Unterwegs

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Ingwer

Mitglied
Ich steige an einem kleinen Provinzbahnhof ein, auf dessen Bahnsteig sich zwar keine Vorsicht-Nicht-Übertreten-Linie, dafür aber ein Hühnerstall befindet, und ich gehe so schief, als würde ich ein halbmetergroßes Kind an der Hand oder einen Hund am Halsband führen. In Wirklichkeit trage ich nur meinen Trecking-Rucksack.

Anscheinend steigt sonst niemand hier ein, zumindest nicht in dieses Abteil.
Es ist beinahe voll besetzt; kein Wunder: Je später der Sonntagnachmittag, desto müder die Sonntagsausflügler, desto lohnender das Wochenendticket, desto voller die Regionalbahnen. Ich bin schon lange unterwegs, ich weiß das.

Ich finde noch einen freien Platz in einem Vierer-Sitz und wuchte meinen Ruckack in eine möglichst wenig den Durchgang blockierende Position.
Glück gehabt. Nur die beiden Plätze mir gegenüber sind besetzt, ein betagtes Pärchen, farblich aufeinander abgestimmt. Ihre Haarfarbe passt buchstäblich haargenau zu seinem bläulichen Hemd.
Sie packt einen Apfel aus, Marke Schneewittchen. Weiß und rot. Akribisch genau schneidet sie mit einem kleinen Messerchen spiralförmige Apfelhaut vom hellen Fruchtfleisch.

Im Vierer nebenan sitzt ein frischvermehrtes Pärchen in Birkenstocks.
Vater, Mutter und zwei Kinder. Unter dem Sitz versteckt sich sicher auch irgendwo ein Hund oder zumindest ein Barbiepferd.
"Will auch Apfel", sagt das größere der beiden Mädchen und zeigt mit dem Finger auf die blauhaarige Frau gegenüber.
"Die Mama hat jetzt aber keinen Apfel. In einer Stunde sind wir zuhause, dann kannst du Apfel essen."
"Mammawielangdauerteinestundenoch?"
Das Mädchen zupft an Mamas Naturfaserärmel.
"Mamma."
"Mamma!"
Die Mutter seufzt.
"Ein bisschen kürzer als die Hinfahrt. Wir fahren immer eine Stunde und eine Viertelstunde lang zur Oma. Dauert also gar nicht mehr lange."
"Maaaaaamma!?"
"Was ist denn?"
"Willaberjetzapfel!"
sagt das kleine Mädchen und rutscht halb von ihrem Sitz, um mit einer theatralischen Geste mit dem Fuß aufstampfen zu können.
"Setzt dich sofort wieder hin. Du weckst die Tini. Und den Papa."
"Willaber."
Stampf.
Das Mädchen knottert weiter vor sich hin, aber leiser. Die Mutter wirft verstohlene Blicke in Richtung des Rentnerpaares, hoffte wohl auf verständnisvolle, weise Menschen, die ihren Apfel gerne teilen wollen. Ich glaube nicht, dass die beiden überhaupt etwas von dem Drama mitkriegen. Wenn man alt ist, kommuniziert man anders, jedenfalls dann, wenn man lange genug zusammen ist, um den Punkt des Schweigens und der Bettentrennung überwunden hat.
Die beiden sehen so aus. Seine faltige Hand liegt auf ihrem Bein. Ihre Blicke sind parallel aus dem Fenster gerichtet.
"Dann hast du eben Pech gehabt!"
Der Mamma gehen die Argumente aus.
"Schneid dir lieber eine Scheibe von deiner Schwester ab. Guck mal wie ruhig die schläft."
Schweigen. Das Mädchen knibbelt an den Fingernägeln. Schaut die Schwester an.
"Mamma?"
"Was ist denn?"
Wenn sie sich Mühe gibt, freundlich zu ihrem Kind zu sein, dann wohl vergebens.
"Mamma, wenn du Wurst kaufst, heißt das dann Aufschnitt, weil man vom Schwein eine Scheibe abschneidet?"
Ich pruste heraus, obwohl ich mich bemühe, das Lachen zu unterdrücken. Nicht schlecht, die Kleine. Hätte ich ein Messer, würde ich es ihr geben. Ich sehe schon die BILD-Schlagzeile:
"Mutter von Kind in Scheiben geschnitten."
Ein giftiger Blick trifft mich. Ich verstumme, ebenso wie das Mädchen.

Die Masse draußen ist grau. Grauer Himmel, graue Landschaft. Noch nicht mal Regentropfen bleiben an der Scheibe kleben, so dass das Auge irgendeinen Anker hätte. Nichts.
Früher reiste man, um sich zu bilden. Schreib Briefromane. Wurde reif durchs Reisen und bekam Hornhaut fürs Leben in den rumpeligen Zügen und Kutschen.
Meine Augen fallen mir beinahe zu. Die schwarzen Flecken überlagern das Grau immer länger.

Egal was man lange ansieht: Irgendwann ist man es satt. dann wandelt sich der Blick zu dem, mit dem man die Welt sieht, wenn man morgens zur Arbeit fährt, den gleichen Weg wie gestern und vorgestern und morgen, oder zu dem, mit dem man ein Bild betrachtet, dass schon jahrelang an der gleichen Stelle im Haus hängt. Oder der, mit dem man, wenn man Pech hat, seine Freundin morgens ansieht, kaum dass man mehr als ein paar läppische Monate zusammen ist. Egal, was man lange ansieht. Irgendwann sieht man es nicht mehr.
In Versuchen haben sie Leuten das ganze Blickfeld mit einer Farbe ausgefüllt.
Nach ein paar Minuten verschwindet sie. Dann ist nur noch Grau übrig.
Und Nebel, wie hier draußen.

Es kam irgendwann, in der Stadt. Ich war essen gewesen, in irgendeiner dieser Suppen- oder Sandwich-Bars, in denen man sich in der Mittagspause schnell hinter streifenfreies Fensterglas setzt, wie eine Schaufensterpuppe, sein Tablett auf das 20cm breite Board stellt und nach höchstens 10 Minuten wieder verschwindet, weil die Leute hinter einem schon Schlange stehen.
An diesem Tag saß ich dort, schaute nach draußen und mir wurde bewusst, dass ich nichts mehr sah.

Irgendwann wird es dunkel draußen. Die alte Frau packt eine Tupperdose aus, die bis obenhin mit Keksen gefüllt ist, hält sie ihrem Mann hin. Dann mir. Lächelt. Streckt ihren alten Arm in den Mittelgang und grinst das Mädchen an.
Im Zug geht das Licht an. Man sieht kaum noch durch die Scheiben nach draußen, weil sich das Innere des Zuges nun spiegelt.
Am Horizont eine Postkutsche. Vielleicht eine Wolke.
"Nächster Halt, Köln Hauptbahnhof. Dieser Zug endet dort."
 

Gabriele

Mitglied
Hallo Ingwer,
mir gefällt der Stil, mit dem Du Szenen und Menschen beschreibst, sehr gut. Manche Sätze finde ich besonders treffend, z.B.:
"frischvermehrtes Pärchen in Birkenstocks.
Vater, Mutter und zwei Kinder. Unter dem Sitz versteckt sich sicher auch irgendwo ein Hund oder zumindest ein Barbiepferd."
oder:
"Wenn man alt ist, kommuniziert man anders, jedenfalls dann, wenn man lange genug zusammen ist, um den Punkt des Schweigens und der Bettentrennung überwunden hat."

Folgende Stelle war für mich anfangs verwirrend:
"Er kam irgendwann, in der Stadt. Ich war essen gewesen, in irgendeiner dieser Suppen- oder Sandwich-Bars, in denen man sich in der Mittagspause schnell hinter streifenfreies Fensterglas setzt, wie eine Schaufensterpuppe, sein Tablett auf das 20cm breite Board stellt und nach höchstens 10 Minuten wieder verschwindet, weil die Leute hinter einem schon Schlange stehen.
An diesem Tag saß ich dort, schaute nach draußen und mir wurde bewusst, dass ich nichts mehr sah."

Erst nach mehrmaligem Lesen wurde mir klar, dass "er" der Moment ist, in dem der/die Prot. merkt, dass er/sie die vertrauten Dinge nicht mehr richtig wahrnimmt. Vielleicht kannst Du das noch klarer formulieren?
Sonst ein recht gelungener Text, finde ich.
Lieben Gruß
Gabriele
 

Ingwer

Mitglied
Liebe Gabriele,

ich danke dir für deine Auseinandersetzung mit meinem Text und für dein Lob. Und muss ein Missverständnis aufklären:
ER ist ein Tippfehler und heißt eigentlich ES.
Tschuldigung :)

Herzliche Grüße von
Ingwer
 
D

Denschie

Gast
Hallo Ingwer,
eine sehr schön erzählte Geschichte.
Anfangs irritierte mich die sehr amüsante Beschreibung
der Szene im Zug im Gegensatz zu dem ernsten Thema des
"nicht mehr sehen können".
Jetzt habe ich den Text ein zweites Mal gelesen
und merke, wie stimmig die beiden Teile sich lesen
lassen, wenn man sich auf deinen Gedankengang einlässt.
Mir gefällt es.
Gruß,
Denschie
 



 
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