Unternachtfragmente

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nisavi

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Die Unternachtfragmente

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Wenn sie die Augen schließt, was ihr nicht schwer fällt, hier, im gleißenden Sonnenlicht, sieht sie sich selbst – neben einem untersetzten Typen auf einem überdimensionalen, palmenbedruckten Strandlaken liegend. Sie fragt sich dann, ob sie das Ferienhaus abgeschlossen hat. Sie denkt an ihren Schmuck, an das Geld in der Reisetasche, an Zeitungsmeldungen und an den Vermieter. An ihren Vater. Und idiotischerweise an den Hund der Nachbarin.
Sie versucht, sich selbst zu beruhigen und Zugehörigkeit zu demonstrieren, indem sie ihren Kopf auf dem weichen Oberarm ihres Begleiters platziert. Dieser jedoch, rückt ärgerlich brummend ab. Der Mann richtet die gut genährten Gliedmaßen noch einmal bedächtig aus und beginnt kurz darauf, tief und gleichmäßig zu atmen. Als er schließlich schnarcht, erhebt sie sich leise und eilt im Schatten der Dünen davon.
Im Vorübergehen nimmt sie sich eine Handvoll Glaskiesel vom Wegesrand. Sie hätte auch von den blauen Edelsteinen nehmen können. Oder den roten. Vom Goldstaub.
Sie wählt Glaskiesel, weil sie glatt und kühl sie in der Hand liegen wie die Kindheit. Weil die Welt weich wird, wenn man durch sie hindurchzusehen sucht. Weil sie wie Wasser sind: hell hund silberfarben.
Sie eilt an einem bärtigen Mann vorbei, der ein Holzkreuz schnitzt. „Gestorben wird immer!“, ruft er ihr gutgelaunt zu.
Die Glaskiesel knirschen leise, wenn sie sich in den Handflächen berühren.
Das schilfgedeckte Haus ist verschlossen. Natürlich. Sie hätte es wissen müssen, denkt sie. Im Geiste verflucht sie ihren Zwang zur Kontrolle. Sie wird zurückgehen zum Strand. Sich auf das Laken neben den Übergewichtigen legen. Die Augen öffnen. Auch, wenn es nicht leicht fällt. Im gleißenden Sonnenlicht. Und lächeln. Über sich selbst. Und die anderen.

Über die Bedeutung eines Wortes

Das Zimmer im Hinterhof war eine Notlösung gewesen. Es lag zu ebener Erde.
Die Einrichtung: dürftig und überschaubar. Ein Schrank, ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle.
Eine Tür führte in einen Garten hinaus. Links stand ein mächtiger Baum, dessen weiße Blüten dem Wind entgegenwuchsen. Keiner kannte seinen Namen und auch, ob die spät im Jahr reifenden Früchte essbar waren, vermochte niemand zu sagen.

Sie durfte nicht davon reden, dass sie den Garten schon seit Anbeginn der Zeiten kannte. Die Augen des Mannes hatten sie inständig darum gebeten. Sie wollte niemanden verletzen. Aber einmal kroch ihr ein Wort über die Lippen. Ein verräterisches Wort, das von ihr erzählte. Weil dieses Wort da war, war da auch die Vergangenheit. Im Hier. Und jetzt wurde ihr das Herz schwer und sie sammelte wieder und wieder die heruntergefallenen Blütenblätter in ihre Schürze. Immer neue Blüten fielen neben ihr ins Gras.

Sie wünschte sehr, sie könne in den Raum zurückgehen. Sich auf einen der Stühle setzen und einfach in den Garten hinausschauen.

Ihre Hände griffen derweil in die Luft, um die herumwirbelnden Blätter zu fangen. Sie griffen ins Leere.

In Angst

Als es mitten in der Nacht an der Tür klingelt, erschrickt sie. Ihr Mann erhebt sich aus dem Bett, entriegelt hastig die Wohnungstür und stürzt hinunter in den Hausflur.
Sie hört Stimmen, Keuchen und das blecherne Scheppern der Briefkästen.
Auch der alte Vater ist vom Lärm wachgeworden. Er steht jetzt hinter ihr im zerknitterten Schlafanzug. „Schließ die Tür“, fordert er leise und nachdrücklich. Er langt nach der Kette. Schon hört sie, wie mehrere Personen nach oben gerannt kommen. Sie weiß nicht, was sie tun soll.
Dann aber drückt sie mit aller Kraft die Tür zu und dreht den Schlüssel im Schloss. Gerade noch rechtzeitig.
Von Außen wird geklopft, geschrien und gehämmert. Mehrere Männer sprechen in einer Sprache miteinander, die sie nicht versteht.

Unverständliche Dialoge

Sie (beschwichtigend): „Manchmal ist die Nacht eben nur eine Nacht.“

Er: „Ja. Man fällt mit ihr durch ein Sieb und es bleibt nicht einmal Schwärze zurück.“

Sie: „Nur ein Geräusch, das man erst bei Tageslicht versteht.“

Er: „Weißes Tuch, das sich in den Apfelbäumen verfangen hat. Auf einmal hört man es.“

Sie: „Dieses Geräusch. Es umfängt einen wie ein viel zu großer Mantel, der nicht wärmt."


Voraussicht?


§ 5

Bewerber, bei denen veränderte ATM-Gene festgestellt werden, kommen für eine Tätigkeit in unserem Unternehmen nicht in Betracht.
 

Karinina

Mitglied
zur Geschichte

Für meine Begriffe ist es ein perfekter Text, vom Stil her, sofern man das trennen kann, denn den Inhalt habe ich zwar formal verstanden, aber nicht das Innere. Vielleicht wird es noch, denn ganz gewiss werde ich es wieder lesen...
Grüße für Dich
Karinina
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Nisavi,

Erfreulicherweise mal ein Text, der nicht platt und unbedarft zusammengestümpert ist. Er liest sich schön, enthält einige sehr poetische Passagen, an manchen Stellen jedoch war ich zunächst ganz angetan, doch dann stutzte ich, las den Satz noch einmal, weil ich an einer Unebenheit hängen geblieben war; irgend etwas am dargebotenen Bild war nicht stimmig.

So etwa enthält der erste Satz eine hübsche, unerwartete Wendung: „Wenn sie die Augen schließt, … sieht sie sich selbst …“, verursacht mir als Ganzes aber auch ein Unbehagen, denn er ist zu banal: „Wenn sie die Augen schließt, was ihr nicht schwer fällt, hier, im gleißenden Sonnenlicht …“. Normalerweise fällt es niemand schwer, die Augen zu schließen, ob im Sonnenlicht oder nicht, es sei denn, die Person ist von einem Anblick gefesselt, z.B. über etwas erstaunt oder über alle Maßen entsetzt – oder wenn es am Augenmechanismus einen Defekt oder eine Einwirkung von außen gibt.

Und sonst machte mir dein unbekümmertes Aussparen von wichtigen Einzelheiten und (notwendigen!) Erklärungen einige Verständnisprobleme:

Da ich zum Glück weder ein Arzt bin noch von seltenen Krankheiten heimgesucht werde, wusste ich zum Beispiel nicht, was „veränderte ATM-Gene“ sind, musste also, da du weiter nichts erklärst, bei Wikipedia nachsehen und erfuhr, dass hier wohl von einer Chromosomenbrüchigkeit die Rede ist, die alle möglichen üblen gesundheitlichen Folgen haben kann. Damit ist mir jedoch noch längst nicht klar, was das erwähnte Syndrom mit dem Rest der Geschichte zu tun hat. Der Schluss wirkt auf mich, als hättest du ihn irrtümlich mitkopiert, obwohl er von einem ganz anderen Text stammte, von dem nur noch ein Bruchstück zufällig auf deinem Computer stehen geblieben war.

Ich rätsle natürlich auch, was der nächtliche Überfall zu bedeuten hat und ob er in irgendeinem Zusammenhang mit der Krankheit steht, zum Beispiel, weil die Leute Angst haben, dass es sich um etwas Ansteckendes handelt. Aber, falls ja, warum kommen sie dann nachts bzw. warum kommen sie überhaupt bis zum Haus, wo sie sich dort doch anstecken könnten? Wäre es da nicht logischer gewesen, von weitem die Fenster einzuwerfen?

Erklärungsbedürftig scheint mir auch, warum „ihr Mann“ die Tür aufmacht und zu der aggressiven Meute hinab rennt. Dass für diesen Teil ein Abschluss fehlt, man also nicht erfährt, ob sie ihn umbringen oder ihm nur die Zähne einschlagen, muss man dagegen wohl eher hinnehmen, ist halt so bei vielen Erzählungen.

Mehr als unklar auch dies: „Sie durfte nicht davon reden, dass sie den Garten schon seit Anbeginn der Zeiten kannte. Die Augen des Mannes hatten sie inständig darum gebeten.“ Soll (das mich störende, weil allzu banal übertreibende) „Anbeginn der Zeiten“ bedeuten, dass sie dort aufgewachsen ist und dass es sich z.B. um die ehemaligen deutschen Ostgebiete handelt, das Sudetenland oder eine andere Gegend, wo heute über Vertreibung besser nicht mehr gesprochen werden sollte? Und hängt der nächtliche Überfall also nicht mit der Krankheit zusammen, sondern mit dem Wort, durch das sie sich als eine ehemalige Bewohnerin der Gegend verraten hat? Aber wie wahrscheinlich ist das? Wird man in Polen oder der Tschechei angefeindet, weil man als Deutsche von dort stammt? Ist sie überhaupt eine Deutsche (ihr Sicherheitsdenken, ihre Art von Besorgtheit scheint so etwas immerhin nahe zu legen)? Falls nicht, warum sonst sollte sie ihre frühere Begegnung mit dem Landstrich, welchem auch immer (der Text liefert ja nur spärliche Anhaltspunkte) verheimlichen?

Schließlich frage ich mich, ob der fette Bursche neben ihr „ihr Mann“ ist, dem man später im Haus begegnet oder ob der Dicke ein Lover vom Ort ist, den sie sich am Strand angelacht hat und der sauer ist, als er sie beim Aufwachen nicht mehr neben sich auf dem Handtuch findet und der deswegen nachts mit einigen Kumpels loszieht und Rabatz macht.

Mir ist diese Geschichte zu sehr verrätselt. Nachdem ich sie gelesen habe, bin ich auch nicht ganz frei von dem Argwohn, dass deine Geheimniskrämerei womöglich nur ein eitler Mummenschanz ist, der Sinn und Tiefe vortäuschen soll, obwohl da eigentlich nichts ist, und du dich womöglich über die Rätselfreunde amüsierst, die sich ernsthaft mit deinem Text befassen.

LG,
Ofterdingen
 

Der Andere

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eine stimmungsaufnahme, ein bisschen rauschend, weil der sprecher mit den lippen das mikro berührt, ein bisschen surrealistisch, weil der spreche beim berühren des mikros etwas verändert, etwas umschreibt, etwas nachfühlt und nachspielt, echter, so, wie es dem ich vorgekommen ist. leider wird zum schluss eine krankheit mit ins spiel gebracht, die das verträumte zerstört, etwas mystisch schillerndes in unsere realität holt, etwas mystisch schillerndes mit matter farbe bemalt. leider wird auch hin und wieder zu viel nachgeschoben, beim versuch die blätter zu fangen zum beispiel, bei der einführung in den topos garten zum beispiel. ich würde grundsätzlich etwas die bremse fordern und ein wenig verdichten. formal sehr ansprechend, die freiheiten der kurzprosa gekonnt ausgenutzt. ein lob an den autor, mit dem wink, weiter zu wühlen.
 

nisavi

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hallo wipfel, karinina und derandere,

ich danke euch für eure rückmeldungen und die beschäftigung mit dem text.

ich weiß das zu schätzen, umso mehr, als mir bewusst ist, dass der text sich dem leser nicht auf anhieb erschließt.

über den tipp, bestimmte passagen noch einmal zu verdichten, werde ich nachdenken.

@heinrich von,

du hast deine leseeindrücke sehr ausführlich dargelegt, wofür ich ebenfalls danke. deine assoziationen finde ich sehr interessant. oft gehen sie in richtungen, die ich mit keinem gedanken intendiert hatte.

allerdings hält mich dein letzter passus, der mir eitlen mummenschanz und schadenfrohes kichern hinterm bildschirm unterstellt, schon davon ab, mit dir in einen dialog über meine intentionen zu treten. schade eigentlich, aber sei es drum.


lg
n.
 

Der Andere

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es geht glaub ich nicht hauptsächlich ums verdichten, eher darum, ein paar übertreibungen, ein paar formulierungen, die auf ein schönes bild noch mal etwas nachschieben/nachdrücken wollen. jene gilt es zu zügeln, damit die bilder weiter für sich stehen können. ab und an kommt so was ganz gut, aber nicht in der masse. ich hoffe ich konnte mich jetzt verständlicher machen.
 



 
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