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Leseeule

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Die Stille um sie herum war allumfassend.
Sanft wehte eine leichte Brise durch ihre dunklen Locken, ein spielerisches Tänzeln, das in die Ruhe hinein zu vibrieren schien und die Sonne, ein rötliches Schimmern am Horizont, versank als stummer Zeuge in den Tiefen der aufkeimenden Nacht.
Sie schaute hinauf zu der großen Uhr, dessen Zeiger sich lautlos weiterbewegte, ein unaufhaltsames Ticken, dass die Zeit voranbrachte und die Vergangenheit mit jeder Sekunde weiter zurück drängte.
19:40 Uhr.
Da war ein Seufzen, das nur allzu gern über ihre leicht geöffneten Lippen getreten wäre, und doch blieb es still. Nur der Wind säuselte leise in ihr Ohr, eine Stimme aus längst vergangenen Tagen, die sie zu umgarnen suchte und gleichsam wusste, dass jedes Wort ungehört verhallen würde.
Die Vergangenheit war ihr mittlerweile so fern, dass selbst ein Gedanke daran unendlich viel Mühe kostete, doch sie war heute hier hergekommen, um genau das zu tun: Zu denken, sich zurück zu erinnern und zu verarbeiten, was sie hatte aufgeben müssen.
Wie ihrem Schicksal ergeben, schloss sie die Augen und horchte in sich hinein, horchte auf Wortfetzen und sah Bildsequenzen, ehe sich langsam, Stück für Stück, die alten Fragmente wieder zusammen setzten.

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende~~~~~~~~~~~~~~~~

Es war ein heißer Juli gewesen, ungewöhnlich heiß für den Norden. Trotz des Meeres, das ihre kleine Stadt säumte, hatte die Luft ihre Frische verloren, war der Wind zum Stillstand gekommen und all die Menschen um sie herum ins Schwitzen.
Nun brach der August an und er versprach, noch heißer zu werden, noch stickiger und in letzter Konsequenz, noch unangenehmer.
Mit einem leisen Seufzer drehte sie die Klimaanlage in ihrem Auto höher, wobei sie doch wusste, dass diese kleine Spielerei längst den Dienst aufgegeben hatte und mit ihrer rechten Hand fasste sie sanft nach der großen Wölbung, die sich unter ihrem T- Shirt abzeichnete.
Nur noch wenige Wochen, dann würde das Leben, wie sie es kannte, vorbei sein und doch verspürte sie nicht den Hauch von Angst, viel mehr aber tiefe, aufschäumende Freude, die ihr Tag für Tag ein Lächeln auf die Lippen zauberte, während all die Leute , denen sie begegnete, nur griesgrämig drein schauten.
Man konnte es ihnen niemals recht machen. War es zu kalt, dann schlichen sie mit ihren unzufriedenen Mienen durch die Straßen. Schien dann die Sonne, so war es auch nicht in Ordnung.
Sie kicherte leise ob dieser so typisch menschlichen Paradoxie, erstickte diesen Laut jedoch sofort wieder, als eine eiskalte Welle Übelkeit über sie herein brach.
Mit fahrigen Händen lenkte sie das kleine, quietsch-gelbe Auto an den Straßenrand und verharrte, während ihr Körper ungnädig zu zittern begann.
Es dauerte einige Minuten, ehe der Anfall vorüber war und auch, wenn für sie die Zeit für einen Moment stehen geblieben war, so hatte sich die Welt um sie herum unaufhaltsam weitergedreht, denn das Hupen hinter ihr hatte bereits beängstigende Ausmaße angenommen.
„Ist ja gut, meine Güte“
Ihr Murmeln ging in dem konstanten Rauschen des Motors unter, als sie sich wieder in den Verkehr einfädelte und gen Heimat aufmachte.

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende Ende~~~~~~~~~~~~~~~~

Noch am selben Abend hatte man sie ins Krankenhaus gebracht, doch für die kleine Sophie war jede Hilfe zu spät gekommen. Nach sieben Monaten Schwangerschaft, hatte der ungeborene Säugling das Wettrennen gegen die Zeit verloren.
Der Gedanke daran, an die Leere, die dieser Verlust hinterlassen hatte, ließ sie nun einige Schritte rückwärts taumeln, während kristallklare Tränen ihre Sicht verschleierten und sich stumm ihren Weg über ihre blassen Wangen bahnten.
Sie vermochte kaum, sich an die folgenden Monate zu erinnern. Es fühlte sich an, als würde sie einem Störsender lauschen, als wäre der richtige Kanal, jener Kanal nämlich, der ihre Vergangenheit empfing, vorübergehend nicht erreichbar.
Erst mit ihrer Abreise kehrten ihre verlorengegangenen Erinnerungen wieder. So unscharf die Sequenzen eben noch gewesen sein mochten, so waren sie nun umso deutlicher.

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende~~~~~~~~~~~~~~~~

Mit dem Koffer in der einen Hand und dem Transportkörbchen ihres Katers in der anderen, stand sie vor ihm.
Das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer, beinahe wie eine greifbare Existenz, die sie zu erdrücken versuchte.
Er war es, der die Stille letztliche durchbrach, seine Stimme kühl, die einstige Wärme darin lang verloren.
„Deine Entscheidung steht also fest, ja?“
Sie neigte den Kopf und schaute ihn an, während sie in ihren Gedanken eine Antwort zu formulieren versuchte.
Ihre Fehlgeburt lag nun ein ganzes Jahr zurück, ein Jahr, in dem sie hatte lernen müssen, damit zu leben, dass sie einen Teil von sich unwiderruflich hatte loslassen müssen. Während jener Zeit, in der sie sich mehr und mehr in ihr Innerstes zurückgezogen hatte, hatten sich ihre Wege gegabelt.
Nun schien es, als würde sie ihn nur noch aus weiter Ferne sehen, auf einem Weg, der von ihr wegführte, während sie einen Weg beschritt, der sie nirgendwo hin brachte.
An diesem Punkt hatte sie begriffen, dass sie das ändert musste.
Die Entscheidung, ihn zu verlassen, nicht wirklich zu verlassen , sondern sich einen neuen Job in einer anderen Stadt zu suchen, hatte bei ihm nicht gerade Jubelstürme ausgelöst, im Gegenteil, sie hatten sich fürchterlich verkracht. Ein Streit, der damit geendet hatte, dass er ihr vorwarf, einfach feige davon zu laufen und sie letztlich unter Tränen allein auf der Couch saß, das Ultraschallbild ihres toten Kindes in ihren zitternden Händen, während ihr Ehemann wer weiß wo seine Wut auslebte.
Danach hatten sie das Thema totgeschwiegen und nun stand sie hier, unschlüssig, ob sie nur die Stadt oder auch diese Beziehung hinter sich lassen würde.
„Du kommst mich doch besuchen, oder?“
Ihre Stimme klang fremd, so zerbrechlich und doch konnte sie sich nicht durchringen, ihren Worten mehr Stärke zu verleihen. Sie fühlte sich klein und verletzlich, wie ein Engel, dem man die Flügel gestutzt hatte.
Es schien ihm genug Antwort auf seine Frage, denn mit einem Mal wich all die Starrheit aus seinem Körper. Mit gebeugtem Haupt und einem offenen Blick ergriff er ihre kühle Hand. Er wirkte gebrochen, jetzt, wo er die Wut nicht länger aufrecht zu erhalten vermochte.
„Ich werde jedes Wochenende kommen. Jeden Freitag, um 20 Uhr. Versprochen.“
Sie fragte ihn nicht, ob er irgendwann bereit sein würde, sein Leben hinter sich zu lassen und ihr zu folgen, so wie er sie nicht fragte, ob sie jemals bereit sein würde, zurückzukehren.
Sie wusste, dass er nicht verstand, warum sie tat, was sie tat, warum sie ihn zurück ließ, wo sie doch ihr gemeinsames Kind verloren hatten.
Sie konnte selbst nicht einmal sagen, was sie dazu trieb, doch instinktiv wusste sie, sie musste diesem Pfad folgen, der sich ihr bot. Noch lag ihre Zukunft in tiefen Schatten und doch wollte sie den Weg der Dunkelheit wählen, weg von dem ihr Altbekannten, hinein in das Neue, Unbekannte.
„Danke“
Das Wort mehr ein Hauch, verschluckt von der dröhnenden Stimme über ihnen, die verkündete, dass ihr Zug in Kürze eintreffen würde.
~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende Ende~~~~~~~~~~~~~~~~

Er war jeden Freitag gekommen, immer pünktlich. Jeden Freitag hatte sie am Gleis gestanden und ihn in die Arme geschlossen.
Und jedes Mal hatte sie gespürt, wie sie einander fremder und fremder wurden, doch gesagt hatten sie beide nichts.
Sie wusste mit jeder Faser ihres Herzens, dass er der Mann war, den sie liebte, von Herzen und über alles liebte, doch sie waren beide nicht mehr als schwache Abbilder der Menschen, die sie einst gewesen waren.
Beide verwundet, hatten sie es nicht geschafft, den Kampf Hand in Hand durchzustehen. Er war von ihrer Seite gewichen, lang bevor sie die Seine verlassen hatte.
Nach und nach hatte sie sich in ihr neues Leben eingegliedert, hatte Anschluss gesucht und dabei Menschen gefunden, denen sie hatte vertrauen können.
Und doch war jeden Freitag die Vergangenheit in ihr Leben zurückgekehrt, eine Vergangenheit, die es ihr nicht erlaubte, ihre Wunden heilen zu lassen. Loslassen konnte sie jedoch erst recht nicht.
Sicherlich, sie hatte gewusst, dass der Schritt, ihn zurückzulassen, unweigerlich Konsequenzen haben musste, doch in ihrer von Trauer getränkten Naivität hatte sie einfach gehofft, es würde alles gut werden.
Aber so spielt das Leben nun mal nicht.


~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende~~~~~~~~~~~~~~~~

Mit donnernden Motoren bewegte sich die alte Regionalbahn vorwärts, langsam und bedächtig, ehe sie kurz vor der Kurve Geschwindigkeit aufnahm und letztlich aus ihrem Blickwinkel entschwand.
Er war nicht gekommen.
Unsicher schaute sie hinauf auf die Uhr, die ihr unmissverständlich klar machte, dass es bereits eine Minute nach zwanzig Uhr war.
Sie verharrte, regungslos, unentschlossen, während ihre Augen den leeren Bahnsteig absuchten. Sie vermochte nicht zu begreifen, dass er tatsächlich nicht gekommen war. Ihre Gedanken rasten hinfort, suchten fieberhaft und fanden doch keine adäquate Lösung.
Und so wartete sie. Wartete, bis der 21 Uhr Zug vorbei fuhr, wartete, als der 22 Uhr Zug quietschend zum Stillstand kam und verließ den Bahnhof erst, als um 1 Uhr der letzte Zug vor ihr in die Nacht rauschte.
Zu Hause ging sie ohne sich auszuziehen ins Bett und schlief. Es kam ihr vor, als wären Tage vergangen, ehe sie sich aufraffen konnte, das Bett zu verlassen. Ihre Glieder waren steif vom Liegen, der Rücken verspannt und obwohl sie die Trauer hinfort hatte schlafen wollen, spürte sie, wie die ersten Tränen hinter ihren Augenliedern prickelten.
Mit fahrigen Schritten tapste sie über den langen Flur, vorbei an dem leeren Katzenkörbchen ihres Katers, der sie vor einigen Monaten verlassen hatten und hin zu dem Haufen Post, der durcheinander gewürfelt auf der Fußmatte lag.
Sie hatte weder Lust noch die Muse, sich durch jeden Brief zu wühlen und doch wusste sie, dass gerade das sie ablenken würde. Also sammelte sie die Post auf und hielt erst inne, als ihr ein weißer Umschlag ins Augen fiel. An meinen Engel, stand da geschrieben.
Stumm öffnete sie den Brief und begann die wenigen Zeilen zu lesen, die sich vor ihr zu Sätzen formten.

„Dass ich nicht gekommen bin, tut mir leid, aber Pia, ich schaffe das nicht mehr.
Komm zu mir zurück, ganz zurück, mehr will ich nicht.
Ich habe dir Tickets mitgeschickt und werde am Freitag auf dich warten. Den ganzen Abend, wenn es denn sein muss. Wenn du kommst, dann komm ganz, für immer.
Wenn du nicht kommst, dann ist das Antwort genug für mich.

In Liebe,
Lars“

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende Ende~~~~~~~~~~~~~~~~

19:58 Uhr.
Sie atmete einmal tief durch und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Sie war nicht gefahren.
Stunden, nein Tage hatte sie hin und her gedacht, abgewogen, ob sie es überhaupt schaffte, sich von ihm zu trennen.
Und war am Freitag nicht in den Zug gestiegen. Stattdessen hatte sie mit ihrem Koffer vor der geöffneten Tür des Zuges gestanden und begriffen, dass diese Reise vorbei war.
Der Zug fuhr ab und das ohne sie.
Nach diesem Tag hatte sie nur noch ein einziges Mal von Lars gehört, nämlich an jenem Tag, als er ihr die Scheidungspapiere schickte.
Sie seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Über ihr schob sich der Zeiger der Uhr auf die Zwölf und während der kleine schweigend nachrückte, riss die schnarrende Stimme aus dem Lautsprecher sie aus ihren Gedanken.
Kaum war das letzte Wort verklungen, hörte sie von fern den nahenden Zug.
Ein letztes Mal erlaubte sie sich, abzudriften und eine Erinnerung hervorzukramen, die die letzten Tränen vollends trocknen ließ.

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende~~~~~~~~~~~~~~~~

Es kam ihr vor wie ein Déjà- vu. Die Luft um sie herum war stickig, beinahe schwül und unbewusst streichelten ihre Hände über ihren runden Bauch.
„Geht es dir gut, Schatz?“
Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken und mit einem sanften Nicken lächelte sie ihm zu.
Drei Jahre war es nun schon her, seit sie Lars und ihre Vergangenheit in die den hintersten Winkel ihrer Gedanken verbannt hatte, zwei Jahre, seit sie Tim getroffen und ihn Stück für Stück in ihr Leben gelassen hatte. Er war geduldig gewesen, verständnisvoll und so hatte sie den Schritt erneut gewagt. Vor sechs Monaten hatten sie geheiratet, da war sie bereits im zweiten Monat schwanger gewesen.
Sie spürte auch jetzt noch die Angst, Angst, auch dieses ungeborene Kind zu verlieren und doch wollte sie hoffen.
Ein Monat noch, etwas über vier Wochen und sie war bereit dafür.
Gemeinsam mit Tim würde sie es schaffen.

~~~~~~~~~~~~~~~~Rückblende Ende~~~~~~~~~~~~~~~~

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als kräftige Arme sie umfassten und fest an sich drückten. Neben sich spürte sie, wie ihr kleiner Sohn ungeduldig an ihrem Kleid zupfte und sie löste sich aus der haltgebenden Umarmung und zog stattdessen den kleinen Körper an sich.
„Ich hab dich vermisst, Mami. Aber weißt du was? Oma Hilde hat jetzt eine neue lustige Brille, die hat so zwei Gläser. Da kann ich überhaupt nichts durch sehen. Wozu braucht man eine Brille, mit der man nichts sehen kann, Mami?“
Mit atemberaubender Geschwindigkeit prasselnden die Wörter aus dem Kindermund und über sich hörte sie ihren Mann lachen.
„Sportsfreund, lass die Mama doch erst mal aufstehen, bevor du sie löcherst!“
Mit diesen Worten wuschelte er durch die Haare des fünfjährigen Ben und zog Kind und Frau sanft mit sich mit, weg von dem Bahnsteig und in Richtung ihres Autos.

Sie fühlte seine warme Hand in der Ihren, hörte ihn leise murmeln: „Und wehe, du lässt uns noch mal allein zu meiner Mutter fahren. Du weißt doch, wie sehr du mir immer fehlst!“ und sah ihren Sohn aufgeregt vor sich auf und ab hüpfen und in dem Moment ließ sie die Vergangenheit ein für alle Mal los.
Ja, sie hatte viel aufgeben müssen und hatte doch umso mehr dafür gewonnen.
Ihr Weg aus Schatten und Ungewissheit war die leuchtende Sonne an ihrem blauen Himmel geworden.
 

Dr Time

Mitglied
Ich denke, du beschreibst in der Geschichte auf sehr gute Weise, was vielen im Leben passiert: Das Leben hält so viele Wege bereit, die man gehen kann. Beruflich kann man ja schön analysieren - der Verstand ist wie ein Taschenrechner. Aber bei Gefühlen hilft er nicht weiter. Deine Geschichte hat mich berührt. Ich musste nach danach erst einmal "Das wärs gewesen" von den "Wise Guys" hören. Kannst ja mal googeln. - Stephan
 

Leseeule

Mitglied
Hallöchen Stephan (ich hoffe, es ist okay, wenn ich dich mit Vornamen anspreche^^),

erst einmal vielen Dank für deine lieben Worte. Dass die Geschichte dich berührt hat, ist für mich das größte Lob, denn genau das sollte eine Geschichte ja auch: den Leser berühren oder erreichen.
Das Lied habe ich mir übrigens angehört. Unterschwellig sehr traurig und vor allem wahr. Manches soll einfach nicht sein, auch wenn man es immer und immer wieder versucht, das Leben hat oft eben einen anderen Weg vorgesehen.

Dir noch einen schönen Dienstag und danke^^!

Liebe Grüße
 
A

aksapo

Gast
Deine Geschichte ist sehr berührend und sehr gut geschrieben. Es ist schon so, wenn sich eine Türe im Leben schließt, ist das doch die Aufforderung, eine andere zu öffnen. Loslassen,Abschiednehmen und wieder beginnen - so ist das Leben.
Ein sehr schönes Leseerlebnis. Danke!
Lg Aksapo
 



 
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