Verteidigungshaltung

Wieso liegt er in der Küche vor dem Kühlschrank? Werner Mastrichs Kopf dröhnt hohl. Nase und Wangen fühlen sich an, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Vorsichtig wischt er sich mit dem Taschentuch die Lippe unter der Nase. Kein Blut. Mühsam steht er auf.
In dem Moment fällt die Haustür mit lautem Knall ins Schloss. Ralf! Haut wohl ab, der Feigling?!
Gebrüllt hatte der. Wie ein gereizter Stier. „Scheißvater!“ Seine Augen sprühten Hass, einen Hass, den er noch nie in den Blicken seines Sohnes sah.
Werner Mastrich schlug zu. Musste zuschlagen. Mitten in den Hass. Mitten hinein. Ungebremst. Ja, seine Hand brannte noch von den schallenden Ohrfeigen.
Ralf hatte gestutzt, schlug zurück. Mit der Faust. Ihm ins Gesicht. Mehrmals.
Dabei ging Werner wohl zu Boden.
Sein Hintern schmerzt. Ob er ihn obendrein getreten hatte, als er schon am Boden lag?
Ralf, seit vorgestern gerade einmal sechzehn, war in den letzten Jahren äußerst reizbar. Hatte auch schon seine Mutter geschlagen. Zurückgeschlagen. Zuvor gab sie ihm eine Ohrfeige.
Humpelnd geht Werner Mastrich aus der Küche ins Wohnzimmer und setzt sich in den weichen Ohrensessel neben dem Kamin. Sein Hintern brennt. In dem weichen Polster ist der Schmerz erträglich.
Werner kommt sich vor wie damals, als sein Vater ihn verprügelt hatte. Der Alte mit seinen riesengroßen Tischlerhänden, gelb in den Innenflächen. Hornhaut. Er konnte unglaublich zuschlagen. Oft genug hielt der Alte ihm die Hände unter die Nase. „Hier mit kriegst du sie, wenn du nicht hören willst, was deine Mutter und ich dir sagen. Hiermit…! Haben wir uns verstanden?“
Es war klug, dann schweigend zu nicken. Jedes Wort konnte genau das falsche sein.

Ausgerechnet beim Elternabend in der Schule in der vergangenen Woche ging es noch um Gewalt. Werner hatte sie noch genau im Ohr, die unterwürfige Stimme von Bens Vaters. Ohne aufzusehen sprach der leise vor sich hin. „Ben muss doch irgendwie lernen sich durchzusetzen.“ Ben und Ralf sind seit dem Kindergarten Freunde.
Bens Klassenlehrerin, Frau Schätzke, hatte zum Elternabend der Klasse 10 einen vollbärtigen, grauhaarigen Psychologen aus der Katholischen Familien- und Erziehungsberatungsstelle eingeladen, den sie als „renommierten Gewaltexperten“ vorstellte und der sie umgehend korrigierte. Wenn überhaupt Experte, sei er kein Gewaltexperte sondern ein Fachmann für gewaltfreie Kommunikation. Lächelnd versuchte der Psychologe die Blicke der vor ihm sitzenden Mütter und Väter einzufangen.
Frau Schätzke ließ ihm dafür kaum Zeit und legte umgehend los. Ihre großen graugrünen Angstaugen weit aufgerissen, klagte sie hastig vor allem über ihre Schüler, betonte jedoch mehrfach, auch die Schülerinnen hätten inzwischen in Sachen Gewalt aufgeholt. Aber die Jungs, die würden noch nachtreten, selbst wenn einer schon hilflos am Boden liege, würden mit Messern drohen, erbarmungslos andere mit der Faust ins Gesicht schlagen und manches, was diese Kerle mit den Mädels veranstalteten, sei mehr als grenzwertig und könne eigentlich schon als sexuelle Nötigung angesehen werden. Neulich habe sie einem Schüler so eine Art Luft-Pistole abgenommen, die einer richtigen Waffe täuschend ähnlich gesehen habe. Und selbst sie als Lehrerin müsse sich von den Jungs Schimpfworte wie Arschloch, Zicke, Schlampe und Worte gefallen lassen, die sie vor den Eltern sich einfach nicht zu wiederholen traue. Da stehe sie manchmal vor diesen Bengeln und könne nur die Faust in der Tasche ballen.
Mathe- und Sportlehrer Goertz, noch ziemlich jung aussehend, Peppi Goertz, wie er von den Schülern genannt wurde, hatte sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet. Schließlich hob er lächelnd seine Hand. „Wenn ich da mal was sagen darf. Also, Jungs brauchen Raufereien. Das ist normal! Und Kraftausdrücke gehören auch dazu. Verflucht noch mal! Und außerdem, wir leben in einer Ellenbogengesellschaft. Und die, die haben wir Erwachsene geschaffen.“
Frau Schätzke verzog den Mund und sah schweigend die Mütter und Väter ihrer Schülerinnen und Schüler an, die ebenso schweigend vor ihr saßen und abwarteten.
Bens Vater hinten an der Wand des schmuddeligen Klassenzimmers rutschte auf einem unbequemen Schülerstuhl herum. Plötzlich drehten sich alle Eltern zu ihm um. Er sprang auf, blieb unschlüssig stehen, räusperte sich und versicherte leise, es gehe auch ihm wirklich darum, seinem Sohn friedliche Lösungen beizubringen. Er habe sogar schon unter Androhung von Schlägen seinem Sohn strikt verboten, sich zu schlagen. Aber ein Junge müsse sich doch nun mal auch durchzusetzen lernen.
Der grauhaarige Psychologe lächelte verzeihend. „Also, ich meine, Jugendliche müssen selbstbewusst werden. Halten Sie es nicht für widersinnig, einem Kind friedliche Lösungsmodelle unter Androhung von Gewalt beibringen zu wollen?“ Gewalt sei nun mal Unterdrückung und erzeuge vor allem Untertanen.
Alle Eltern nickten, die Mütter heftig, die Väter zögernd, und Frau Schätzke meinte bemerken zu müssen, sie habe einmal irgendwo gelesen, Gewalt sei eher ein Mittel der Schwachen.
Bens Vater setzte sich, verfolgte noch eine Zeit lang das Gespräch zwischen Eltern, Frau Schätzke und dem Psychologen, erhob sich plötzlich wieder und verließ grußlos das Klassenzimmer. Er warf die Klassentür von außen ins Schloss, öffnete sie noch einmal, steckte den Kopf herein und entschuldigte sich. Beim zweiten Versuch knallte die Tür kaum weniger heftig. Werner Mastrich sprang auf und wollte Bens Vater zurückholen.
Doch der Psychologe stellte sich Werner in den Weg, lächelte und sagte leise: „Er ist ein erwachsener Mann. Und wenn er gehen will, halten Sie ihn bitte nicht auf.
Werner setzte ich widerwillig.
Lenas Mutter, klein, drahtig, dunkelhaarig, hautenge schwarze Jeans und sehr hochhackige Lackstiefel, hatte zuvor gerade den Psychologen gefragt, woher denn die Gewalteskalation in diesem Gymnasium kommen könne.
Der noch immer lächelnde Psychologe zuckte mit den Schultern. „Aus Opfern werden Täter.“
„Aber Sie glauben doch nicht wirklich, dass alle Jungen nur die Schläge austeilen, die sie selbst einmal bekommen haben?“ wandte Werner Mastrich zögernd ein. „Mein Vater hat auch geschlagen. Selten, aber dann kräftig. Und ich prügele heute weder mich noch meine Söhne.“
Werner sagte es voller Überzeugung und schlug sich dabei mit der rechten Faust so heftig in die offene linke Hand, das sie zu schmerzen begann.
„Wer zudem noch nicht genug Zuwendung von seinen Eltern bekommt, wird endgültig zum Opfer. Er verhungert sozusagen emotional und kann selbst nicht mehr zugewandt sein, verstehen Sie?“ Zur Illustration seiner Worte breitete der Psychologe die Arme aus, um ganz langsam, den leeren Luftraum vor sich zu umarmen.
„Kinder brauchen das Gefühl, von starken Eltern getragen zu werden. Verstehen Sie?“
„Ich liebe meinen Sohn.“ Erwiderte Werner Mastrich. „Sehr sogar. Und als er klein war, habe ich ihn im Tragetuch und später auf meinen Schultern getragen.“
„Körperliche Nähe gibt ein gutes Körpergefühl. Und gutes Körpergefühl macht selbstbewusst!“ lobte ihn der Psychologe.

Der weiche Wohnzimmersessel lässt Werner inzwischen fast schmerzfrei sitzen. Er sieht zur Standuhr, die er von seinem Vater erbte. Seine Urgroßeltern hatten sie angeblich ersteigert. Soll in einem Gutshaus gestanden haben. Das Landadelsgeschlecht war angeblich ausgestorben.
Kurz nach Drei. Ralf ist vor gut zwei Stunden abgehauen.
Wo treibt der sich jetzt herum?
Es klingelt an der Wohnungstür. Werner Mastrich steht langsam auf und humpelte in den Flur. Es klingelt ein weiteres Mal und schließlich Sturm. Werner sieht durch den Spion. Ralf! „Papa! Mach auf!“ Er klopft gegen die Tür. Von Mal zu Mal lauter.
Werner wartet lange. Schließlich drückt er die Türklinke herunter und Ralf, der sich gegen die Tür stemmt, stürzt in den Flur, rutscht auf dem Teppich über den glatten Parkettboden auf seinen Vater zu, bleibt unmittelbar vor ihm liegen. Unwillkürlich holt Werner mit dem rechten Bein aus, will Ralf in den Rücken zu treten. Kann sich kaum beherrschen.
„Tritt mich doch!“ schreit Ralf und sieht mit dem Blick eines schon geschlagenen Hundes zu ihm auf. „Los, tritt mich.“
Werner stupst seinen Sohn leicht mit dem Fuß in den Hintern, kniet sich hastig hin, wirft sich über Ralf. Umarmt ihn. Und sie beginnen gleichzeitig zu weinen.
 
Wieso liegt er in der Küche vor dem Kühlschrank? Werner Mastrichs Kopf dröhnt. Als sei er gegen eine Wand gelaufen. Vorsichtig wischt er sich mit dem Taschentuch die Lippe unter der Nase. Kein Blut.
Mühsam steht er auf.
Die Haustür kracht ins Schloss. Ralf! Haut ab, der Feigling?!
Gebrüllt hatte der. Wie ein gereizter Stier. „Scheißvater!“ Seine Augen sprühten Hass, einen Hass, den er vorher nie in den Blicken seines Sohnes sah.
Werner Mastrich schlug zu. Musste zuschlagen. Mitten in den Hass. Mitten hinein. Ungebremst. Seine Hand brannte noch von den schallenden Ohrfeigen.
Ralf hatte gestutzt, schlug zurück. Mit der Faust. Ihm ins Gesicht. Mehrmals.
Dabei ging Werner wohl zu Boden.
Sein Hintern schmerzt. Ob er ihn getreten hatte, als er schon am Boden lag?
Ralf, seit vorgestern gerade einmal sechzehn, war in den letzten Jahren äußerst reizbar. Hatte auch schon seine Mutter geschlagen. Zurückgeschlagen. Zuvor gab sie ihm eine Ohrfeige.
Humpelnd geht Werner Mastrich aus der Küche ins Wohnzimmer und setzt sich in den weichen Ohrensessel neben dem Kamin. Sein Hintern brennt. In dem weichen Polster ist der Schmerz erträglich.
Er kommt sich vor wie damals, als sein Vater ihn verprügelt hatte. Der Alte mit seinen riesengroßen Tischlerhänden, gelb in den Innenflächen. Hornhaut. Konnte unglaublich zuschlagen. Oft genug hielt der Alte ihm die Hände unter die Nase. „Riech mal, hiermit kriegst du sie, wenn du nicht hören willst, was deine Mutter und ich dir sagen. Hiermit…! Haben wir uns verstanden?“
Es war klug, schweigend zu nicken. Jedes Wort konnte genau das falsche sein.

Ausgerechnet beim Elternabend in der vergangenen Woche ging es noch um Gewalt. Werner hatte sie noch genau im Ohr, die unterwürfige Stimme von Bens Vaters. Ohne aufzusehen sprach der leise vor sich hin. „Ben muss doch irgendwie lernen sich durchzusetzen.“ Ben und Ralf sind seit dem Kindergarten Freunde.
Bens Klassenlehrerin, Frau Schätzke, hatte zum Elternabend der Klasse 10 einen vollbärtigen, grauhaarigen Psychologen aus der Katholischen Familien- und Erziehungsberatungsstelle eingeladen. Stellte ihn als „renommierten Gewaltexperten“ vor. Der korrigierte sie umgehend. Wenn überhaupt Experte, sei er kein Gewaltexperte sondern Fachmann für gewaltfreie Kommunikation. Lächelnd versuchte der Psychologe die Blicke der vor ihm sitzenden Mütter und Väter einzufangen.
Frau Schätzke ließ ihm kaum Zeit dafür. Ihre großen graugrünen Angstaugen weit aufgerissen, klagte sie vor allem über ihre Schüler, betonte jedoch mehrfach, auch die Schülerinnen hätten inzwischen in Sachen Gewalt aufgeholt. Aber die Jungs, die würden noch nachtreten, selbst wenn einer schon hilflos am Boden liege, würden mit Messern drohen, erbarmungslos andere mit der Faust ins Gesicht schlagen und manches, was diese Kerle mit den Mädels veranstalteten, sei mehr als grenzwertig und könne schon als sexuelle Nötigung angesehen werden. Neulich habe sie einem Schüler so eine Art Luft-Pistole abgenommen, die einer richtigen Waffe täuschend ähnlich gesehen habe. Und selbst sie als Lehrerin müsse sich von den Jungs Schimpfworte wie Arschloch, Zicke, Schlampe und Worte gefallen lassen, die sie vor den Eltern sich nicht zu wiederholen traue. Da stehe sie manchmal vor diesen Bengeln und könne nur die Faust in der Tasche ballen.
Mathe- und Sportlehrer Goertz, noch ziemlich jung aussehend, Peppi Goertz von den Schülern genannt, hatte sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet. Schließlich hob er lächelnd seine Hand. „Wenn ich da mal was sagen darf. Also, Jungs brauchen Raufereien. Das ist normal! Und Kraftausdrücke gehören auch dazu. Verflucht noch mal! Und außerdem, wir leben in einer Ellenbogengesellschaft. Und die, die haben wir Erwachsene geschaffen.“
Frau Schätzke verzog den Mund und sah schweigend die Mütter und Väter an, die ebenso schweigend vor ihr saßen.
Bens Vater hinten an der schmuddligen Wand des Klassenzimmers rutschte auf einem unbequemen Schülerstuhl herum. Plötzlich drehten sich alle Eltern zu ihm um. Er sprang auf, blieb unschlüssig stehen, räusperte sich und versicherte leise, es gehe auch ihm darum, seinem Sohn friedliche Lösungen beizubringen. Er habe schon unter Androhung von Schlägen seinem Sohn strikt verboten, sich zu schlagen. Aber ein Junge müsse sich doch auch durchzusetzen lernen.
Der grauhaarige Psychologe lächelte verzeihend. „Klar müssen Jugendliche selbstbewusst werden. Aber halten Sie es nicht für widersinnig, einem Kind friedliche Lösungsmodelle unter Androhung von Gewalt beibringen zu wollen?“ Gewalt sei nun mal Unterdrückung und erzeuge vor allem Untertanen.
Alle Eltern nickten, die Mütter heftig, die Väter zögernd, und Frau Schätzke meinte bemerken zu müssen, sie habe einmal irgendwo gelesen, Gewalt sei eher ein Mittel der Schwachen.
Bens Vater setzte sich, verfolgte noch eine Zeit das Gespräch zwischen Eltern, Frau Schätzke und dem Psychologen, erhob sich plötzlich wieder und verließ grußlos das Klassenzimmer. Er warf die Klassentür von außen zu, öffnete sie noch einmal, steckte den Kopf herein und entschuldigte sich. Beim zweiten Versuch knallte die Tür kaum weniger heftig. Werner Mastrich sprang auf. Wollte Bens Vater zurückholen.
Doch der Psychologe stellte sich Werner in den Weg, lächelte und sagte leise: „Er ist ein erwachsener Mann. Wenn er gehen will, halten wir ihn nicht auf.“
Widerwillig setzte Werner sich.
Lenas Mutter, klein, drahtig, dunkelhaarig, hautenge schwarze Jeans und sehr hochhackige Lackstiefel, hatte zuvor gerade den Psychologen gefragt, woher denn die Gewalteskalation in diesem Gymnasium kommen könne.
Der noch immer lächelnde Psychologe zuckte mit den Schultern. „Aus Opfern werden Täter.“
„Aber Sie glauben doch nicht wirklich, dass alle Jungen nur die Schläge austeilen, die sie selbst einmal bekommen haben? Mein Vater hat auch geschlagen. Selten, aber kräftig. Und ich prügele heute weder mich noch meine Söhne.“ Werner schlug sich mit der rechten Faust so heftig in die offene linke Hand, dass sie zu schmerzen begann.
„Wer zudem noch nicht genug Zuwendung von seinen Eltern bekommt, wird endgültig zum Opfer. Er verhungert sozusagen emotional und kann selbst nicht mehr zugewandt sein, verstehen Sie?“ Zur Illustration seiner Worte breitete der Psychologe die Arme aus, um ganz langsam den leeren Luftraum vor sich zu umarmen.
„Kinder brauchen das Gefühl, von starken Eltern getragen zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Ich liebe meinen Sohn. Sehr sogar. Und als er klein war, habe ich ihn im Tragetuch und später auf meinen Schultern getragen.“
„Körperliche Nähe gibt ein gutes Körpergefühl. Und gutes Körpergefühl macht selbstbewusst!“ lobte ihn der Psychologe.

Der weiche Wohnzimmersessel lässt Werner inzwischen schmerzfrei sitzen. Er sieht zur Standuhr, die er von seinem Vater erbte.
Kurz nach Drei. Ralf ist vor gut zwei Stunden abgehauen.
Wo treibt der sich jetzt herum?
Es klingelt an der Wohnungstür. Werner Mastrich steht auf und humpelte in den Flur. Es klingelt ein weiteres Mal, schließlich Sturm. Werner sieht durch den Spion. Ralf! „Papa! Mach auf!“ Sein Sohn klopft gegen die Tür. Lauter und lauter.
Werner wartet, drückt schließlich die Türklinke herunter. Ralf, der sich gegen die Tür stemmte, stürzt in den Flur, rutscht auf dem Teppich über den glatten Parkettboden auf seinen Vater zu, bleibt vor ihm liegen. Werner holt mit dem rechten Bein aus.
„Tritt mich doch!“ schreit Ralf und sieht mit dem Blick eines schon geschlagenen Hundes zu ihm auf. „Los, tritt mich.“
Werner stupst seinen Sohn leicht mit dem Fuß in den Hintern, kniet sich hastig hin, wirft sich über Ralf. Umarmt ihn. Und sie beginnen gleichzeitig zu weinen.
 
Eigentlich hatte Werner Mastrich immer geglaubt, ein Sohn brauche nicht viele Worte, um seinen Vater zu verstehen. Doch gestern lag er allein in der Küche. Vor dem Kühlschrank. War sich noch nie so allein vorgekommen. Der Kopf dröhnte, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Vorsichtig wischte er sich mit dem Handrücken über die Unterlippe und die Nase. Kein Blut.
Mühsam stand er auf. Erschrak. Die Haustür krachte ins Schloss. Ralf! Er haute ab. Ohne ein Wort zu sagen.
Gebrüllt hatte er. Vorher. Wie ein gereizter Stier. „Du Arschloch! Scheißvater!“ Seine Augen sprühten Hass. Unbändiger Hass, den er vorher nie in seinen Blicken sah.
Da musste Werner Mastrich zuschlagen. Mitten in den Hass.
Wieder verkrampfte sich seine Hand zur Faust. Schmerzte noch.
Ralf stutzte, schlug zurück. Zweimal mit beiden Fäusten.
Dabei musste Werner zu Boden gegangen sein.
Sein Hintern brannte. Ob Ralf ihn noch getreten hatte, als er schon am Boden lag?
Ralf, seit vorgestern gerade einmal sechzehn, war in den letzten Jahren äußerst reizbar.
Hatte auch schon seine Mutter geschlagen. Damals kurz vor ihrer Scheidung, er war gerade dreizehn.
Ralf hatte sich entschieden nach der Scheidung bei ihm zu bleiben. Ohne wirkliche Begründung. „Weil ich bei dir bleiben will, Papa!“
Werner Mastrich hatte nicht damit gerechnet.

Humpelnd ging Werner aus der Küche ins Wohnzimmer und setzte sich in den weichen Ohrensessel neben dem Kamin. Sein Hintern brannte immer noch. In dem weichen Polster war der Schmerz erträglich.
Sein Vater, der Alte mit seinen riesengroßen Tischlerhänden, gelb in den Innenflächen, voller Hornhaut, hielt ihm oft die Hände unter die Nase. „Riech mal, hiermit kriegst du sie, wenn du nicht hören willst, was ich dir sage. Hiermit…! Haben wir uns verstanden?“ Meistens bekam Werner Schläge, ohne dass sein Vater vorher mit ihm sprach. Und nachher behauptete er: „Du weißt schon wofür du sie gekriegt hast?!“ Manchmal fiel ihm dann ein, dass er vergaß, die Schuhe des Vaters zu putzen. Oft wusste er es wirklich nicht. Es war sinnlos, nach dem Grund zu fragen. „Soll ich dich schlagen, bis es dir einfällt?“ Bei dieser Gegenfrage erhob sein Vater schon wieder die rechte Hand. Er schlug immer zuerst mit der rechten.

Beim Elternabend in der vergangenen Woche ging es um Gewalt. Werner hatte sie noch genau im Ohr, die unterwürfige Stimme von Bens Vaters. Ben und Ralf sind seit dem Kindergarten Freunde. Werner und Dieter - Bens Vater – waren die beiden einzigen Väter an dem Abend. Sie gingen schon mal zusammen ein Bier trinken. Auch an diesem Abend hatten sie sich für danach verabredet.
Ohne aufzusehen sprach Dieter vor sich hin. „Ben muss doch lernen sich durchzusetzen.“
Bens und Ralfs Klassenlehrerin, Frau Schätzke, hatte zum Elternabend der Klasse 10 einen vollbärtigen, grauhaarigen Psychologen von der Katholischen Familien- und Erziehungsberatungsstelle eingeladen. Stellte ihn als „renommierten Gewaltexperten“ vor. Der korrigierte sie umgehend. Wenn überhaupt Experte, kein Gewaltexperte sondern Fachmann für gewaltfreie Kommunikation. Lächelnd versuchte der Psychologe die Blicke der vor ihm sitzenden Mütter und Väter einzufangen. Werner war er sofort unsympathisch.
Frau Schätzke, ihre großen graugrünen Angstaugen weit aufgerissen, begann vor allem über ihre Schüler zu klagen, betonte jedoch mehrfach, auch die Schülerinnen hätten inzwischen in Sachen Gewalt aufgeholt. Aber die Jungs, die würden noch nachtreten, selbst wenn einer hilflos am Boden liege, würden mit Messern drohen, erbarmungslos andere mit der Faust ins Gesicht schlagen und manches, was diese Kerle mit den Mädels veranstalteten, sei mehr als grenzwertig und könne als sexuelle Nötigung angesehen werden. Und selbst sie als Lehrerin müsse sich von den Jungs Schimpfworte wie Arschloch, Zicke, Schlampe und Worte gefallen lassen, die sie vor den Eltern sich nicht zu wiederholen traue.
Mathe- und Sportlehrer Goertz, noch ziemlich jung aussehend, von den Schülern Peppi Goertz genannt, hob lächelnd seine Hand. „Wenn ich da mal was sagen darf. Also, Jungs brauchen Raufereien. Ist doch normal! Und ein paar Kraftausdrücke gehören auch dazu. Verflucht noch mal! Und außerdem, wir leben in einer Ellenbogengesellschaft. Und die, die haben wir Erwachsene geschaffen.“
Frau Schätzke verzog den Mund und sah schweigend die Mütter und Väter an, die ebenso schweigend vor ihr saßen.
Bens Vater hinten an der schmuddligen Wand des Klassenzimmers rutschte auf einem unbequemen Schülerstuhl herum. Plötzlich drehten sich alle Eltern zu ihm um. Er sprang auf, blieb unschlüssig stehen, räusperte sich und versicherte leise, es gehe auch ihm darum, seinem Sohn friedliche Lösungen beizubringen. Unter Androhung von Schlägen habe er seinem Sohn strikt verboten, sich zu schlagen. Aber ein Junge müsse sich auch durchzusetzen lernen.
Der grauhaarige Psychologe lächelte verzeihend. „Klar müssen Jugendliche selbstbewusst werden. Aber halten Sie es nicht für widersinnig, einem Kind friedliche Lösungsmodelle unter Androhung von Gewalt beibringen zu wollen?“ Gewalt sei Unterdrückung und erzeuge vor allem Untertanen.
„Haben Sie Kinder?“ wollte Werner Mastrich wissen. Der Psychologe schüttelte den Kopf. „Man braucht keine eigenen Kinder zu haben, um zu wissen, dass Gewalt in der Erziehung nicht erfolgreich sein kann.“
Alle Mütter nickten. Frau Schätzke meinte bemerken zu müssen, sie habe einmal irgendwo gelesen, Gewalt sei ein Mittel der Schwachen.
Bens Vater stand noch immer, setzte sich zögernd, verfolgte das Gespräch zwischen Eltern, Frau Schätzke und dem Psychologen, erhob sich plötzlich wieder, verließ grußlos das Klassenzimmer, warf die Klassentür von außen zu, öffnete sie noch einmal, steckte den Kopf herein und entschuldigte sich. Beim zweiten Versuch knallte die Tür kaum weniger heftig. Werner Mastrich sprang auf. Wollte Bens Vater zurückholen.
Doch der Psychologe stellte sich Werner in den Weg, lächelte und sagte leise: „Er ist ein erwachsener Mann. Wenn er gehen will, halten wir ihn nicht auf.“
„Wenn ich ihn aber holen will?“ „Brauchen Sie seine Hilfe?“ Werner blieb einem Moment schweigend vor dem Psychologen stehen, spürte einen stechenden Schmerz im Magen, zuckte schließlich mit den Schultern und setzte sich widerwillig.
Lenas Mutter, klein, drahtig, dunkelhaarig, hautenge schwarze Jeans und sehr hochhackige Lackstiefel, wollte anschließend wissen, woher denn die Gewalteskalation an diesem Gymnasium komme.
Der noch immer lächelnde Psychologe zuckte mit den Schultern. „Aus Opfern werden Täter.“
„Sie glauben doch nicht wirklich, dass alle Jungen nur die Schläge austeilen, die sie selbst einmal bekommen haben? Mein Vater hat auch geschlagen. Selten, aber kräftig. Und ich prügele heute weder mich noch meine Söhne.“ Werner schlug sich mit der rechten Faust so heftig in die offene linke Hand, dass sie zu schmerzen begann.
„Wer zudem nicht genug Zuwendung von seinen Eltern bekommt, wird endgültig zum Opfer. Er verhungert sozusagen emotional und kann selbst nicht mehr zugewandt sein, verstehen Sie?“ Zur Illustration seiner Worte breitete der Psychologe beide Arme aus, um langsam den leeren Luftraum vor sich zu umarmen.
„Kinder brauchen das Gefühl, von starken Eltern getragen zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Als mein Sohn klein war, habe ich ihn im Tragetuch und später auf den Schultern getragen.“
„Körperliche Nähe gibt gutes Körpergefühl. Und gutes Körpergefühl macht selbstbewusst!“ lobte ihn der Psychologe.

Trotz des weichen Wohnzimmersessels spürt Werner noch immer seinen schmerzenden Hintern. Er sieht zur Standuhr, die er von seinem Vater erbte.
Kurz nach Drei. Genau um die Zeit haute Ralf gestern ab.
Ralf war noch nie weg gegangen, ohne ihm vorher zu sagen, wohin er gehen wollte.
Es klingelt an der Wohnungstür. Werner Mastrich steht auf und humpelte in den Flur. Es klingelt ein weiteres Mal. Werner sieht durch den Spion. Ralf! „Papa! Mach auf!“ Sein Sohn klopft gegen die Tür. Lauter und lauter.
Werner wartet, drückt schließlich die Türklinke herunter. Ralf, der sich gegen die Tür stemmte, stürzt in den Flur, rutscht auf dem Teppich aus und über den glatten Parkettboden auf seinen Vater zu, bleibt vor ihm liegen. Werner holt mit dem rechten Bein aus.
„Tritt mich!“ schreit Ralf und sieht mit dem Blick eines geschlagenen Hundes zu ihm auf. „Los, tritt mich.“
Werner schüttelt den Kopf, sieht auf seinen Sohn herab, gibt ihm die Hand und zieht ihn hoch. „Ich glaube, wir müssen reden.“
„Und über was?“
„Weiß ich jetzt noch nicht.“
 
Eigentlich hatte Werner Mastrich immer geglaubt, ein Sohn brauche nicht viele Worte, um seinen Vater zu verstehen. Doch gestern lag er allein in der Küche. Vor dem Kühlschrank. War sich noch nie so allein vorgekommen. Der Kopf dröhnte, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Vorsichtig wischte er sich mit dem Handrücken über die Unterlippe und die Nase. Kein Blut.
Mühsam stand er auf. Erschrak. Die Haustür krachte ins Schloss. Ralf! Er haute ab. Ohne ein Wort zu sagen.
Gebrüllt hatte er. Vorher. Wie ein gereizter Stier. „Du Arschloch! Scheißvater!“ Seine Augen sprühten Hass. Unbändiger Hass, den er vorher nie in seinen Blicken sah.
Da musste Werner Mastrich zuschlagen. Mitten in den Hass.
Wieder verkrampfte sich seine Hand zur Faust. Schmerzte noch.
Ralf stutzte, schlug zurück. Zweimal mit beiden Fäusten.
Dabei musste Werner zu Boden gegangen sein.
Sein Hintern brannte. Ob Ralf ihn noch getreten hatte, als er schon am Boden lag?
Ralf, seit vorgestern gerade einmal sechzehn, war in den letzten Jahren äußerst reizbar.
Hatte auch schon seine Mutter geschlagen. Damals kurz vor ihrer Scheidung, er war gerade dreizehn.
Ralf hatte sich entschieden nach der Scheidung bei ihm zu bleiben. Ohne wirkliche Begründung. „Weil ich bei dir bleiben will, Papa!“
Werner Mastrich hatte nicht damit gerechnet.

Humpelnd ging Werner aus der Küche ins Wohnzimmer und setzte sich in den weichen Ohrensessel neben dem Kamin. Sein Hintern brannte immer noch. In dem weichen Polster war der Schmerz erträglich.
Sein Vater, der Alte mit seinen riesengroßen Tischlerhänden, gelb in den Innenflächen, voller Hornhaut, hielt ihm oft die Hände unter die Nase. „Riech mal, hiermit kriegst du sie, wenn du nicht hören willst, was ich dir sage. Hiermit…! Haben wir uns verstanden?“ Meistens bekam Werner Schläge, ohne dass sein Vater vorher mit ihm sprach. Und nachher behauptete er: „Du weißt schon wofür du sie gekriegt hast?!“ Manchmal fiel ihm dann ein, dass er vergaß, die Schuhe des Vaters zu putzen. Oft wusste er es wirklich nicht. Es war sinnlos, nach dem Grund zu fragen. „Soll ich dich schlagen, bis es dir einfällt?“ Bei dieser Gegenfrage erhob sein Vater schon wieder die rechte Hand. Er schlug immer zuerst mit der rechten.

Beim Elternabend in der vergangenen Woche ging es um Gewalt. Werner hatte sie noch genau im Ohr, die unterwürfige Stimme von Bens Vaters. Ben und Ralf sind seit dem Kindergarten Freunde. Werner und Dieter - Bens Vater – waren die beiden einzigen Väter an dem Abend. Sie gingen schon mal zusammen ein Bier trinken. Auch an diesem Abend hatten sie sich für danach verabredet.
Ohne aufzusehen sprach Dieter vor sich hin. „Ben muss doch lernen sich durchzusetzen.“
Bens und Ralfs Klassenlehrerin, Frau Schätzke, hatte zum Elternabend der Klasse 10 einen vollbärtigen, grauhaarigen Psychologen von der Katholischen Familien- und Erziehungsberatungsstelle eingeladen. Stellte ihn als „renommierten Gewaltexperten“ vor. Der korrigierte sie umgehend. Wenn überhaupt Experte, kein Gewaltexperte sondern Fachmann für gewaltfreie Kommunikation. Lächelnd versuchte der Psychologe die Blicke der vor ihm sitzenden Mütter und Väter einzufangen. Werner war er sofort unsympathisch.
Frau Schätzke, ihre großen graugrünen Angstaugen weit aufgerissen, begann vor allem über ihre Schüler zu klagen, betonte jedoch mehrfach, auch die Schülerinnen hätten inzwischen in Sachen Gewalt aufgeholt. Aber die Jungs, die würden noch nachtreten, selbst wenn einer hilflos am Boden liege, würden mit Messern drohen, erbarmungslos andere mit der Faust ins Gesicht schlagen und manches, was diese Kerle mit den Mädels veranstalteten, sei mehr als grenzwertig und könne als sexuelle Nötigung angesehen werden. Und selbst sie als Lehrerin müsse sich von den Jungs Schimpfworte wie Arschloch, Zicke, Schlampe und Worte gefallen lassen, die sie vor den Eltern sich nicht zu wiederholen traue.
Mathe- und Sportlehrer Goertz, noch ziemlich jung aussehend, von den Schülern Peppi Goertz genannt, hob lächelnd seine Hand. „Wenn ich da mal was sagen darf. Also, Jungs brauchen Raufereien. Ist doch normal! Und ein paar Kraftausdrücke gehören auch dazu. Verflucht noch mal! Und außerdem, wir leben in einer Ellenbogengesellschaft. Und die, die haben wir Erwachsene geschaffen.“
Frau Schätzke verzog den Mund und sah schweigend die Mütter und Väter an, die ebenso schweigend vor ihr saßen.
Bens Vater hinten an der schmuddligen Wand des Klassenzimmers rutschte auf einem unbequemen Schülerstuhl herum. Plötzlich drehten sich alle Eltern zu ihm um. Er sprang auf, blieb unschlüssig stehen, räusperte sich und versicherte leise, es gehe auch ihm darum, seinem Sohn friedliche Lösungen beizubringen. Unter Androhung von Schlägen habe er seinem Sohn strikt verboten, sich zu schlagen. Aber ein Junge müsse sich auch durchzusetzen lernen.
Der grauhaarige Psychologe lächelte verzeihend. „Klar müssen Jugendliche selbstbewusst werden. Aber halten Sie es nicht für widersinnig, einem Kind friedliche Lösungsmodelle unter Androhung von Gewalt beibringen zu wollen?“ Gewalt sei Unterdrückung und erzeuge vor allem Untertanen.
„Haben Sie Kinder?“ wollte Werner Mastrich wissen. Der Psychologe schüttelte den Kopf. „Man braucht keine eigenen Kinder zu haben, um zu wissen, dass Gewalt in der Erziehung nicht erfolgreich sein kann.“
Alle Mütter nickten. Frau Schätzke meinte bemerken zu müssen, sie habe einmal irgendwo gelesen, Gewalt sei ein Mittel der Schwachen.
Bens Vater stand noch immer, setzte sich zögernd, verfolgte das Gespräch zwischen Eltern, Frau Schätzke und dem Psychologen, erhob sich plötzlich wieder, verließ grußlos das Klassenzimmer, warf die Klassentür von außen zu, öffnete sie noch einmal, steckte den Kopf herein und entschuldigte sich. Beim zweiten Versuch knallte die Tür kaum weniger heftig. Werner Mastrich sprang auf. Wollte Bens Vater zurückholen.
Doch der Psychologe stellte sich Werner in den Weg, lächelte und sagte leise: „Er ist ein erwachsener Mann. Wenn er gehen will, halten wir ihn nicht auf.“
„Wenn ich ihn aber holen will?“ „Brauchen Sie seine Hilfe?“ Werner blieb einem Moment schweigend vor dem Psychologen stehen, spürte einen stechenden Schmerz im Magen, zuckte schließlich mit den Schultern und setzte sich widerwillig.
Lenas Mutter, klein, drahtig, dunkelhaarig, hautenge schwarze Jeans und sehr hochhackige Lackstiefel, wollte anschließend wissen, woher denn die Gewalteskalation an diesem Gymnasium komme.
Der noch immer lächelnde Psychologe zuckte mit den Schultern. „Aus Opfern werden Täter.“
„Sie glauben doch nicht wirklich, dass alle Jungen nur die Schläge austeilen, die sie selbst einmal bekommen haben? Mein Vater hat auch geschlagen.Und ich prügele heute weder mich noch meinen Sohn.“ Werner schlug sich mit der rechten Faust so heftig in die offene linke Hand, dass sie zu schmerzen begann.
„Wer zudem nicht genug Zuwendung von seinen Eltern bekommt, wird endgültig zum Opfer. Er verhungert sozusagen emotional und kann selbst nicht mehr zugewandt sein, verstehen Sie?“ Zur Illustration seiner Worte breitete der Psychologe beide Arme aus, um langsam den leeren Luftraum vor sich zu umarmen.
„Kinder brauchen das Gefühl, von starken Eltern getragen zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Als mein Sohn klein war, habe ich ihn im Tragetuch und später auf den Schultern getragen.“
„Körperliche Nähe gibt gutes Körpergefühl. Und gutes Körpergefühl macht selbstbewusst!“ lobte ihn der Psychologe.

Trotz des weichen Wohnzimmersessels spürt Werner noch immer seinen schmerzenden Hintern. Er sieht zur Standuhr, die er von seinem Vater erbte.
Kurz nach Drei. Genau um die Zeit haute Ralf gestern ab.
Ralf war noch nie weg gegangen, ohne ihm vorher zu sagen, wohin er gehen wollte.
Es klingelt an der Wohnungstür. Werner Mastrich steht auf und humpelte in den Flur. Es klingelt ein weiteres Mal. Werner sieht durch den Spion. Ralf! „Papa! Mach auf!“ Sein Sohn klopft gegen die Tür. Lauter und lauter.
Werner wartet, drückt schließlich die Türklinke herunter. Ralf, der sich gegen die Tür stemmte, stürzt in den Flur, rutscht auf dem Teppich aus und über den glatten Parkettboden auf seinen Vater zu, bleibt vor ihm liegen. Werner holt mit dem rechten Bein aus.
„Tritt mich!“ schreit Ralf und sieht mit dem Blick eines geschlagenen Hundes zu ihm auf. „Los, tritt mich.“
Werner schüttelt den Kopf, sieht auf seinen Sohn herab, gibt ihm die Hand und zieht ihn hoch. „Ich glaube, wir müssen reden.“
„Und über was?“
„Weiß ich jetzt noch nicht.“
 



 
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