Verpiss!

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Eine Band ohne Namen, nicht die Band ohne Namen, entert den ICE in Lüttich; samt Equipment, Tourmanager und Frontfrau.

Die vier Bandmitglieder sind tadellos alternativ gekleidet und alternativ frisiert. Einer hat das riesenhafte Baseball-Käppi im Stile der 80ger auf seinem Kopf abgelegt und auf halb acht gedreht, allesamt frisch geduscht und tadellos cool. Die Fróntdame très charmante, und das tadellose British ist einfach tadellos; sicher eine Band auf dem Weg nach oben, vorerst aber nach Köln.

Sie verstauen ihre Koffer der Firma Klobig und Co., dabei benehmen sie sich ausgesucht höflich, fast demütig, einfach nur lieb und leis’. Meine Stimme haben sie; ich verspüre Zuneigung auf den ersten Blick.

Hab ich schon erwähnt, comme charmante die Leadsängerin … und dann noch humpelnd und mit Krücke und heiserer Stimme, allerliebst die Süße, - sicher eine Bänderdehnung, im doppelten Sinne, gestern Abend auf der Bühne davongetragen. Alles gegeben, Stimme verloren, Herzen gewonnen. So stell ich mir das vor.

So scheu sie sich geben, soviel Unheil bringen sie über den Waggon.
Sie reisen wie es sein muss: nicht ohne Reservierung.
Sie sprechen halb-laut von ihren reservierten Plätzen 11-15, ohne die Leute, die diese besetzt halten, direkt darauf anzusprechen.

Das very britishe Gemurmel zeigt erste Wirkung: ein 49jähriges deutschstämmiges Pärchen verlässt knirschend die Plätze 11 und 12. Die Wife mag dabei denken: du und dein Knauserich!, die 3 € pro Reservierung hätten wir uns ruhig leisten können. Es fährt eh niemand nach Belgien, hast du gesagt - das mag sogar sein, aber was ist mit denen, die aus Belgien fahren, hast du daran mal gedacht, he?, jetzt können wir sehen wie wir stehen können. Aber aller stummer Protest nützt, versteht sich, nichts, denn mit Bahnfahren verhält es sich analog zum Schreiben: wer reserviert, der bleibt.

Es muss nicht extra beschrieben werden, dass ich den Platz Numero 15 unter meinem Besitz, präziser: unter meinem Gesäß, hatte.

Die unreservierten Fahrgäste 11-14 hat die Band, kusch-kusch, geschickt verscheucht, dann sofort die beinkranke gebettet, die Koffer, ohne viel Tamtam, sicherheitshalber angegurtet. Da blieb nur noch ich, nämlich sitzen.

Unverständnis, Unsicherheit, Unwohlsein spiegeln sich in den Gesichtern der bestimmt fantastischen Vier wider. Denn Ungemach steht an. Alle sind sie weg, nur der nicht. Ist er der berühmt-befürchtete Prozentsatz asozialer Menschen, den es in jeder Gesellschaft gibt?, denken sie von mir. Einer von Fünf missachtet immer die Regeln.

Das Räuspern und das Über-Platz-15-Reden nimmt an Vehemenz zu, da ich keineswegs höflich und offensiv meinen Platz hergebe. Ich mochte die britischen Musikanten, aber den Sitz, den ich seit Brüssel innehatte, mochte ich mehr.

Ich tue so als läse ich Tucholsky weiter und nichts mitbekomme. An echtes Lesen ist nicht zu denken, denn zwischen uns steigt die Spannung ins Reich des menschlich Unermesslichen. Selbst die Unbeteiligten spannen mit.

Ja nu, was nun? Die Jungs suchen Zuflucht beim Mädel, denn Mädels können mit zwischenmenschlichem Stress besser umgehen. Sie schauen sie an, die Einzigsitzende, und sie versteht wortlos, dass sie einen Auftrag hat. Ein wenig geräuspert, ein wenig auf dem Hosenboden hin und her gerutscht, ein wenig sich gesammelt, ein wenig von allem.
Schließlich erhebt sie sich und ihre heisere Stimme gegen mich. O wie lieblich die Heiserkeit, wie schön das bebrillte Auge, wie mitleiderregend die Krücke … zum Verlieben und Vernaschen:
„We’ve got a reservation for 11 to 15.“, freundlich, mit lächelnder Lippe, fast schüchtern verfolgt ihr Auge die Situation und mich. Denn wer weiß, vielleicht spreche ich kein Englisch, man hat ja von Belgiern in den letzten Jahren schon oft nichts Gutes gehört, oder bin ein boshafter Verrückter, der wahnsinnig geworden ist. Kann sie ja nicht wissen.

Ich schließe das Buch, ziehe eine Luftlinie durch die Nase und möchte schon antworten – da geschieht es. Plötzlich und heftig.

Der Herr, der mit der Band eingestiegen war, danach aber nicht weiter auffiel, höchstens durch seine Zurückhaltung, ergreift die Tat, ergreift den Schrei, den Anfall, jedenfalls nicht das Wort, und greift mich an. Er ist eine Generation älter als der Cliquendurchschnitt und als einziger ungeduscht. Gewiss der Tourmanager.

Ich darf übersetzen:
„Was der Fick ist das!“, segnet er mich auf seine Art, ein Krüppel von einer Haartolle klebt speckig an seiner Stirn. „Hölle, wir reden hier seit 5 Minuten über den gottverdammten Sitz, den wir fickenderweise verdammt noch mal reserviert haben! Hier ist ein Mädchen, und das ist verfickt verletzt, und du, Mann, sollst hier verloren gehen! Verpiss!“
In seinem Gesicht wütet der nackte Zorn.

Denkbar ist, dass er üblicherweise viel-viel charmanter ist, denn seine Schützlinge staunen Klotzbauten als sie ihn so sehen. Die Heisere scheint nun auch keine Spucke mehr zu haben.
Vielleicht, und nur vielleicht, hat ihn jemand belächelt als er ihm die Idee, die Europa-Tour mit dem Zug anzugehen, auftischte. Vielleicht war es auch die Band selbst, die ihn dafür nicht liebte, sondern bespöttelte. Vielleicht saß tief ein Stachel in ihm, den er zu vergessen suchte. Und dann kam ich und packte den Stachel und drehte ihn einmal kräftig in der Wunde herum. Wer schrie da nicht!

Ich ahne, dass der Kleine nicht körperlich wird und bleib gelassen.
„For what carriage?“, I ask him.
“Car 23.”, he sais.
“This is 24.”

Man hört die Band in Gedanken Oops! singen. Ihre Gesichter erröten leicht, denn die Peinlichkeit daselbst hatte ihre Haut berührt.
Der Manager hingegen erblasst, vielleicht ist ihm auch nur die Zornesröte aus dem Gesicht gerutscht.

Er räuspert den Frosch fort und sagt mit ihn verlassenden Kräften:
„Ich bin so leid. Ich bin wirklich so leid.“

Ist schon gut, macht nix, kann jedem passieren, denke ich bei mir und sage so was Ähnliches.
Sie packen sich, ihren Kram und die vorne und hinten kaputte Sängerin zusammen und wechseln so schnell die Krücken tragen den Waggon. Die vom Acker verscheuchten Krähen kehren leise krächzend zurück.
 

NicoD

Mitglied
Gratulation, schön geschrieben! Du hast eine Alltagsgeschichte mit einer guten Spannungskurve beschrieben. Zu meckern gibt es kaum etwas und ich erwähne es nur, damit Du nicht komplett abhebst: :)


Alle sind sie weg, nur der nicht
"der" kam mir in diesem Absatz nicht eindeutig genug vor. Wie wäre es mit "dieser eine da"?

Das Räuspern und das Über-Platz-15-Reden nimmt an Vehemenz zu, da ich keineswegs höflich und offensiv meinen Platz hergebe. Ich mochte die britischen Musikanten, aber den Sitz, den ich seit Brüssel innehatte, mochte ich mehr.

Kleiner Zeitenwechsel?

Ich tue so als läse ich Tucholsky weiter
Komma! Das fehlt, glaube ich, noch an ein paar anderen Stellen, aber ich war jetzt zu faul, alle zu suchen.

Weiter so,

NicoD
 

Inu

Mitglied
Wer bist Du, Bloody Mary?

Ob der Schreiber ein Ausländer ist, oder einer, der einfach nur vergnüglich mit der deutschen ( und anderen ) Sprache(n) herumspielt, ist mir gleich. Mir gefällt der Text in seiner ganzen Frische. Sicher, ein bisschen Überarbeitung ( auf Satzzeichen, Grammatik und so ) wäre nicht falsch. Aber das hier ist derart originell, farbig, voller Leben, ich vergesse die Mängel.

Liebe Grüße
Inu
 

GabiSils

Mitglied
Köstlich! Von der "tadellos alternativ" gekleideten Band bis zu "Man hört die Band in Gedanken Oops! singen" ein reines Vergnügen. :)
 

Inu

Mitglied
Blutige Marie

Plötzlich liest es sich viel glatter. Bild ich mir das ein? Hatte ich doch beim ersten Lesen das Gefühl, dass da noch Fehler und Stilblüten drin waren, als ob es von jemand geschrieben wäre, der zwar einen großen Wortschatz in Deutsch hat, dessen Hauptsprache es aber nicht ist. ;)

Oder hatte ich heute Morgen, als ich den Kommentar schrieb, Tomaten auf den Augen? Ich finde jetzt, auch grammatikalisch, nichts mehr zu bekritteln

Gruß
Inu
 
hallo leute, danke für die positve resonanz! ich bin jetzt angenhem von mir selbst überrascht. ;)

@NicoD: danke für die konkreten tipps. werde an dem "der" arbeiten, auch an den kommata. die zeitenwechsel waren mit absicht drin, wegen der fallunterscheidung: direkte story-handlung im präsenz und die eher "allgemeinen" gedankengänge im präteritum. aber wahrscheinlich kommt es nicht gut rüber. vielleicht sollte ich komplett drauf verzichten.

@Inu: ausländer bin ich nicht, aber man hat mir schon öfter vorgeworfen, mit der grammatik an die grenze zu gehen. ;)

ich danke allen kommentatoren nochmals. ich habe die story veröffentlicht, um kritische stimmen zu hören und mich im schreiben zu verbessern. offensichtlich ist das hier genau der richtige platz, um sich weiter zu entwickeln.

grüße,
blutige marie
 
M

Micha v.d. Rosenhöhe

Gast
Das ist ne schöne Story.. Gratuliere. ich finde die hat wirklich den richtigen Witz, zur rechten zeit.. Prima prima..
hätte ik nach de fucking titel nix gedacht..*hihi

wie hiess die Band...Dick brave and the london hillibillies*lach

weiter so.

gruß
micha
 
B

Burana

Gast
Herrlich! Ich mag Geschichten wie diese, bei denen der Schuss nach hinten losgeht... ;) Außerdem finde ich Deine 'Übersetzung' einfach göttlich.
Burana
 

Gorgonski

Mitglied
Hallo Marie

Eine gut geschriebene und mit geschickten Vergleichen gespickte Geschichte. Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen.

MfG; Rocco
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
räusper,

nach so viel positiver kritik wagt man kaum, den mund aufzumachen, aber der satz "mein Sitzplatz war mir lieber" suggeriert, dass der prot tatsächlich einen reservierten platz inne hatte. dann zu sagen, es wäre eine verwechslung des abteils, halte ich für ziemlich niederträchtig. und eine niedertracht belobige ich nicht.
lg
 
Hallo Gorgonski und flammarion,

danke für Eure Kommentare, Lob und Räuspern.

flammarion, auch kritische Kommentare empfinde ich als höflich. Also nur her mit Kritik.
Der Prot allerdings hat einen reservierten Platz, und niederträchtig verschickt wird niemand. Die Niedertracht fährt diesmal nicht mit. ;)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
gut,

dann ist das eben nicht niederträchtig.
aber wenn wir uns mal begegnen, dann nehme ich dir irgendwas weg, was du dir gerade gekauft hast, und wehe, du muckst auf. dann erinnere ich dich an diese geschichte.
was man bezahlt hat, gehört einem auch, und wer es einem streitig macht - na, was ist der für einer?
und sich dann auch noch hinter tucholsky verstecken!
lg
 

Rainer

Mitglied
hallo blutige marie,

meinen geschmack hast du nicht getroffen - aber das ist ja auch nicht sinn der sache :).
zu gewollt flapsig, für meine begriffe aufgesetzt wirkende jugendlichkeit, bemühte bilder...
...sowas lese ich (gottoderwerauchimmer sei dank nicht mehr)in fanzinen, clubflyern und gymnasialen schülerzeitungen. für dieses publikum mehr als okay, für mich gern etwas grotesker und origineller - aber bitte ohne dir deine mühen anmerken zu lassen.
trotz des gemeckers - flotte schreibe, da kann auch was für knacker wie mich draus werden.

gruß

rainer
 
M

Melusine

Gast
Lach.
Hi Blutige Marie,
sprachlich hätte ich ja das eine oder andere auszusetzen, aber ich mag keine Erbsen zählen. Die Story ist gut - und wirklich lustig.
LG Mel
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

melusine, auch zu dir werde ich kommen und dir etwas wegnehmen, was du dir gerade gekauft hast. du findest so was ja lustig.
lg
 
M

Melusine

Gast
@ flammarion

???
Es handelt sich in der Story ja offensichtlich um einen peinlichen Irrtum. Der Protagonist sitzt auf seinem reservierten Platz und eine Gruppe von Leuten, die im Nebenwaggon reserviert haben, wollen ihn vertreiben.
Im Übrigen kann auch etwas, was moralisch nicht einwandfrei ist, witzig erzählt sein. Lies mal Kishon, wenn du mir nicht glaubst.

Mel
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eben nicht.

der prot sitzt auf einem platz, den andere reserviert hatten. mich wundert nur, dass diese nicht zurückkamen und ihr recht in anspruch nahmen.
lg
 
M

Melusine

Gast
Liebe flammarion,
jetzt hast du mich verunsichert und ich las die Story noch einmal. Tu du es auch. Du irrst dich nämlich.
Der Irrtum ist natürlich vom Autor (der Autorin?) beabsichtigt, aber meiner Lesart nach ist es eindeutig und 100%ig klar: Der Protagonist hat Platz 15 in Wagen 24 reserviert, die Band Platz 11-15 in Wagen 23. Sie befinden sich im falschen Wagen.
(Siehe auch den Autorenkommentar an dich auf Seite 2. Ich hatte die Kommentare bisher nur flüchtig überflogen und eure Auseinandersetzung war mir entgangen.)

Nicht lustig wäre es allerdings, wäre der Protagonist ein schüchterner Mensch und würde sich vom Stimmgewaltigen von seinem angestammten und bezahlten Platz vertreiben lassen. Aber das wäre dann eine andere Geschichte ...
Okay, ein sehr sehr korrekter Mensch hätte freilich sofort auf den Irrtum hingewiesen, statt sich hinter Tucholsky zu verschanzen - aber Hölle, was der Fick?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
und

nun lies mal auch noch die kommentare, da gibt die blutige marie nämlich zu, dass der prot auf m reservierten platz sitzt und nur zu bequem war, ihn zu räumen.
lg
 



 
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