Vertrieben

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Vertrieben
Da war er wieder, der Turm der Kirche von Tretenow. Zwischen den Bäumen hockte er, gekrönt von einer goldenen Kugel mit dem Kreuz darüber. Die Dorfkirche von Tretenow, die sich zwischen die Häuser schmiegte, das alte Schulhaus bewachte, mit glänzenden Zeigern die Zeit wies, und zu jeder vollen Stunde mit verharrendem, lange nachschwingendem Ton die davoneilende Zeit ansagte, sie stand in keinem Reiseführer, aber ihr Bild hatte sich eingebrannt in seine Seele.
Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal die knarrende alte Tür öffnete, mit vorsichtigem Schritt vor den Altar ging. Vergeblich suchte er zwischen den silbernen Leuchtern eine Bibel. Aber soweit waren sie noch nicht, die Leute aus dem Dorf. Zu einer Bibel hatte es noch nicht gereicht. Dach, Fenster und Gestühl hatten sie erneuert, das musste erst einmal reichen. Darum brachte er am nächsten Tag die überlieferte Familienbibel zum Altar.
Lange schon war er nicht mehr hier gewesen. So zögert man mit dem Messer, bevor man sich die Haut ritzt. Aber da war er wieder, der Turm der Dorfkirche von Tretenow. Nach der langen Fahrt hatte er immer die Kinder auf den Rücksitzen angespornt: Wer sieht zuerst die Häuser von Tretenow? Und dann schauten sie angestrengt aus, und meist war es die Kleinste, die jubelnd rief, genau in seinem Tonfall: Ich sehe die Häuser von Tretenow! Jetzt war es nicht mehr weit.
Er bog gleich nach dem vertrauten Ortsschild in seine Straße ein. Aber es war nicht mehr seine Straße, so wie es auch nicht mehr sein Dorf war. Es war auch nicht mehr sein Haus. Der wilde Wein am Giebel war gekappt, die Tanne neben der Gartentür gefällt. Die Vögel, die sommertags zu Hunderten im Wein geschlafen hatten, waren nun so heimatlos wie er. Er trat unwillkürlich aufs Gas und fuhr vorbei.
Er kam sich vor, wie ein Spieler am Roulettetisch. Er hatte alles verloren. Haus, Garten Heimat, Wald und Seen. Nun war er eingepfercht zwischen hohen Häusern, schaute in tote Fenster, nur wenige Flecken Himmel konnte er sehen, wenn er ans Fenster trat. Gab es überhaupt noch einem Mond? Vertan, verspielt. Mit Streit hatte es begonnen, mit unsinnigem Eifer hatten sie sich das Leben schwer gemacht, die Kinder hatten gelitten, hatten sich aufgebäumt, mit all ihrer Kraft, aber alles war umsonst. Das Haus war weg, verkauft ist verkauft. Nun zog jeder seinen eigenen Wagen, sie den ihren, er den seinen. Und er wusste nicht, wie er den Karren durch den Schlamm bringen sollte. Zuviel Schuld lastete auf seiner Achse. Die Räder fraßen sich fest.
Ihn fielen die alten Frauen ein, die bei Sahnetörtchen und Kaffee immer noch von den verschneiten Chausseen im Osten schwärmten, auch wenn sie damals barfuss oder mit dünnen Schuhen kilometerweit zur Schule tappeln mussten. „20° minus hatten wir im Winter, das war keine Seltenheit.“ Sie waren stolz auf minus 20°. Jetzt erst verstand er sie. Das Wort von der Vertreibung hatte einen anderen Klang in seinen Ohren bekommen. Mit der Heimat begrub man sein Herz.
Er hatte auch seine Freunde nicht einpacken können, als der große Umzugswagen vor den Haus stand. Horstmar, der so gern und so ausführlich sein Bier trank, Detlev, der jedes erlegte Kaninchen feiern musste, und erst recht natürlich einen Keiler, von dem er gern eine Keule vorbeibrachte, Johnny, der Seemann, der Hawaii nicht nur von den Ananasdosen kannte und jedem die Fahrt um Feuerland empfahl, auf einem Segelschiff selbstverständlich. Vertan, verspielt, und die Kinder hatten schlechte Träume.
Er schaute in den Rückspiegel, da war das Haus, das einmal ihres war. Er drehte den Spiegel zu sich. Blass war er. Hier hatte die Sonne ihn gebräunt. Das war es: Sie hatten geredet, als säße jeder vor einem Spiegel. Kein Wort überbrückte den Tisch. Sie hatten geredet, geredet, jeder zu sich selbst. Vielleicht hätte er lieber in der dicken Bibel lesen sollen, statt sie abzulegen auf der weißen Altardecke. Vielleicht hätte er in ihren Augen lesen sollen. Aber blind war er, blind war sie. Unwillig kippte er den Spiegel zurück. Das verlorene Haus, das verlorene Paradies, vor dem ein Engel zornig Wache hielt, verschwand mit der Kurve der leeren Dorfstraße.
Jetzt lenkte er den Wagen auf den Brink. Das war er schuldig, einmal noch über den ausgebleichten Teppich zum Altar gehen. Einmal noch den etwas modrigen Geruch spüren, einmal noch auf einer der schmalen, harten Bänke sitzen, die einem jede Predigt lang erscheinen ließen. Einmal noch zwischen denen sein, die vorzeiten hier nach ihrer Woche Knochenarbeit ein wenig Ruhe fanden. Einmal noch die Namen derer lesen, die für nichts und wieder nichts verblutet waren in nicht von ihnen begonnenen Kriegen.
Sie lag noch da, seine Familienbibel, aufgeschlagen fast in der Mitte, bei den Psalmen. Die verschnörkelten Frakturbuchstaben verschwammen vor seinen Augen. Nicht einmal jetzt kann ich lesen, dachte er, nicht einmal jetzt. Er trat zurück vom Altar, stieg müde die zwei Stufen hinunter, ließ sich auf die erste Bank fallen. Die Stille des Raums begann in ihm zu singen. Draußen schlug einer Holz. Ein Lastwagen polterte vorbei. Dann griff wieder die Ruhe nach ihm.
Die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten schienen ihn umarmen zu wollen. Er hätte sich hineinwerfen mögen in liebende Arme, aber sie erreichten ihn noch nicht. Hier waren sie jedes Jahr mit allen Kindern gewesen, hatten den Weihnachtsbaum neben dem alten Taufstein bewundert, seine strahlenden Kerzen, hatten mit allen gesungen und gelauscht, aber die Kinder warteten nur auf die Bescherung, natürlich, das war erfahrbare Liebe. Warum nur war das Schiff aus dem Ruder gelaufen? Er hatte doch hören wollen, aber die Worte waren wirkungslos in ihm verhallt.
Plötzlich erfasste ihn ein großes Verlangen nach Weihnachten, nach Versöhnung. Tief in seinem Bauch wuchs eine Sehnsucht heran nach dem Schein der Kerzen, nach dem Bild der Krippe, ein kleines Kind nackt und bloß, und alle wissen, was das bedeutet. Er hätte sich neben die drei dunklen Männer stellen mögen, um darzubringen, was er hatte, auch wenn es nur sein leeres Herz war. Er hätte seinen Platz auch neben den rauen Hirten gefunden, denen das Wort vom Frieden zugerufen war.
Auch wenn kein Mensch den Weg seines Lebens zweimal gehen kann, eines wurde ihm langsam zur Gewissheit, ihm, allein in der Stille des Raums auf der schmalen, harten Bank, im Angesicht des Gekreuzigten da oben, der seine Arme ausbreitete und ihn dennoch nicht zu erreichen schien, und er griff mit beiden Händen zu, um diesen Gedanken festzuhalten. Weihnachten wird immer wieder. Das ist gewiss: Weihnachten wird jedes Jahr. Alle Jahre wieder, und die ausgebreiteten Armen von dem da oben, sie werden sich um ihn schließen.
Und er wird zu Hause sein. In seinem Haus.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

du schreibst gut, das muss der neid dir lassen. nur der eine satzanfang Ihn fielen die alten Frauen ein, da solltest du das Ihn in Ihm umwandeln.
lg
 

Eve

Mitglied
Hallo Rudolf Wolter,

deine Geschichte gefällt mir richtig gut :) das Thema, wie der Leser die Gedanken und Gefühle des Protagonisten auffangen kann, der Spannungsbogen und auch der Schluss.

Allerdings hatte ich zu Beginn ein paar Mal beim Lesen ein Problem mit der Vergangenheitsform. Du schreibst alles in der einfachen Vergangenheit - was für meinen Geschmack die Zeit, die länger zurückliegt und an die er sich nun voller Wehmut erinnert, mit der Erzählzeit (auch Vergangenheit) vermischt. Z. B. hier "... Und dann schauten sie [die Kinder] angestrengt aus ..." - wäre hier nicht besser: ... und dann hatten sie angestrengt geschaut ...?

Viele Grüße,
Eve
 



 
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