Verlorene Liebe

Maribu

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Verlorene Liebe

Er hatte sich Samstagsmittag spontan entschieden, das Wochenende
an der Ostsee zu verbringen und telefonisch ein Hotelzimmer bestellt.
Die Temperatur war fast sommerlich, und Grömitz würde auch in der
Vorsaison schon etwas zu bieten haben.
Nach knapp zwei Stunden war er am Ziel, hatte seine Reisetasche
unausgepackt in den Schrank gestellt und versuchte, seine trüben Gedanken ebenfalls im Zimmer zurück zu lassen.
Er reihte sich ein in die Touristen auf der Promenade. Trotzdem wurde ihm das Alleinsein zwischen den sich in Gruppen oder paarweise an ihm vorbeischiebenden Menschen bewusst.
Vor einem Monat war eine dreijährige Beziehung zu Ende gegangen.
Sie hatte seine 'Junggesellen-Allüren', wie sie es abfällig nannte, endgültig satt. Was das auch immer heißen mochte, und wenn sie in manchen Punkten auch recht hatte, hatte sie kein Recht, sein Leben nach ihren Vorstellungen umzukrempeln.
Er war nicht mehr jung genug, umgepolt zu werden, auch nicht bereit, auf Gewohnheiten, auf vieles Eingefahrene, zu verzichten!
Nachdem er das Kaffeetrinken auf der 'Strandterrasse' ausgedehnt hatte, um die noch wärmenden Strahlen der tiefstehenden Sonne zu genießen, genehmigte er sich drei Bier an verschiedenen Ausschänken, bevor er zur Seebrücke ging.
"Abendfahrt mit MS Brandenburg. Musik und Tanz an Bord"
hatte er auf einem Plakat gelesen.
Da es bis zur Abfahrt um zwanzig Uhr noch eine halbe Stunde dauerte, war nur wenig Bewegung auf der Brücke.
Viele Menschen schoben sich immer noch über die Promenade, um zu sehen und gesehen zu werden, drängten sich vor den Imbissbuden und Eisdielen. Die Strandkörbe waren belegt. Einige Mutige planschten sogar im Wasser. Andere saßen bei Kaffee oder Tee in den Cafès, sorgten in den Restaurants für ihren Kalorienhaushalt oder ließen in Kneipen Stimmung und Alkoholpegel steigen.
Sie war ihm sofort aufgefallen. Ihr kastanienbraunes Haar fiel bis auf die Schultern und bewirkte einen eigenartigen Kontrast zum gelben Hosenanzug. Wie sie schlank und leichtfüßig auf schwarzen hochhackigen Schuhen vor ihm hertrippelte, wirkte sie wie eine junge Frau. Mitten auf der Brücke blieb sie stehen, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Brüstung und sah einem Schwanenpaar zu. Er ging an ihr vorbei und stellte sich schräg gegenüber an das Geländer. Als die Frau sich zum Weitergehen umdrehte, traf ihn ein kurzer Blick, aber lang genug, um zu erkennen, dass sie auch die Fünfzig überschritten hatte.
Sie nahm am Ende einer Bank in der Nähe des Anlegers Platz.
Er hätte sich ohne etwas zu sagen an das andere Ende setzen können, aber wie würde er dann mit ihr ins Gespräch kommen?
Da ihm so schnell nichts Besseres einfiel, sagte er:
"Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?" Er entschied sich aber für die Bankmitte, genug Abstand haltend, um nicht aufdringlich zu wirken.
Sie lachte. "Was kann ich dagegen haben? Es ist eine öffentliche Bank!"
Er fühlte sich plötzlich wie vom Blitz getroffen. Diese Stimme kannte er! Aber woher? Bei den meisten Menschen veränderte sich das Aussehen, nicht nur durch den Alterungsprozess.
Er musste das bei einem Klassentreffen nach über dreißig Jahren schmerzlich erfahren. Von achtundzwanzig ehemaligen Mitschülern hatte er nur zwei oder drei wiedererkannt.
Aber als sie sich der Reihe nach vorstellten, einen Abriss ihres Lebens gaben, hatte er die meisten als Jungen vor Augen.
Es war ihre Stimme, die blieb unverwechselbar.
Er dachte angestrengt nach, wie er weiter vorgehen konnte, ohne dass es allzu plump wirkte.
Allmählich strömten die Leute auf die Brücke, die ersten hatten den Anleger erreicht, die Bänke besetzt, und auch neben ihm hatte ein Paar die restliche Sitzgelegenheit in Anspruch genommen, so dass er die Chance wahrnahm, ein Stückchen an sie heranzurücken.
"Wollen Sie auch mit dem Schiff fahren?", fragte er dann doch etwas zu direkt.
"Vielleicht", antwortete sie, wandte den Kopf zu ihm und sah ihn forschend an.
Er bezog dieses "Vielleicht", verbunden mit ihrem Blick, auf sich. Sollte es von ihm abhängen? Dachte sie vielleicht, dass er ihr seine Begleitung anbieten würde? Und noch etwas hatte ihn berührt: Ihr Profil, die breiten Nasenflügel und der ausgeprägte Wangenknochen kamen ihm bekannt vor. Nur das kastanienbraune Haar irritierte. Er schloss die Lider, und vor seinem inneren Auge entfärbte es sich, wurde blond, zusammen gehalten von einem schwarzen Samtband.
Hanne! Ja, Hanne aus der Parallelklasse saß neben ihm! Er ließ sich nichts anmerken. Vielleicht würde sie reagieren, wenn er sich vorstellte. "Ich heiße übrigens Werner", sagte er entschuldigend, als hätte er es versäumt und sie schon Stunden miteinander gesprochen.
"Mit dem Vornamen oder mit dem Nachnamen?" Sie lachte. Und auch dieses Lachen schien ihm auf einmal vertraut. Manchmal, wenn er an seine Jugendzeit zurückgedacht hatte, erinnerte er sich auch an sie. Noch am Beginn dieser ersten Liebe war seine Familie mit ihm in einen anderen Stadtteil umgezogen.
"Das können Sie nehmen wie Sie wollen", antwortete er und lachte ebenfalls. "Meine Eltern besaßen leider in dieser Hinsicht wenig Phantasie, so dass mein Vor- und Nachname identisch sind."
Sie stutzte, sah ihn überrascht an, und er hoffte, dass ein Ausdruck des Erkennens über ihr Gesicht gleiten würde.
Aber auch sie offenbarte sich nicht, sagte: "Walter Werner hätte ja noch gut geklungen, aber Werner Werner klingt ziemlich bescheuert!"
Er musste schmunzeln. Da war sie wieder diese Ehrlichkeit, die er so an ihr geschätzt hatte, und er erwiderte fast entschuldigend: "Auf meinen Vornamen hatte ich leider keinen Einfluss!"
Er schob eine längere Strähne seines schütteren Haares über den Kopf auf die rechte Stirnseite, als könne sie aus dieser eher komischen Bemühung eine Verbindung zu seiner pomadeglänzenden Tolle von damals herstellen. Die Brille hatte sein Aussehen auch verändert. Er nahm sie ab, massierte kurz mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und sah sie erwartungsvoll an. Jetzt musste doch auch bei ihr die Erinnerung kommen!
Die kam auch, aber anstatt "Ich kenne dich!" vernahm er:
"Das kenne ich, das Gefühl, wenn man die Brille den ganzen Tag über getragen hat, und dann noch an einem so warmen Frühlingstag wie heute! Versuchen Sie es doch mal mit Kontaktlinsen! Es gibt weiche und harte. Ich komme mit den weichen wunderbar zurecht!"
Verärgert setzte er die Brille wieder auf. Weshalb musste sie ihn lächerlich machen und sich wie eine Verkäuferin aus einem Optikerladen gerieren? Trotzdem ließ er nicht locker: "Sie brauchen sich nicht vorstellen, ich kann Ihren Vornamen erraten!"
"Da bin ich aber gespannt!", antwortete sie mit einem Lächeln.
"Sie heißen Hanne!"
Sie tat nicht mal überrascht, schwieg einen kurzen Moment und antwortete ohne ihn anzusehen: "Hanne - das ist Vergangenheit!
Ich heiße Hannelore! Vor langer, langer Zeit war ich Hanne!
Auch ein Junge, fast schon ein junger Mann, mit gleichen Vor- und Nachnamen nannte mich so. Dann ist er innerhalb der Stadt umgezogen und hat nie etwas von sich hören lassen, als wäre er an das Ende der Welt verschwunden!"
Er begann zu schlucken, hatte plötzlich einen Kloß im Hals, war nicht in der Lage, darauf zu antworten.
Das Schiff hatte vor einigen Minuten angelegt, und die ersten Passagiere, die bereits vor der Gangway eine Schlange gebildet hatten um sich die besten Plätze zu sichern, waren an Bord gelassen worden.
Sie hatte ihren Kopf jetzt in Richtung Seebrücke gedreht, über die immer noch einige Menschen zum Anleger eilten. Plötzlich begann sie zu winken und jemand fiel in leichten Trab, legte die letzten vielleicht zwanzig Meter in schnellem Lauf zurück und stoppte abrupt vor der Bank. Lächelnd, die Zunge wie ein hechelnder Hund bewegend, sich mit dem rechten Handrücken
imaginäre Schweißtropfen von der Stirn wischend, stand er vor ihr. Das volle dunkle Haar und der sonnengebräunte Teint passten zu seinem hellblauen Sweatshirt, den beigen Jeans und den klobigen Laufschuhen als Abrundung einer sportlichen Erscheinung.
"Geschafft!", rief er, immer noch Atemlosigkeit vortäuschend.
Sie lachte herzhaft und erwiderte: "Du Schauspieler! Schön, dass du noch rechtzeitig gekommen bist!" Sie sprang in seine ausgebreiteten Arme.
Werner war enttäuscht. Damit hatte er nicht gerechnet. Deswegen also ihr "Vielleicht"! Ohne ihn und mit ihm wäre sie nicht gefahren! Ihr Lachen und ihre Stimme waren ihm sofort fremd geworden. Er hatte sich gefreut, seine Schulfreundin, seine erste Liebe, nach so vielen Jahren wieder getroffen zu haben, hoffte, auf der Fahrt bei Musik und Tanz Erinnerungen aufleben zu lassen. Vielleicht hätte sich sogar etwas für die Zukunft ergeben?! Nun machte die Ankunft dieses Mannes alles zunichte!
"Wir müssen uns beeilen!", rief sie und nahm ihren Freund an die Hand. Und im Weggehen zu Werner, der unschlüssig auf der Bank sitzen geblieben war: "Sie wollten doch mitfahren. Kommen Sie hoch, wir warten nicht auf Sie!"
Schweigend und gekränkt blieb er sitzen. Warum musste sie das noch sagen und ist nicht einfach mit diesem Kerl abgehauen?
Doch im selben Moment wurde ihm bewusst: Sie musste damals sehr verletzt gewesen sein.
Er beobachtete noch, wie sie als eine der Letzten an Bord gingen, die Leine eingeholt wurde und das Schiff ablegte.

Er kam im Hotel aus dem Bad und traute seinen Augen nicht:
Hanne lag auf dem Bett, bekleidet mit einem durchsichtigen rosa Nachthemd, durch das sich die schon fraulichen Formen des noch mädchenhaften Körpers abzeichneten. Er betrachtete ihr junges Gesicht, streichelte über das schwarze Samtband in ihrem blonden Haar und sagte erstaunt: "Dass du das noch hast!"
"Ich habe es aufbewahrt und für dich umgebunden!"
"Dann war das gestern eine kastanienbraune Perücke? - Und wie hast du mich überhaupt gefunden?"
Sie lachte. "Das war bei deinem komischen Namen überhaupt kein Problem!"
"Und wo ist - er?"
"Ich habe ihn nach dem Anlegen des Schiffes verlassen. Schon an Bord, als er mit mir tanzte, habe ich nur an dich gedacht und wie ich so gemein sein und dich so traurig auf der Bank zurücklassen konnte!"
Das überwältigte ihn. Er musste seine Tränen zurückhalten und rief euphorisch: "Jetzt weiß ich, weshalb ich nie geheiratet habe und meine Beziehungen immer wieder in die Brüche gingen!
Nach all den Jahren haben wir uns wieder gefunden. Es ist wie eine Bestimmung!"
Sie lächelte glücklich, legte die Arme sirenenhaft über den Kopf, hob den Oberkörper, dass ihre Brüste unter dem dünnen Stoff wirkten, als wären sie nackt. "Komm zu mir!" flüsterte sie.
Zögernd beugte er sich über sie, legte seine Lippen auf ihre und küsste sie zaghaft und scheu. Da spürte er sie wieder, diese betäubende aufregende Süße des ersten Kusses, das prickelnde, unter die Haut gehende Gefühl des Leichtseins, dieser Schwebezustand, als wären einem Flügel gewachsen. Auf einmal waren sie wieder da, diese jahrzehntelang verschollenen Empfindungen, die alle anderen Frauen nach ihr nicht erwecken konnten.
Doch ihr Kuss war anders als früher; wilder und fordernder. Sie griff nach seiner Hand und legte sie zwischen ihre Schenkel.
"Nein!" schrie er. "Du bist doch noch so jung!"
Schweißgebadet erwachte er. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass sie nur aufgestanden war und sich noch im Zimmer befand. Dann spürte er den Brummschädel, hervorgerufen durch etliche an der Promenade geschluckter Biere und erinnerte sich an den Geschäftsmann an der Hotelbar, der ihn über Spesenkonto mit Whisky-Soda freigehalten und dafür bis vier Uhr morgens mit seinen Problemen vollgelabert hatte.
Es war bestimmt schon mittags, die festgelegte Zeit für das Frühstücksbüfett überschritten. Aber er hatte sowieso keinen Appetit; nur Nachdurst.
Er zog die Nachttischschublade auf und erschrak. Sein verkatertes Gesicht wurde schlagartig noch blasser. Über der Armbanduhr und der Brille, die er hier vor dem Schlafen deponiert hatte, lag ein schwarzes Samtband.
 



 
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