etwas Furchtbares geschehen.“

„Ruf mich sofort an, noch bevor du die anderen anrufst.“

Ich verharre im Moment der Ungewissheit, im Augenblick in dem „es“ noch nicht geschehen ist, in der letzten Sekunde, in der alles in Ordnung ist. Ich wähle, ich rufe an.
 

Tine

Mitglied
Hallo ihr Lieben,

ich danke euch für euer aufmerksames Lesen und bin überrascht, dass mein kurzer Text in so kurzer Zeit eine so umfangreiche Reaktion ausgelöst hat. Eure Kritik werde ich für weitere Texte im Hinterkopf behalten. Doch gerade dieser Text liegt mir in dieser Form sehr am Herzen, deshalb werde ich ihn,so wie er jetzt ist, stehen lassen. Auch wenn er nicht gefällt, scheint er doch sehr zum Nachdenken angeregt zu haben.
 
E

eisblume

Gast
Hallo Tine,

(gute) Kurzprosa zu schreiben, ist ein recht schwieriges Unterfangen, (gute) Kürzestprosa ungleich schwerer. Um das zu erreichen, müsste an deinem Text noch überarbeitet und gefeilt werden; Potential nach oben wäre vorhanden.

Mit so einer Antwort/Reaktion
Doch gerade dieser Text liegt mir in dieser Form sehr am Herzen, deshalb werde ich ihn,so wie er jetzt ist, stehen lassen.
auf berechtigte Kritiken (die z. T. in ihrer Form aber etwas recht harsch daher kommen) erübrigt sich natürlich jede weitere Form konstruktiver Kritik. Zudem erweckt es zumindest bei mir den Eindruck eines autobiographischen Hintergrundes und in so einem Fall lasse ich ohnehin die Finger davon :)

Freundliche Grüße
eisblume
 



 
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