Unvorstellbar

fynn

Mitglied
Nennen wir die Frau einfach Frau Ypsilon, auch wenn es nicht das ist, was sie zu dem macht, was sie heute ist – eine Frau. Eine ganz beliebige Frau, vorerst zumindest. Ihr Mann, Herr Ypsilon, hatte einst einen Namen, der zu einem großen mächtigen Mann gehörte, der die Welt ein Stückchen verändert hat. Leider ist Herr Ypsilon ziemlich klein und als Buchhalter einer Zehnmannfirma wohl eher bedeutungslos, so dass er bei seiner Heirat mit Frau Ypsilon dankbar ihren Namen annahm. Nur seine Mutter wirft ihm heute noch hin und wieder mangelnde Größe vor.
Das Kind Ypsilon zu nennen, hieße wohl die Beliebigkeit zu weit zu treiben und das besondere eines Kindes zu unterschlagen, deshalb nennen wir das kleine Mädchen Anna.
Der Tag an dem die Geschichte ihren Lauf nimmt, könnte auch ein beliebiger Tag X sein, doch solche Daten tun einer Geschichte niemals gut, deshalb entscheiden wir uns für den 11. Oktober 1997.

Ein sehr kalter Oktobermorgen, die Scheiben sind beschlagen von der Wärme die innen durch den Schlaf und das kochende Teewasser entstanden sind. Gedankenverloren steht Frau Ypsilon in der Küche, schmiert für Anna ein paar Brote, packt für ihren Mann ein Sandwich ein und für sich eine Tüte mit Lebkuchen. Natürlich ist es viel zu früh für Lebkuchen, aber Frau Ypsilon wartet schon so lange darauf, dass sie keine Sekunde gezögert hat, als sie das leckere Gebäck im Regal stehen sah. Wie schön es doch ist, erwachsen zu sein. Ein bisschen müde geht sie in das Zimmer ihrer Tochter, weckt sie vorsichtig und genießt es, das schlaftrunkene Kind hochzuheben und in das heizungswarme Bad zu tragen. Dort beginnt die Morgenroutine mit waschen, Zähne putzen, anziehen, in die Küche marschieren, Brotdose einpacken, Licht ausschalten, Tür abschließen und wie üblich keine Sekunde zu früh zum Bus zu rennen. Spätestens jetzt ist Anna hellwach und plappert bereits fröhlich auf ihre Mutter ein, die sich lieber in ihrem Bett sähe als zehn vor acht auf dem Weg zum Kindergarten.
Da angekommen, zieht sie Anna wieder aus, wirft ihr drei Luftküsse zu, sagt der Erzieherin hallo und eilt wieder zur Haltestelle. Sie weiß, dass Anna morgens meist malt bevor alle gemeinsam frühstücken. Manchmal bekommt sie so ein Bild mit gelben, grünen und roten Tupfern die je nach Belieben Autos, Häuser, Schmetterlinge oder in seltenen Fällen Menschen darstellen sollen. Dann lächelt Frau Ypsilon und sagt „Ah ja, ich sehe es.“
Noch immer ein bisschen lächelnd bei dem Gedanken daran, steigt sie in den nahenden Bus und fährt ein Stück zu ihrem kleinen Buchladen. Manchmal lachen sie und ihr Mann darüber, dass ihrer beiden Berufe mit Buch beginnen und doch so wenig gemeinsam haben. Sie schließt den Laden auf, dreht vorsichtig die Heizung auf und stellt den Wasserkocher an. Heute ist sie die Erste und darf somit aussuchen welcher Tee getrunken wird. Zehn vor neun sind auch ihre drei Kollegen da, der Tag kann beginnen. Frau Ypsilon bedauert es oft, dass kaum jemand um Rat fragt. Oft scheinen die Menschen zielstrebig den Laden zu betreten, kaufen ein Buch oder einen Kalender und schon sind sie mit einem lässigen „Auf Wiedersehen“ wieder draußen, obwohl sie genau weiß, dass es ein Wiedersehen erst beim nächsten nahenden Geburtstag gibt. Dabei hätte sie so viel zu erzählen, Frau Ypsilon kennt fast alle Bücher, die der Laden hergibt. Besonders mag sie Kinderbücher und Krimis, sie findet beide haben etwas ungeheuer spannendes, wenn auch die Kinderbücher etwas sanfter mit dem kleinen Leser umgehen.
Doch wieder vergeht ein Tag ohne dass jemand einen Rat haben möchte, lediglich ein paar einzelne Buchbestellungen auf Anfrage erledigt sie. Sonst schiebt sie die Bücher hin und her, schmökert ein wenig und prägt sich den Dienstplan für den nächsten Monat ein.
Als es endlich 16.00 Uhr wird, winkt Frau Ypsilon ihren Kollegen noch einmal zu, schnappt sich die Tüte mit den drei verbliebenen Lebkuchen und geht mit schnellem Schritt zur Haltestelle. Sie ist sich sicher, dass Anna schon auf sie wartet. Sie hatte ihr heute Morgen versprochen, etwas aus dem neuen Buch vorzulesen, das wo vorne auf dem Cover ein kleiner blauer Schmetterling zwischen drei Elefanten zu sehen ist. Anna liebt Schmetterlinge, Elefanten eigentlich auch, auch wenn diese eine gewisse Leichtfüßigkeit vermissen lassen.
In der Garderobe des Kindergartens stellt Frau Ypsilon fest, dass Annas Jacke bereits nicht mehr am Haken hängt, das Schuhfach ist auch leer. Frau Ypsilon freut sich für Anna, bestimmt hat sie ihr Mann abgeholt, weil er früher gehen konnte. Anna mag diese Papatage und findet es gibt sie viel zu selten. Ein bisschen ärgert sich Frau Ypsilon schon, dass er nicht Bescheid gesagt hat, sie hätte sich den Umweg sparen können.
Sie steckt den Kopf in die Tür des Gruppenzimmers von Anna und fragt halblaut „Anna schon weg?“ obwohl sie die Antwort eigentlich kennt. Die Erzieherin, Frau Zett antwortet ihr verwundert: „Ja ihre Mutter hat sie vor einer halben Stunde abgeholt, aber ich wüsste nicht was sie das angeht, wer sind sie denn?“. Frau Ypsilon die eine Frage stellte und meinte die Antwort zu kennen, befand sich bereits auf dem Rückzug, als plötzlich diese Antwort an ihr Ohr drang. Erstarrt blieb sie stehen. Es schien unmöglich, was sie eben gehört hatte. Sie ging wieder einen Schritt in das Zimmer und schaute sich die Erzieherin genau an. Das war eindeutig Frau Zett, Frau Zett, die sie seit zwei Jahren kannte. Diese musterte Frau Ypsilon wie man eben eine fremde unbekannte Person mustert. Dann fragte sie „Ist noch was?“ Frau Ypsilon merkte, wie sie begann zu schwitzen. Sie wurde rot und fragte noch einmal „Anna schon weg? Meine Anna?“ Frau Zett wurde etwas ungeduldig und sagte „Wieso ihre Anna? Wer sind sie? Hier gibt es keine Anna mehr.“

Wenn wir sie Frau Ypsilon nennen, obwohl das es nun gerade nicht ist, das sie zum dem gemacht hat, was sie ist: eine Frau, dann wird ihnen sicher die Beliebigkeit der Namen bewusst. Es könnte auch ihrer sein.
 



 
Oben Unten