Unterwegs.

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nisavi

Mitglied
Der Service hatte endlich den Koffer gebracht. Ein Page setzte ihn mitten im Zimmer ab. Ein erbärmliches, zerkratztes und verbeultes Ungetüm. Ohne jede Würde. Von den Hotelaufklebern, die es einst geziert und in den Gepäckadel erhoben hatten, waren nur noch einzelne Buchstaben zu erkennen. Schmuddelige Klebstoffflecken. Farbstreifen.

Wie hatte er es früher genossen, auf Tournee zu gehen. In der Weltgeschichte umherzureisen! Er liebte die großen Städte. Moskau, Paris, London, Rom. Aber auch die mondänen Kurbäder. Die Berge.

Mittlerweile jedoch waren ihm die ständigen Ortswechsel lästig. Sie strengten ihn an. Schwächten ihn. Während der Auftritte hatte er oft das Gefühl, die Kontrolle über den eigenen geschundenen Körper zu verlieren. Ohnmächtig zu werden. Es kostete ihn immer mehr Mühe, seinen desolaten Zustand zu verbergen. Der Manager wohnte den Vorstellungen misstrauisch bei. Mitleidige Blicke ruhten auf ihm.

An den Bars der Metropolen, in den Nachtklubs und Kneipen traf er wieder und wieder die gleichen blassgesichtigen Menschen, die ihm mit monotonen Stimmen aus ihren Leben erzählten. Stets unerfüllte Träume. Sehnsüchte. Lügen. Nicht gelebte Leben. Vergeudete Zeit. Sie widerten ihn an.

Die Hotelzimmer waren steril und kühl. Das Surren der Klimaanlagen hinderte ihn am Einschlafen. Nachts erwachte er oft, weil andere Gäste laut lärmend in den benachbarten Räumen feierten. Telefone klingelten. Wenn er abnahm, hatten sich die Anrufer meist verwählt.

Eigentlich war er jetzt mit den anderen im Restaurant zum Essen verabredet. Er hatte keinen Appetit, keine Lust auf belanglose Gespräche. Er wollte auf dem Bett liegen bleiben, so, wie er war. Die Vergangenheit und den Koffer im Blick. Vollständig bekleidet. Träge und dunkel. Er legte vorsichtig ein Bein über das andere. Verschränkte die Arme unter dem Kopf. Schloss die Augen. Atmete.

Hinter dem Fenster war das Meer. Selbst im Dämmerzustand wusste er, dass es nicht das richtige Meer war. Ebbe und Flut reichten nur von Rahmen zu Rahmen. Wenn er sich zu weit aus dem Fenster lehnte, würde er nicht ins Watt oder ins Wasser, sondern aus einem beginnenden Traum fallen. Ein in Hüfthöhe vor das Fenster genageltes Brett musste ihn davor bewahren. Seltsame Vorsichtsmaßnahme, dachte er. Aber wirkungsvoll.

Ein blondes Mädchen war bei ihm und redete sanft auf ihn ein. Sie zeigte ihm amtliche Dokumente. Sein Blick wanderte über die verschwimmenden Siegel und Stempel. Suchend. Zweifelnd. Er faltete ein eng beschriebenes Blatt auseinander und erkannte die Handschrift seiner Frau. Nach rechts geneigte Buchstaben, schwungvoll miteinander verbunden. Mühsam entzifferte er die Anrede, die ersten Sätze. Sie waren vertraut und zärtlich. Anspannung wich Erleichterung. Einen Moment lang. Dann trug ihn die einsetzende Flut zurück.

Er erwachte. Ging ins Bad, duschte und entnahm anschließend dem Kofferungeheuer frische Wäsche. Er zog sich an. Auf dem Weg nach draußen warf er einen Blick in den Spiegel. Blass sah er aus. Die anderen würden an der Bar auf ihn warten.
 
K

Kultakivi

Gast
Hallo nisavi

routiniert geschrieben.Meiner Ansicht nach ist es dir gut gelungen, wesentliche Bestandteile eines ganzen "Lebenskosmos" quasi wie unter der Lupe in einem stark vergrösserten Ausschnitt zu präsentieren. Guter Text.

Gruss

Kultakivi
 
B

Beba

Gast
Gefällt mir gut! Sehr schön flüssig geschrieben, und du schaffst eine Atmosphäre, in der man die Stimmung dieses Weltmenschen nachvollziehen kann.
Ganz besonders gut finde ich:

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An den Bars der Metropolen, in den Nachtklubs und Kneipen traf er wieder und wieder die gleichen blassgesichtigen Menschen, die ihm mit monotonen Stimmen aus ihren Leben erzählten. Stets unerfüllte Träume. Sehnsüchte. Lügen. Nicht gelebte Leben. Vergeudete Zeit. Sie widerten ihn an.
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... besonders in Verbindung mit dem Schluss als er in den Spiegel schaut und sich selbst als blass erkennt.

Ciao,
Beba
 



 
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