Unter Freunden

Maribu

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Unter Freunden

Wir trafen uns, wie immer, eine halbe Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt. Die Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs hatte ihren separaten Raum zur Verfügung gestellt.
Damals waren wir nicht nur Kameraden, sondern befreundet gewesen. Die Gründung einer Familie hatte auch dazu beigetragen, dass wir uns aus den Augen verloren haben und uns nur zu den turnusmäßigen Klassentreffen wiedersahen.

"Mir kommt es noch gar nicht wie fünf Jahre vor", sagte Alfred.

"Das ist im Alter so!", erwiderte ich. "Man hat das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht."

Das Bier wurde serviert, und wir prosteten einander zu.

"Auf ein paar schöne Stunden!" wünschte Alfred. "Werner, unser Organisator, sagte mir am Telefon, dass wir Dreiundzwanzig werden. Acht haben abgesagt."

"Das ist normal. Immerhin treffen wir uns heute das neunte Mal. Wenn wir Glück haben, schaffen wir in fünf Jahren unser Jubiläum."

Alfred schüttelte den Kopf. "Wir sollten das verkürzen und uns alle zwei Jahre oder sogar jährlich treffen!"

"Ja, wenn man bedenkt, dass wir neunundvierzig in der Klasse waren, sollten wir nachher darüber abstimmen."

Nach einem kurzen Schweigen nahm Alfred das Gespräch wieder auf. "Fällt deiner Frau auch alles so schwer und ist sie schon morgens beim Frühstücken unzufrieden und nörgelig?"

"Nein, sie hat sich nie beklagt. Seit drei Jahren frühstücke ich allein."

"Oh, ist sie..."

"Ja, sie ist..."

"Du hättest mich anrufen können!"

"Hast du mich angerufen?"

"Ja, du weißt doch: 'Hätte, hätte...' Jeder muss mit seinen Schwierigkeiten klar kommen. Man hofft auch, dass sich einiges von selbst wieder normalisiert."

"Was habt ihr denn für Probleme?"

"Hausgemachte. Rita meint, dass ich sie nicht genug unterstütze und nur meinen Hobbys nachgehe. Das mag jetzt ja stimmen, aber es hat auch seinen Grund: man kann ihr nichts gut genug machen! Ich will ja gar nicht gelobt werden, aber dieses ewige Kritisieren muss ich mir nicht antun!"
Er sah mich an, als erwartete er eine Bestätigung.

"Gib mir erst mal einige Beispiele!"

"Wenn ich Staub gewischt habe, kontrollierte sie und fand garantiert noch welchen, den ich übersehen hatte. Wenn ich Wäsche auf den Ständer gehängt habe, hat sie die meisten Teile wieder umgehängt. - Als wenn das für das Trocknen nicht vollkommen egal ist, wie herum ich Strümpfe aufhänge?!
Nach dem Staubsaugen sagte sie oft. 'Die Mitte macht sich von alleine! Vergiss die Ecken nicht!'"

"Hast du die Ecken denn vergessen?"

"Selbstverständlich nicht!"

"Wie lange geht das bei euch schon so?"

"Über ein Jahr."

"Und seitdem bist du beleidigt und machst gar nichts mehr!", folgerte ich.

Er nickte.

"Und jetzt?"

"Wir öden uns ziemlich an und haben keinen Gesprächsstoff mehr.
Abends sitzen wir schweigend vor der Glotze. Manchmal blickt sie mich an, als ob sie mich hasst."

"Könnte es sein, dass sie jetzt Kinder und Enkelkinder vermisst?"

"Nein. Ich glaube, ihre Hormone spielen verrückt!"

"Ihre Hormone? Es ist wohl eher ein Mangel! - Ist sie denn in ärztlicher Behandlung?"

"Ja, aber der Internist hat weiter nichts gefunden. Ihr Blutdruck ist zu niedrig. Aber die verschriebenen Tabletten nimmt sie nicht ein wegen der Nebenwirkungen. Sie meint, sie normalisiert ihn anderweitig."

"Anderweitig?" Mir kam ein skurriler Gedanke. "Wie geht es ihr
nach eurem Zoff?"

"Danach ist sie ganz gut drauf. Fast entspannt."

"Kann es sein, dass du ihre 'Medizin' bist?"

"Wie meinst du das?"

"Wenn sie sich über dich ärgert, normalisiert sich ihr Blutdruck!"

Ich rechnete mit einem Lachen. Alfred aber sagte: "Ich glaub, du bist verrückt! Ich hatte von dir einen vernünftigen Ratschlag erwartet!"

"Einen Rat kann ich dir nicht geben, aber vielleicht einen Trost?! Ich habe den ganzen Tag über das Radio an, damit ich wenigstens Stimmen höre. Deine Probleme hätte ich gerne!"

"Wieso bist du allein? Du hast doch sogar Enkelkinder!"

"Ja, aber Frankfurt ist mal nicht eben um die Ecke!"

"Das ist doch heutzutage gar kein Problem mehr! Es werden doch so viele Billigflüge angeboten!"

"Ja, für sieben Euro fünfzig auf der Tragfläche!", entgegnete ich wütend. "Die haben selber ihre Sorgen. Sie haben drei Kinder. Eins ist behindert. Mein Sohn arbeitet im Schichtdienst bei einer Sicherheitsfirma und meine Schwiegertochter jobbt halbtags, damit sie die Miete für die Vierzimmer-Wohnung bezahlen können."

"Da sitzen sie ja schon, die Unzertrennlichen!" Es war Werners
Stimme aus der Dreiergruppe, die fröhlich auf unseren Tisch zusteuerte.

"Wir sollten unser Gespräch jetzt abbrechen", sagte ich. "Du hast uns doch ein paar schöne Stunden gewünscht."

Alfred trank sein Glas leer und erwiderte: "Ja, 'abbrechen' ist das richtige Wort. Glaub man nicht, dass du mir so davonkommst! - Ich werde dich nächste Woche besuchen!"
 



 
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