Verdurstet

Nuwanda

Mitglied
Verdurstet

Kennst Du sie auch, diese Tage, an denen einfach alles schiefgeht? An denen man sich wünscht, man könne in eine andere Welt flüchten, einfach nicht mehr an all die Probleme denken, die einen so sehr beschäftigen? Abschalten. Entspannen. Träumen.
Eric kannte diese Tage und er hatte die Fähigkeit, sich seinen Problemen zu entziehen, aus dem Alltag auszubrechen. Er konnte sich in seine Träume flüchten.
Mit 15 entdeckte Eric, dass er anders war als die anderen Teenager. Er wusste schon immer, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Erst dachte er, er sei möglicherweise schwul, denn oft hörte er von Homosexuellen, die schon früh spürten, dass sie anders waren. Doch das war es nicht.
Vielmehr war es ein Traum, der ihm unheimlich vorkam.
Es begann in der Nacht vor seinem ersten richtigen Date mit einem Mädchen.
Nein, ein feuchter Traum war es nicht. Dass solche Träume nicht ungewöhnlich waren, wusste Eric nur allzu gut. In dieser Beziehung war er ein ganz normaler 15 jähriger Junge.
Er war sehr aufgeregt in dieser Nacht, dachte nur noch an Lisa, so hieß das Mädchen, mit dem er am nächsten Tag im Kino verabredet war. Stundenlang lag er wach in seinem Bett und malte sich aus, was alles schiefgehen konnte. Was ist wenn sie ihn nicht mag? Oder wenn sie ihn küsst und er es nicht richtig macht?
Endlich schlief er ein und dann war er plötzlich mitten in der Wüste. Nichts als Sand um ihn herum. Eine stechende Hitze herrschte dort, die Sonne brannte auf seiner Haut. Er lief los, ziellos in irgendeine Richtung. Er versuchte der Hitze zu entkommen, doch seine Beine schienen immer schwerer zu werden, er wurde langsamer. Seine Kehle schrie nach Wasser. Und alles fühlte sich so realistisch an. Eric fürchtete sich.
Er hatte den Gipfel einer Düne erreicht, als er spürte wie seine Beine unter ihm zusammensackten. Er fiel und rutschte. Die Düne schien unendlich hoch zu sein, es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er unten angelangt war. Er wurde schneller, der Wind wehte ihm ins Gesicht, was eine große Erleichterung war und plötzlich war überall Wasser. Als er seinen Durst gelöscht hatte, fühlte er sich so leicht, als würde er im nächsten Moment abheben, nie hatte er sich glücklicher und sorgenfreier gefühlt wie hier und jetzt.
Das Wasser war ein See, umgeben von Palmen, es war ein richtiger kleiner Wald mit bunten Vögeln, die um die Wette zwitscherten. Paradiesische Früchte so weit sein Auge reichte. Hier gefiel es Eric, sein Kopf war frei von allen Problemen und er konnte tun und lassen wozu er Lust hatte, hier in dieser wunderschönen Oase mitten in der Einsamkeit der Wüste.
Als er aufwachte, war er zuerst ein wenig enttäuscht, dass es nur ein Traum war, doch dann fiel ihm das Date mit Lisa ein und er bemerkte, dass er überhaupt nicht mehr aufgeregt oder nervös war, die Angst, die er vorm Einschlafen hatte, war verschwunden. Er fühlte sich richtig gut, nur seine Nase tat ihm weh, er verspürte ein leichtes Brennen. Als er sich im Spiegel betrachtete, sah es fast so aus als hätte er einen Sonnenbrand. Aber wovon? Seit Tagen hatte die Sonne nicht mehr geschienen. Nur in seinem Traum hätte er einen Sonnenbrand bekommen können. Aber das hier war die Realität! Seltsam. Ach, wahrscheinlich war er nur irgendeine Allergie. Er dachte nicht mehr weiter darüber nach.
Das Date lief phantastisch, genau wie sein Leben, das eine Weile perfekt zu sein schien.
Eric hatte eine traumhafte Beziehung mit Lisa, tolle Freunde, war in der Schule recht gut und war nie großem Stress ausgesetzt. Bis er 19 war, dann kam alles auf einen Schlag: Nur noch zwei Wochen bis zum Abitur und Eric hatte noch kein bisschen dafür gelernt. Und dann trennte sich Lisa auch noch von ihm, wegen einem Anderen.
Er wusste nicht, wie er das alles schaffen sollte, er konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren, weil er ständig an Lisa denken musste. Er war kurz vorm Verzweifeln. Und dann hatte er wieder diesen Wüstentraum, für eine Nacht entkam er der bitteren Realität. Und am nächsten Tag ging es ihm tatsächlich besser. Doch diesmal war es nicht das Ende seiner Probleme, er fühlte sich nur für ein paar Tage gut, dann ging es wieder bergab und der Traum kam wieder.
Das Abitur schaffte er, doch schon stand er vor dem nächsten Problem, er wusste nicht wie sein Leben weitergehen würde, hatte keine Ahnung was er jetzt mit sich anfangen sollte. Je mehr Probleme oder Stress auf ihn zukamen, desto öfter träumte er von der Wüste. Jedesmal wusste er eine Lösung, wenn er aufwachte, doch jedesmal kamen auch wieder neue Probleme hinzu, es wurden immer mehr.
Der Traum war nie exakt der gleiche. Der Weg zur Oase war immer unterschiedlich. Mal lang, mal kurz, meistens fand er das Wasser, dass ihm vorm Verdursten rettete, relativ schnell, doch manchmal kam es ihm wie Stunden vor. Es fühlte sich immer realistischer an. Und eines Tages, bzw. eines Nachts traf er in der Oase einen anderen Menschen. Eine Frau. Eric hatte sie noch nie gesehen und doch war sie so echt für ihn. Sie redeten stundenlang und von nun an war diese Frau immer dort, wenn er in die Wüste kam. Sie redeten und lachten und irgendwann fingen sie sogar an, sich zu lieben. Immer öfter wollte Eric träumen, er freute sich geradezu über den Stress, den er im Leben hatte, denn er wusste, dass er dann wieder träumen würde.
Eric hasste sein wirkliches Leben, mittlerweile hatte er keine Freunde mehr, er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er arbeitete viel, er war nun Anwalt, ein sehr gestresster Anwalt. Und wenn er nicht dabei war, sich Probleme einzuhandeln, träumte er. Das geschah nicht mehr nur nachts. Er brauchte keinen Schlaf um zu träumen. Überall konnte er vor der Realität in die Wüste flüchten. Er konnte einfach abschalten, wann und wo er wollte.
Andere Leute trinken, um der Realität zu entfliehen, Eric träumte. Die Träume machten ein Wrack aus ihm. Der permanente Sonnenbrand war nicht das einzige Anzeichen dafür, dass der Wüstentraum realer als gewöhnliche Träume war. Einmal kletterte er in der Oase auf eine Palme und fiel runter. Am nächsten Morgen hatte er schreckliche Schmerzen in seinem rechten Bein. Drei Tage lang humpelte er. Doch Eric glaubte nicht, dass es was mit den Träumen zu tun hatte. Er wusste nur, dass die Träume all seine Probleme lösen, doch nun träumte er nicht mehr nur zur Entspannung, sondern aus Sucht.
Er wusste bald nicht mehr was Realität war und was Traumwelt. Er hoffte sein Leben als Anwalt war der Traum, ein Alptraum aus dem er bald erwachen würde.
Und genau das Gegenteil geschah. Eric war 32 Jahre alt, als er eines morgens nicht mehr aus seinen Träumen aufwachte. Er hat sich in der Wüste verirrt und ist verdurstet.
 



 
Oben Unten