Vineraja und Veremono

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Vera-Lena

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Vineraja und Veremono

(Eine Legende)

Im Lande Albosenu rief König Mirtanéu seine Untertanen zusammen. Auf dem Schlossplatz ließ er den einen und anderen vor sich hintreten und forderte ihn auf zu sprechen.
Nun wollte sich ein jeder groß tun vor dem König. „Mein König“, sprach der erste „ich habe das Land bestellt, das Ihr mir anvertraut, wie niemand sonst es getan hätte. Tag und Nacht war ich auf den Beinen, gefährliche Tiere habe ich vertrieben, das Land bei Hitze bewässert, die Ernte eingebracht und sorgfältig verwahrt. Aber mein Nachbar lag auf der faulen Haut, sein Land ist verdorrt und ich habe seine ganze Familie durch den Winter gebracht.“
Der zweite prahlte: „Mein König, da Ihr mich zum Schmied bestimmt habt in diesem Land, habe ich alle Türen und Zäune geschmiedet, die Hufe der Pferde beschlagen und alles repariert, was entzwei gegangen war. Aber mein Nachbar, der Schuster, hat keinen Finger krumm gemacht, so dass die Menschen mit durchlöcherten Schuhen herumlaufen müssen, wenn sie sich nicht selbst zu helfen wussten.“
Nun kam der dritte. Er verneigte sich tief vor König Mirtanéu und säuselte: „Mein König, ich bitte Euch, nehmt diese Stiefel zum Geschenk von mir an. Ich habe sie bei Nacht angefertigt, denn am Tage hatte ich viel zu tun, die Schuhe der Bewohner von Albosenu auszubessern. Ich hätte längst nicht so viel arbeiten müssen, wenn der Schmied nicht so faul gewesen wäre. Er hat sich geweigert, meinen Zaun, der durchgerostet war, zu erneuern, und so musste ich auch das noch ganz allein tun, obgleich ich mich nicht gut darauf verstehe.“

In dieser Weise sprach einer nach dem anderen, und der König betrübte sich sehr. Ich habe zu viel Zeit verstreichen lassen, ehe ich wieder ein Auge auf meine Untertanen geworfen habe, dachte er sich. Denn Mirtanéu hatte drei Jahre lang auf dem Dache seines höchsten Schlossturmes zugebracht, um darüber nachzudenken, wie man das Gute in der Welt vermehren kann.

„Volk von Albosenu“, rief er über den weiten Platz seinen Untertanen zu, „ich bin sehr enttäuscht über euch! Lüge und Verleumdung haben die Herrschaft über die meisten von euch übernommen. Ihr habt euch in die Knechtschaft begeben von Neid und Eifersucht und heimlichem Hass gegeneinander. Machtgelüste sind euer Wegweiser, einer will über den anderen herrschen, ein jeder glaubt sich im Recht, gegen seinen Nachbarn anzutreten.
Ich sehe, wie sich eure Herzen verfinstert haben.“

Als er aber mit seiner Rede so weit gekommen war, begann die Sonne, sich zu verdunkeln. Allmählich wurde es nachtschwarz auf dem Platz, und die Menschen entsetzten sich sehr. Sie waren sehr enttäuscht von den Worten ihres Königs, denn ein jeder hatte gehofft, dass der König ihn für sein angeblich hervorragendes Verhalten in den letzten drei Jahren belohnen würde. Zudem fürchteten sie, dass die Sonne für immer fortgegangen war. Sie erhoben ein großes Wehgeschrei. Schließlich rief einer:“ König Mirtanèu ist Schuld daran, dass die Sonne fortgegangen ist. Wir müssen ihn opfern, damit die Sonne zurückkehrt.“ Ja, ja schrieen alle, so ist es“, und sie ergriffen den König und schlugen ihm den Kopf ab.

Als sie das vollbracht hatten, kam die Sonne als eine kleine Sichel zum Vorschein, bis sie schließlich wieder ihre volle Größe erreicht hatte. „Wir brauchen keinen König“, triumphierten die Menschen, “wir sind auch drei Jahre lang gut ohne ihn ausgekommen“. Lasst uns nach Hause gehen und unsere Dolche schärfen. Von nun an soll jeder einen Dolch im Gürtel tragen, und wenn sich einer zum König machen will, wird er sofort umgebracht.“

So taten sie es. Sie belauerten einander und Neid und Missgunst nahmen zu unter ihnen. Die Feindseligkeit wurde so groß, dass keiner sein Kind in eine andere Familie zur Eheschließung geben wollte. Es gab keine Hochzeiten und keine Geburten mehr.

Viel Zeit verging, bis eines Tages Veremono vor Vineraja hintrat. „Geliebte“, ich ertrage es nicht länger, dass wir unsere Liebe geheim halten müssen. Ich möchte alle Welt wissen lassen, dass wir zueinander gehören“.
Vineraja erschrak. „Aber du weißt, dass alle im Lande bewaffnet sind, wenn wir es zugeben, dass wir einander lieben, wird man uns sofort töten“.
„Inzwischen weiß ich aber, dass nicht alle so feindselig gesonnen sind“, wandte Veremono ein,“ es wird auch Landsleute geben, die uns beschützen werden“.
„Aber willst du einen Bürgerkrieg heraufbeschwören?“ gab Vineraja zu bedenken.
„So weit muss es ja nicht kommen“, versuchte Veremono sie zu beruhigen. Ich will dass wir eine Familie sein können, dass wir gemeinsam Kinder haben werden, ich will Seite an Seite mit dir durch die Gassen gehen und jeder soll sehen, wie schön meine Liebste ist“.
„Dann lass uns in ein anderes Land gehen“, schlug Vineraja vor.
„Ich kann nicht fort von hier“, erwiderte Veremono, „meine Eltern sind schon alt und benötigen meine Hilfe“. Sie werden nicht in ein anderes Land gehen wollen.
Eine Weile schwiegen die beiden.
„Du hast Recht“, sagte Vineraja schließlich, “wenn man uns eines Tages doch entdecken sollte, haben wir nichts Gutes zu erhoffen. Wenn wir aber selbst öffentlich zugeben, dass wir ein Paar sein möchten, könnte die Sache noch einen guten Ausgang nehmen“.

Am nächsten Abend stellten sich Veneraja und Veremono mitten auf dem Schlossplatz einander gegenüber und hielten lautstark eine Wechselrede.

„Vineraja“, begann Veremono, “der Himmel hat Sterne in dein Haar geflochten“.
„Stolz wie ein Löwe schreitest du dahin“, erwiderte Veneraja.
„Vineraja, du Wunderschöne, die flüsternden Bäche verstummen, wenn deine süße Stimme ertönt“.
„Oh Veremono, stark sind deine Arme und dein Haar glänzt wie Tautropfen auf reifen Oliven“.
„Die Blumen beneiden dich um deinen Duft, Vineraja, du Quell meines Lebens“.
„Ich trinke deine Worte wie Honig von deinen Lippen, Veremono, mein Herzensgefährte.“
„Die Vögel jauchzen deinen Namen und die Bäume beschirmen dich, Vineraja, der Wind umschmeichelt deine bloßen Arme und zieht trunken von dir über das Land“.
„Das Feuer erbleicht über der Glut in deinen Augen, Veremono, mein Schöner“.
„Die Sonne aber muss neben dir verblassen, oh Vineraja, meine Liebste“.

Auf diese Weise riefen die beiden einander betörende Worte zu. Inzwischen waren immer mehr Einwohner von Albosenu hinzugetreten und lauschten, was sich da wohl abspielte. Veremono und Vineraja setzten ihre Rede noch lange fort. Als sie geendet hatten, breitete sich eine vollkommene Stille über dem Schlossplatz aus. Schließlich begann einer zu lachen. Und dann lachten alle, ja sie hielten sich die Bäuche vor Lachen und ihr Gelächter schallte weit durch die Gassen selbst noch bis hinauf auf die Hügel in diesem Land. Schließlich rief einer: “He, ihr Beiden, kommt in vier Wochen wieder und erzählt uns dasselbe, dann werden wir ja sehen, was aus euren schönen Worten geworden ist“. Die meisten gingen kopfschüttelnd nach Hause, denn sie waren überzeugt, dass diese beiden jungen Menschen verrückt geworden waren.

Veremono und Vineraja kamen von diesem Tage an jeden Abend auf den Schlossplatz und fanden immer neue Worte, sich ihre Liebe zu gestehen. Die Einwohner von Albosenu versammelten sich dort ebenfalls. Sie beobachteten die Beiden, ob nicht ein falscher Schatten auf einem Wort ruhte, ob sich die Zuneigung nicht doch ein wenig verflüchtigt hatte.
Nach 100 Tagen sprach Tasulo zu Sertizia:“ Komm, lass es uns den Beiden gleich tun. Auch mein Herz drängt mich, dir meine Liebe vor allem Volk zu sagen“. Aber Sertizia wollte dem nicht zustimmen. „Woher willst du wissen, was für ein Ende es noch mit den Beiden nehmen wird?“ fragte sie. „Heute lachen die Menschen und morgen töten sie.“ „Dann sollen sie uns töten“, antwortete Tasulo, “aber unsere Liebe können sie niemals töten und deshalb werden wir immer vereint sein hier, oder in einer anderen Welt. Er ergriff sie bei der Hand und zog sie auf den Platz. Zuerst folgte sie nur widerstrebend, aber dann war sie doch stolz darauf, dass Tasulo sich offen für sie bekennen wollte.

Nun kamen immer mehr Paare hinzu. Der Mond wechselte viele Male. Eines Abends stellte sich der alte Wandimo zu den jungen Leuten. Er rief in die Menge. „Ihr Menschen aus Albosenu, wollen wir uns beschämen lassen von unseren Kindern, ja vielleicht auch noch von unseren Enkelkindern und Urenkeln? Soll weiterhin Hass und Neid zwischen uns herrschen, wenn doch so viel Liebe hier Abend für Abend zu Worte kommt? Lasst uns die Dolche aus den Gürteln nehmen und sie auf einen Haufen werfen. Lasst uns gegeneinander Worte der Freundlichkeit und Achtung aussprechen. Es soll wieder Frieden in unserem Land die Herrschaft übernehmen“. Erst zögernd aber dann immer lauter stimmten die Menschen zu. Sie warfen die Dolche übereinander, dass es nur so klirrte und schließlich riefen sie wie aus einer Kehle: „Frieden, Frieden, Frieden“! dass es über den Platz, durch die Gassen und bis zu den Hügeln hinauf schallte.

Sie übten sich darin, dass ihr täglicher Friedensgruß kein hohles Wort blieb, sondern von Tag zu Tag tiefer aus dem Herzen kam. Einen König brauchte das Land nun nicht mehr, denn jeder war ein König geworden dadurch, dass er seinen Hass seinen Neid und seine Eifersucht überwunden hatte.

Wenn aber doch einmal zwei Menschen im Zorn aneinander gerieten, kamen sofort drei andere und sprachen: „Erinnert euch daran, wie Veneraja und Veremono der Liebe eine Bresche geschlagen haben in dieses Land“. Und die zwei Streithähne besannen sich und fanden einen Weg, ihre Auseinandersetzung friedlich zu regeln.

Diese Geschichte wurde über Generationen immer weiter erzählt und sie wurde auch aufgeschrieben. Trotzdem fiel sie dem Vergessen anheim. Aber vor einem halben Jahr erzählte mir ein Archivar, dass sich jemand das Buch ausgeliehen habe, in dem diese Geschichte aufgezeichnet sei. Und vor kurzem las ich in der Zeitung, dass sich eine Expedition auf den Weg machen wird, um das Land Albosenu zu suchen. Möge es gefunden werden!
 

Felix

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Auch wenn das Thema der verbotenen Liebe, die eigentlich nicht sein darf schon etwas verbraucht ist, ist dies ein wirklich nettes Märchen, das ich gut lesen konnte.
Besonders dein Sprachgebrauch ist mehr als passend und du verlierst nie den notwenigen fantastischen Schreibstil aus den Augen.
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Felix,

danke für Deine Antwort! Es freut mich, dass Du die Wahl der Sprache, die ich mir für diesen Text überlegt hatte, als passend empfindest.

Inhaltlich geht es weniger um die verbotene Liebe, obgleich das Liebespaar die entscheidende Wende in die Geschichte bringt.

Eigentlich ging es mir hier darum, davon zu erzählen, was das "wahre Königtum" denn sei.

Die Selbstbeherrschung, der es gelingt, unüberwachtes negatives Verhalten, wie Neid, Missgunst und Hass in den Griff zu bekommen, schafft es, der Liebe wieder den größeren Raum zu geben im Inneren der Menschen, Großzügigkeit und Friedfertigkeit.

Das waren die Dinge,die ich eigentlich ausdrücken wollte, als ich über dieser Legende anfing zu brüten.

Noch einmal herzlichen Dank für Deinen Kommentar! :)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Inge Anna

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

"Wenn man Hass, Missgunst und Neid zum Schweigen bringen könnte, wäre diese Welt für mich langweilige Einöde." So die Reaktion einer Bekannten auf meinen zuvor ausgesprochenen Wunsch nach einem friedlichen Miteinander. Und noch lange wird mich diese enttäuschende Antwort beschäftigen. Es ging übrigens noch weiter: "Friede macht träge - Spannungen lassen das Leben nicht verschimmeln." Ich kann nicht mehr alles wiedergeben, was sonst noch folgte. Wo leben wir eigentlich?
Deine Legende ist lesenswert und hat mich tief berührt.
Mit lieben Grüßen
eine nachdenkliche
Inge Anna
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Inge Anna,

danke, dass Du mich durch Deinen Kommentar wieder in die Wirklichkeit zurückgerufen hast, denn Ähnliches habe ich mir auch schon einmal vor Jahren sagen lassen.
Langeweile ist nicht das, was dem Menschen bestimmt ist, und er empfindet sie zu Recht als quälend, aber alles, was er sich an Leid zufügt als Folge von Hass und Missgunst ist nicht weniger schlimm.
Die Menschen haben Großes vollbracht zu Zeiten von Kriegen, weil sie Leid ertrugen, nach Lösungen für ihre Probleme suchten, auch zusammenrückten, weil die entstandene Not nur gemeinsam zu überwinden war.
Aber in Friedenszeiten sind die Menschen auf die großen Errungenschaften gestoßen, die ihnen Mathematik und Philosophie beispielsweise bescherten.

Ja, es war mir ein Anliegen, vom Frieden zu sprechen, und ich freue mich, dass Dich diese Geschichte erreichen konnte.

Dir ganz liebe Grüße!
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo, jungeAutorin,

danke für Deine Rückmeldung! Ja, bei dem Liebesdialog zwischen den beiden Protagonisten waren Metaphern notwendig. Es freut mich sehr, dass Du an dieser Legende Gefallen findest.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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