Verlustanzeige

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Ewald Heinen ist keiner, der aufgibt. Trotz drückender Sommerhitze war er von ihrer gemeinsamen Wohnung zur nächsten Polizeiwache gegangen.
Der Polizeibeamte hackte mit dem Mittelfinger seiner linken Hand auf die Computertastatur ein. „Können Sie den Täter beschreiben?“
„Würde ich dann eine Anzeige gegen unbekannt aufgeben? Ich vermute allerdings, es ist eine Frau.“
Der Beamte blickte ihn streng über die Lesebrille hinweg an und schüttelte den Kopf. „Eine Frau? Wie kommen Sie darauf?“
„Na ja, wer stiehlt denn einem Mann schon so viel Energie, frage ich Sie.“
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Hier zählen Fakten. Vermutungen haben vor Gericht keine Chance….Tatwaffe?“
„Vielleicht Drogen… ? Weiß nicht genau!“
„Also schreibe ich…“, und der Beamte hackte Buchstabe für Buchstabe in die Tasten, „das Opfer hat den Verdacht durch mutmaßliche Einwirkung einer ihm unbekannten Droge, die ihn müde macht und nur noch verschwommen sehen lässt…..“
Ewald Heinen nickt.
„Und welche Folgen hatte diese Einwirkung außerdem?“
„Ich werde müde und kann danach nicht klar denken und spüre eine Art Widerstand gegen Widerstand!“
„Das Opfer klagt über Bewusstseinseinschränkungen und inneren Widerstand gegen Widerstand. Können Sie noch etwas zum Tathergang berichten?“
„Die Täterin ist äußerst heimtückisch, weil ich ihr nichts beweisen kann.“
„Der anzeigende Herr Heinen hält die Täterin für heimtückisch. Über den Tathergang als solchen kann er keine weiteren Aussagen machen, zumal er dabei immer sehr schnell ermüdet.“
Ob denn schon einmal etwas aus der Wohnung gestohlen worden sei, wollte der Beamte noch wissen.
„Nein, nur meine Energie!“
„Außer der Energie des offensichtlich um diese bestohlenen Herrn Heinen fehlt in seiner Wohnung nichts.“ Der Beamte sah ihn wieder über die Brille an.
„Doch, warten Sie. Ich meine das rote Kleid, dass meine Frau gestern Abend über ihren Stuhl im Schlafzimmer hängte, das fehlte heute Morgen.
„Welcher Jahrgang waren sie noch mal?“ Er suchte mit dem Finger auf dem oberen Teils des Anzeigenformulars. „Da steht es. Danach sind Sie jetzt fünfundsechzig.“ Er grinste, tippte, …im Schlafzimmer wurde nur ein rotes Kleid entwendet…, und hielt ihm die Anzeige zur Unterschrift hin.
Als Ewald Heinen sich von dem Beamten verabschiedete, trat der sehr nah an ihn heran und ließ ihn ganz im Vertrauen wissen, er gehe davon aus, die Verfolgung der Tat werde aller Wahrscheinlichkeit nach eingestellt. Energie-Diebstahl kenne er nur, wenn einer in einem Mietshaus die Stromzufuhr zu seiner eigenen Wohnung an die allgemeine Stromversorgung von Gemeinschaftseinrichtungen anklemme. Benzin werde auch schon einmal aus Autotanks geklaut oder Heizöl aus Heizöltanks. Aber persönliche Energie…, nein, das sei ihm in seiner über 30-jährigen Dienstzeit noch nie vorgekommen. Und wegen des Kleides sollte er doch noch einmal im Kleiderschrank seiner Frau nachsehen.
Ewald nickte und betonte, er habe die Anzeige auch nur aufgegeben, um nichts unversucht zu lassen, da er fürchte, in nächster Zukunft häufiger Opfer solcher Taten zu werden.
Der Beamte sah Ewald in die Augen und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.
„Schon klar. Und kommen Sie wieder, falls Sie die Täterin bei ihrer Tat beobachten konnten!“

Als Ewald aus der kühlen Polizeiwache auf die Straße kam, traf ihn die Mittagshitze wie ein Keulenschlag. Unvermittelt begann er zu schwitzen und ging ganz langsam zur nächsten Kneipe. Vor der Gaststätte standen zwei alte Kastanienbäume und darunter ein paar Tische und Bänke.
Alle Tische waren mit mehreren Gästen besetzt, nur an einem saß eine blonde Frau mittleren Alters allein und gähnte. Sie trug ein rotes Kleid, das ihm sofort bekannt und verdächtig vorkam.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Die Blonde taxierte ihn kurz, gähnte und nickte.
Ewald nahm ihr gegenüber Platz, sah vor sich auf den runden geschrubbten Holztisch, blickte kurz auf und in ein stark gebräuntes, erstaunlich faltenfreies Dekolleté und anschließend in das lächelnde Gesicht der eher dezent geschminkten Blondine, die sich die Finger vor den gähnenden Mund hielt. Ihre spitz zu gefeilten Fingernägel, sorgfältig rosa lackiert, glänzten in der Sonne.
Ewald konnte nicht widerstehen und gähnte mit.
Die blonde Frau sah ihm kurz in die Augen, nickte, schloss den Mund, um ihn kurz darauf wieder zum Sprechen zu öffnen. „Fürchterlich, nicht wahr? Diese Müdigkeit. Liegt wohl am Wetter!“
Ewald schüttelte den Kopf. „Immer soll das Wetter für alles herhalten. Mich überrascht die Müdigkeit schon morgens unmittelbar nach dem Aufwachen und das bei jedem Wetter.“
Die Blondine sah ihn aus großen blaugrünen Augen an. „Wenn ich ausgeschlafen wach werde, dann bin ich wach und nicht müde.“
„Sehen Sie, das unterscheidet uns. Ich schlafe tief und lange und wache dennoch müde auf. Und wenn ich mich in dem Zustand umsehe, erkenne ich meine Umwelt nur verschwommen.“
Sie lachte. „Das ging meinem letzten Freund auch so, wenn er am Abend zuvor viel getrunken hatte und morgens seine Brille nicht fand!“
„Ich trinke so gut wie nichts. Und außerdem brauche ich eigentlich noch keine Sehhilfe!“
„Wer wird sich denn gleich so aufregen? Sollte doch nur ein Scherz sein!“
Je länger Ewald die Frau ansah, desto mehr verschwammen ihre gut gerundeten Konturen. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. Für einen Moment sah er klarer. Dann wieder sehr undeutlich.
„Hat Sie schon mal jemand des Energiediebstahls beschuldigt?“
„Des was?“
„Nun, dass Sie ihm gegen seinen Willen Kraft entzogen.“
„Mein letzter Freund beklagte sich gelegentlich, ich würde viel zu viel von ihm wollen. Aber er hat dabei immer gelacht. Nicht, dass Sie jetzt denken, ich sei nymphoman. Im Gegenteil, mein Freund warf mir manchmal sogar vor, ich sei frigide, wenn er wollte und ich nicht! Und danach hat er dann immer gesoffen, weil er sich von mir nicht genug geliebt fühlte.“ Sie lachte.
„Sie haben sich wohl nicht sonderlich gut verstanden?“
„Das will ich nicht sagen. Wir hatten viel Spaß zusammen und nicht viel miteinander geredet und hatten kaum Krach…. Aber wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?“
Sie setzte sich sehr gerade hin, atmete ganz langsam tief ein und ebenso langsam wieder aus. Ihre Brust hob und senkte sich. Ewald versuchte, an ihrem Dekolleté vorbei zu sehen. „Sollten wir nicht mal was bestellen? Ich habe Durst. Trinken Sie ein Bier mit?“
Die Blonde nickte lächelnd. „Kein Bier, aber einen Sekt!“
Der Ober stand gerade an einem der Nebentische. Ewald rief ihn heran und bestellte.
Die blonde Frau wies mit ihrem Zeigefinger auf seinen Ehering. „Sind Sie verheiratet?“
„Nein. Den Ring trage ich, damit sich die Frauen keine falschen Hoffnungen machen.“
„Wieso, die besten Männer sind doch sowieso irgendwann alle verheiratet oder gebunden. Ich heiße übrigens Elena.“
Der Ober brachte Bier und ein Glas Sekt.
Ewald nannte zögernd seinen Vornamen und musste gähnen.
Elena sah ihn erstaunt an. „Langweile ich Sie?“
„Im Gegenteil. Ich finde Sie äußerst interessant.“
„Nur interessant. Hört sich für mich aber sehr ernüchternd an.“
„Na ja, ich finde Sie irgendwie reizend…, sympathisch…“ Ewald sah nur noch verschwommen Elenas Umrisse und musste sofort wieder gähnen.
„Ich finde Sie auch nett!“ sagte sie und Ewald konnte in ihrem Gesicht gerade noch ihr breites Grinsen erkennen. Dann schloss er die Augen, um sie nicht in ihrem Dekolleté zu verlieren. Als er die Augen wieder öffnete, sah er sich hastig nach dem Ober um und winkte ihm. „Zahlen, bitte!“
Der Ober kam, und als er ihm auf einen Zwanzig-Euro-Schein herausgeben wollte, verzichtet Ewald großzügig.
Der Ober bedankte sich überschwänglich und wünschte ihnen Beiden grinsend einen besonders schönen Abend.
Elena bedankt sich. Ewald hingegen stand schweigend auf, während sie sich hastig bei ihm einhakte. „Ich lade dich noch auf eine Flasche Rotwein bei mir ein!“
„Von mir aus!“ erwiderte Ewald müde. „Aber vorher muss ich noch schnell zur Polizei!“
Elena lachte und küsste ihn auf die Wange. „Ich liebe aufregende Krimis mit älteren kurzsichtigen Herren!“
 
H

HFleiss

Gast
Hallo Karl, so ganz komme ich mit deiner Geschichte nicht klar. Sie ist stilistisch wirklich gut geschrieben, sie spricht mich an. Und doch. Vielleicht kommt dein Anliegen nicht so gut rüber, der Energieklau. Es wird mir einfach zuviel geredet und zuwenig getan. Insofern lässt mich der Text nicht "dranbleiben", und das finde ich ziemlich schade.

Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
Dank für deine Anmerkungen.
genau das ist doch das Geheimnis des Energieklaus. Auch in unserer Welt wird doch viel zu viel geredet und nicht wirklich etwas getan. Wir leben m.E. in einer Wissengesellschaft, in der viel Wissen angesammelt, aber wenig Wissen angewendet wird.
Herzliche Grüße
Karl
 
H

HFleiss

Gast
Aber, Karl: Mit derselben Argumentation kannst du eine Geschichte geschreiben über einen müden Menschen, indem du deine Leser einschläferst.

Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
ja, du hast natürlich Recht. Meine Ausrede war recht billig.
Leider habe ich zurzeit ein wenig Stress und werde die Geschichte nicht so schnell überarbeiten können. Aber wenn ich Zeit habe, werde ich mich auch über diesen Text noch einmal hermachen.
Danke für deine Hartnäckigkeit.
Herzliche Grüße
Karl
 



 
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