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Sie leidet an zu kleinem Herzen. Das sehe ich gleich, als ich in den Warteraum komme und sie da sitzen sehe. Die Lippen spröde und keines Lächelns willig.

Später sitzt sie mit freiem Oberkörper vor mir, und der grüne Filzstift hinterlässt eine kalte, glänzende Spur auf der kreideweißen Haut.

„Der Brustkorb muß vergrößert werden“, sage ich nach kurzer Amnese.
Sie nickt und denkt wohl darüber nach, dass sie ihre Blusen und Hemden nicht mehr wird tragen können.
Ich reiche ihr das Silikon und wir unterhalten uns über die Herzgröße.
Große Herzen können zu Rückenproblemen führen.
Sie fühlt sich aufgeklärt und nickt.

Nur ein großes Herz kommt in Frage, sagt sie.
Sie geht nach Afrika.
 

Odilo Plank

Mitglied
Lieber Marcus Richter,
"eingebettet" (ein witzig böses Bett) in das Geschäftspalaver des Ich-Erzählers, des plastizierenden, Silikon reichenden Chirurgen, der sein Opfer als Schlachtvieh zeichnet,
die alte Frage nach dem Herzen des Menschen;
Du ziehst nicht nur den "Humanmedizinern" die Maske herunter!
Herzliche Grüße! Odilo
Du gibst meinem Gruß die Bedeutung zurück.
 
Hallo Odilo P.,

hätte nicht gedacht, dass Kurzprosa außerhalb von Lesungen funktioniert. Sind normalerweise relativ flüchtig.

Was hältst du von der Frage, ob es ein großes oder ein kleines Herz braucht, wenn man nach Afrika geht?

Grüsse,
Marcus
 

Odilo Plank

Mitglied
Hallo Marcus,
um nach Afrika zu gehen braucht man ein wahrhaft großes Herz - im Sinne des Wahrnehmungsorgans. Ein alter Missionar hat mir gestanden, er habe vierzig Jahre gebraucht, um auf die Menschen richtig einzugehen. - Viele hochmotivierte Entwicklungshelfer brechen entmutigt und enttäuscht mit vielen Schuldzuweisungen ihre Arbeit ab.
Ach übrigens: Afrika ist überall...
 
K

KaGeb

Gast
Guter Text. Musste ich mehrmals lesen.
Die Metapher ist hervorragend gelungen.

Gruß, KaGeb alias ehemals "Orangekagebo"
 
Hallo Odilo und Orange,

natürlich ist Afrika ein moderner Topos, der immer Gefahr läuft, in die Belanglosigkeit und Dämlichkeit abzugleiten.
Der Konflikt, in dem wir uns immer befinden, wenn wir uns auf die Planke von Schuld und Gewissen begeben, läßt sich vermutlich literarisch gar nicht auflösen.

Das Scheitern am Thema ist eigentlich vorprogrammiert. Die Kurzprosa mildert das natürlich ab, und sie vermag einen Blick zu riskieren, ohne dabei allumfassende Antworten geben zu wollen.

Die Realität blamiert uns alle.
Grüsse, Marcus
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hallo marcus,

klasse text. ich war vor einigen tagen schonmal hier, hatte aber keine richtige muße die worte zu würdigen, daher erst jetzt.

grandios mehrdeutig auch der letzte satz.

liebe grüße
nofrank
 

Roni

Mitglied
Lieber Marcus,

ich denke, du meinst Anamnese.

Ansonsten, wie soll ich sagen?
Kurzprosa 1A ... kein Wort zu wenig, keins zu viel.

So mag ich es.

Lieben Gruß
Roni
 
P

Prosaiker

Gast
Ja, toll verdichtet ohne aufs lebendige Fleisch der Details zu verzichten (siehe der grüne Filzstift).

Grüße,
Prosa.
 
Also Roni,

du schon wieder! Wahrscheinlich hat meine Amnese ihren Ursprung in Amnesie; Sprachamnesie. Die medizinische Amnese wäre folglich der Vorgang, bei dem man einem Patienten mit einem Pendel vor den Augen herumfuchtelt, bis er völlig vergessen hat, warum er eigentlich beim Arzt ist.

Stark! Muss ich wohl so lassen. Besser noch, ich schreibe noch eine andere Geschichte, die dann den tiefsinnigen Titel "Amnese" trägt.

Bis dahin,
und ja, auch ich ziehe die Erzählung der Kurzprosa vor,
Gruss, Marcus
 



 
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