Unglückstage

Es war Samstag, der 23. Dezember, der Tag vor Heiligabend. Linda ging mit gesenktem Kopf die Straße entlang. Wahrscheinlich würde es zu Hause Ärger geben, weil sie trotzdem auf Melissas Weihnachtsfeier gegangen war, obwohl Lindas Mutter es ihrer Tochter verboten hatte. Dabei war es bloß eine harmlose, kleine Feier gewesen. Mit Adventskranz, Keksen und Gemütlichkeit – mehr nicht. Ihre Mutter hatte irgendetwas von „Glühwein“ und „Alkohol“ gefaselt und ihrer Tochter dann verboten dorthin zu gehen. Damit wäre Linda die einzige aus der Clique. Sie hatte gebettelt, geflucht und gedroht, doch ihre Mutter gab nicht nach. Kurzerhand war Linda einfach heimlich zu Melissa gegangen. Die Mädchen hatten kleine Geschenke ausgetauscht, Tee getrunken, Kekse gefuttert und sich ihre sehnlichsten Weihnachtswünsche erzählt.

Linda wünschte sich schon seit langem ein wunderschönes, blaues Kleid. Oft starrte sie stundenlang das Bild im Katalog an und stellte sich vor wie sie in diesem Kleid aussehen würde. Linda war ein hübsches 16-jähriges Mädchen: blaue Augen, dunkelblonde Haare, schlanke Figur, gerade Nase, schmaler Mund. Trotzdem schien Sven sie nicht zu beachten. Linda war schon seit langer Zeit in ihn verliebt. Immer wenn sie an ihn dachte, breitete sich ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Bis jetzt hatte Sven nur hin und wieder mit ihr gesprochen, aber wenn Linda nur endlich das Kleid besäße! Dann, ja dann würde er sich sicher in sie verlieben.

Linda seufzte. Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Heute war wirklich ihr Unglückstag. Erst hatte sie sich so heftig mit ihrer Mutter gestritten, dann war ihr auf dem Rückweg von Melissas Feier der Bus vor der Nase weggefahren, sodass sie nun zu Fuß gehen musste und jetzt das! Linda zog den Jackenkragen hoch und stapfte weiter am Straßenrand entlang. Noch einmal gingen ihr die Worte ihrer Mutter durch den Kopf: „Manchmal wünsche ich mir, es würde dich nicht geben!“, hatte sie wütend geschimpft. Linda hatte ihr den Mittelfinger gezeigt und war in ihr Zimmer gestürmt. Zornig kickte sie einen Stein vor sich her und stellte sich schon mal auf eine Strafpredigt ihrer Mutter ein. Von hinten näherte sich ein Auto, doch Linda ignorierte es. Das Motorengeräusch wurde jedoch rasch lauter. ‚Der fährt doch viel zu schnell!’, dachte sie. Linda drehte sich um, konnte aber im ersten Moment nichts erkennen. Sie blinzelte und sah dann, dass der Autofahrer seine Scheinwerfer nicht angestellt hatte. ‚Hat der denn keine Ahnung wie gefährlich das hier sein kann?’ Lindas Augen funkelten aufgebracht. Das Auto kam rasend schnell näher. Plötzlich sah sie, dass es viel zu nah am Rand fuhr. Sie wollte sich noch zur Seite werfen, doch es war zu spät. Das Letzte was Linda sah, waren aufblitzende Autoscheinwerfer, dann spürte sie wie ihr Körper gegen etwas Hartes schlug... Jetzt war auf einmal alles ganz leicht, sie schien zu fliegen...
Und kam hart auf dem Boden auf.
Linda stöhnte auf. Ihr tat alles weh und sie konnte sich nicht bewegen. ‚Mama!’, schrie Linda lautlos. Und dann fielen ihr wieder die Worte ihrer Mutter ein: „Manchmal wünsche ich mir, es würde dich nicht geben!“ Tränen liefen ihr über das kalte, bleiche Gesicht... oder war es nur der Regen? ‚Dein Wunsch geht in Erfüllung, Mama!’, dachte Linda noch und dann schloss sie die Augen.
 



 
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