Virago

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Virago



Geschichten beginnen manchmal an den ungewöhnlichsten Orten. Einige in der Vergangenheit, andere in der Zukunft und manche auch schlicht am Anfang. Diese hier nun beginnt im Jahre 2027 in einem Hamburger Straßencafe.


Eine junge Frau betrat das Lokal in der Saseler Twiete, einer recht ruhigen Nebenstraße im Norden der Stadt. Sie schlenderte zu einem der freien Tischchen im Inneren, setzte sich und wartete. Gekleidet war sie trotz der schon warmen Maisonne in eine dunkle Lederhose und Jacke. Draußen am Straßenrand stand ein Chopper-Motorrad. Mit dem war sie gerade gekommen. Ein Hauch von Benzin und Landstraße lag noch in der Luft. Die Krümmer glühten noch ein wenig nach und die Auspuffrohre – alle satt in Chrom gehalten - spiegelten die Beine der Vorbeigehenden, doch dafür hatte der dürre Mann am Tresen keine Augen. Er schaute oder starrte zu der Frau in Lederkluft. Sie bemerkte ihn. Natürlich, denn er stierte ja unentwegt. Etwas Eigenartiges, Merkwürdiges lag in ihren Augen, fand er, vielleicht auch Trauer. Dann sah sie weg. Der Mann stand auf, nahm sein Bierglas und ging geradewegs zu ihr hinüber.

„Ist das da eine ‚Savage’?“, fragte er und begann damit ein Gespräch.

„Nee, Virago“, mehr beiläufig antwortete sie ihm und widmete sich dann der Bestellkarte. Er blieb weiterhin neben ihr stehen.

„Die ist schon alt, oder? Ich tippe 2006 oder 2008.“

Die Frau, Sonja hieß sie, wurde langsam ungnädig. Der Typ nervte sie, außerdem roch er streng. „Es ist eines der Letzten der V8er.“, meinte sie dann etwas schnippisch.

„Häh?“

„Das war ein Filmzitat aus einem der Lieblingsfilme meines... Vaters...“, sie stockte, „aber das kann Ihnen sicher egal sein. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, es ist eine der letzen in Deutschland neu zugelassenen Viragos. Baujahr 2004. Die Exemplare, die danach kamen, waren Grauimporte aus Polynesien oder aus Aserbaidschan. Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Sie sehen nicht gerade aus, als wenn schon einmal auf einer Maschine gesessen hätten.“

„Ach? Und wie sehe ich denn aus“, wollte der Mann, dem seine Eltern die poetischen Vornamen Huobert Eugen gegebenen hatten, nun gerne wissen. Der säuerliche Geruch von Alkohol umnebelte seine letzten Worte. Er hätte vielleicht besser nicht fragen sollen, denn in Sonjas Gesichtszügen spiegelte sich eine gewisse Gereiztheit.

„Wie Sie aussehen, wollen Sie wissen? Wirklich?

Er nickte und grinste dabei breit.

„Gut. Lassen Sie mich mal überlegen... Ich denke... ja, ich denke Sie sehen aus wie jemand, der eine Frau nur deshalb nach ihrem Motorrad fragt, weil er darin eine Möglichkeit sieht, auf ihre Titten und ihren Arsch zu starren und sich dabei vorzustellen, wie es wohl wäre, sein kleines verkrüppeltes Ding in ihre Möse zu stopfen. Ja, so denke ich, sehen Sie aus.“

Dem Mann fiel die Kinnlade runter. Aber sie hatte nicht ganz unrecht, denn er sah wirklich ein bisschen so aus. Hinter dem kleinen viel zu untergewichtigen Huobert war inzwischen ein Kellner erschienen. Er lächelte verlegen und traute sich wegen dem eben Gehörten kaum zu etwas zu fragen. Sonja bestellte ein Kirscheis mit Sahne und dazu einen Cappuccino ohne Süßstoff (wegen der Krebsgefahr), aber dafür mit unraffiniertem Zucker. Huobert Eugen zahlte wortlos und verließ dann puterrot das Cafe; er würde es nie mehr betreten. Einfach schon deshalb nicht, weil er so in Gedanken über das eben Erlebte einen LKW übersah und wenige Tage darauf an den Folgen dieses Unfalles verstarb.

Das Eis schmeckte künstlich, passend zu den Kirschen, fand sie, aber der Cappuccino holte alles wieder raus. Er war einfach nur köstlich. Nachdem sich ihr Puls und auch ihr allgemeiner Zustand wieder ein wenig beruhigt hatten, fand sie die Muße, das zu tun, weshalb die meisten Menschen ein Straßencafe betraten; nämlich, um andere Leute zu beobachten. So las, leicht versetzt am Tischchen neben ihrem eine ältere Dame in einer Zeitschrift, eine Ausgabe von Gala aus dem Jahre 2012, wohl ein Nachdruck. Hinter ihr knutschte wie wild ein Pärchen und dahinter, sie verrenkte ihren Kopf, um ihn zu sehen, saß ein Mann. Auch er schaute zu ihr herüber. Oh, nein, nicht schon wieder so einer, dachte sie verärgert und ignorierte ihn fortan einfach.

Das Interieur hier gefiel ihr. Es war so eine spannende Mischung aus 80iger Jahre Stil des vorangegangen Jahrhunderts – klare Linien, viel Metall, Kunststoff – und andererseits ein bisschen Verwegenes einer Havanna-Bar mit reichlich Holz im Tresenbereich, einer Landkarte vom ehemaligen Cuba, dem unvermeidlichen Che Bild und dazu, vermutlich gedacht als Gegensatz, das berühmte Poster von George Bush nach dem Kriegsverbrecherprozess. Per Hand hatte jemand: noch 26 Jahre, dazu geschrieben, aber das war wohl schon etwas her, denn im Fernsehen hatten sie unlängst gesagt, er müsse noch bis März 2050 einsitzen. Das waren nur noch 23 Jahre. Der Mann schaute noch immer zu ihr herüber, nicht so penetrant, wie der Typ vorhin, aber trotzdem so, dass sie es bemerkte. Wieder zwang sie sich, ihre Blicke schleifen zu lassen. An der Wand, wo die Landkarte vom ehemaligen Cuba... wieso sagt eigentlich alle Welt immer ‚ehemaliges’? Und sie sagte das auch immer. Warum? Cuba hieß immer noch Cuba, oder etwa nicht? Ein Schatten baute sich plötzlich vor ihr auf. Er gehörte zu dem Mann, der bis eben noch in der hinteren Ecke des Cafes gesessen hatte. Sie war so in Gedanken gewesen, hatte sein kommen nicht bemerkt und so erschreckte sie sogar ein wenig, als er so plötzlich vor ihr stand.

„Ist was?“, fragte sie ihn deshalb auch gereizt.

„Nein. Oder vielleicht doch.“ Er wirkte unsicher. „Ich habe vorhin - versehentlich natürlich - ihr Gespräch mit angehört. Und... nun ja, es geht mich eigentlich nichts an, aber es wurden nie Motorräder aus Polynesien oder aus Aserbaidschan importiert. Das musste ich jetzt einfach mal loswerden.“ Er wirkte nun noch unsicherer.

Sonja musste sich hart ein Lächeln verkneifen. „Na, dann habe ich mich wohl geirrt. Und... noch was?“, wobei das letztere härter klang, als es beabsichtigt war.

„Mein Name ist Hans“, ignorierte er ihren scharfen Ton und streckte ihr die Hand hin, „und bevor sie mich nach meinem Aussehen fragen... ich lebe seit Jahren mit meinem Freund zusammen, da besteht also wenig Gefahr wegen Sie wissen schon...“

Jetzt lächelte auch sie, wenn auch nur verhalten. „Ich bin nicht immer so“, meinte sie und erwiderte den Händedruck. Dann bot sie ihm einen Platz an. „Haben Sie auch eine Museumsmaschine, oder woher kommt das Interesse?“ Sie musste den letzten Satz wiederholen, da vor dem Cafe gerade ein Krankenwagen im Eiltempo mit Blaulicht und zugeschaltetem Martinshorn vorbei fuhr.

„Ja stimmt, ich habe auch eine - schwedischer Grauimport übrigens. Und nun ja, sie läuft halt nicht wirklich rund, eigentlich läuft sie gar nicht mehr.“

„Woran liegts denn?“

„Vermutlich an dem linken Luftbutzen. Er fiel mir beim Ausbau in Einzelteilen entgegen. Und versuchen Sie mal, dafür Ersatz zu bekommen.“

Iss’ verdammt schwer für alten Dinger heut’ noch Teile zu kriegen. Ich hatte das Problem auch mal. Eigentlich ist es ja nur ein Zierteil mit ein paar Kabeln drin, aber ohne zu fahren, ist halt auch schlecht. Es hat bei mir insgesamt über sechszehn Wochen gedauert, bevor mein Händler die Ersatzbutze bekam. Und seit die japanischen Zulieferer nun gar nicht für ihre Altmaschinen produzieren...“


„... gibt es nur noch diesen Mist aus Italien“, beendete er ihren Satz. „Und die passen meistens nicht einmal.“

„Genau.“

Schweigend saßen sie eine Weile da. Sonja trank an ihrem zweiten Cappuccino und Hans hatte sich eine weitere Schale Milchcafe bestellt.

„Ich fand das vorhin sehr mutig von Ihnen“, meinte er dann in die Stille hinein.

„Mutig? Ich weiß nicht. Nennen sie mich Sonja. Mutig...“ sie atmete tief aus, „mutig war das eigentlich nicht. Der Kerl tat mir nachher fast ein bisschen leid.“ Und um das Thema zu wechseln meinte sie dann: „Was machen Sie eigentlich sonst so; außer in Cafes fremde Gespräche zu belauschen?“

„Ich?“ Ein bisschen rot wurde er. „Ich bin Schichtleiter bei Nockermann in Harburg.“ Schichtleiter bei Nockermann zu sein, war zwar keine direkt falsche Auskunft, aber auch nicht die volle Wahrheit, denn im Eigentlichen betrieb er mit zwei anderen Gesellschaftern das Antiquariat: ‚The Dead walks’. Ein Etablissement, das sich in der Hauptsache auf alte Gruselfilme, wie z.B. die Zombie- und Untotenfilme der siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts spezialisiert hatte, alle natürlich ungeschnitten und digital überarbeitet.. Aber zum Leben hatte es selten gereicht, was seine Anteile abwarfen. Und er hatte vor der Frage gestanden, ob er weiterhin nur die Dosenravioli und Dauerwurst der Marke Lidl zu sich nehmen und einmal vielleicht Ähnlichkeiten mit gewissen Gestalten gewisser Filme aufweisen würde oder ob er nicht doch noch versuchte zusätzlich Geld zu verdienen. Er hatte sich gegen Lidl entschieden. „Enttäuscht?“, fragte er, nachdem Sonja zuerst nichts antwortete.

„Nö, wieso“, sagte sie, aber ein bisschen enttäuscht war sie doch.

Sie tranken beide wieder wortlos weiter. Enttäuscht, dachte sie, wieso soll mich das irgendwie.... und warum, ich meine, er ist doch sowieso schwul... und wenn er ... was meinte Papa, sei die beste Frauenanmache? Mach’ einen auf schwul und sie werden versuchen, dich zu bekehren. Na ja, vielleicht... dann sah sie seinen abgespreizten kleinen Finger am Rande der Kaffeeschale und seinen beinahe sehnsüchtigen Blick auf die beiden gut gebauten jungen Männer, die gerade die Lokalität verließen. Ach egal, dachte sie. Eine Spur von irgendetwas nicht zu Erklärendem war jedoch dabei.

„Ich muss weiter, meine Schicht beginnt und die Maschinen wollen halt beladen werden...“ Sie hatte ganz in Gedanken gar nicht bemerkt, dass er aufgestanden war. „Ich bin morgen zur ungefähr gleichen Zeit wieder hier. Vielleicht sehen wir uns ja, wenn Sie mögen.“ Die Jacke hing lässig über der Schulter. Er schenkte er ihr ein jungenhaftes Grinsen und wollte gerade gehen, da fiel Sonja doch noch etwas ein: „Weshalb sagen eigentlich alle immer ‚ehemalig’?“ Und dann, auf seinen ratlosen Gesichtsausdruck: „Na ja, alle Welt spricht von Cuba immer als das Ehemalige. Wissen Sie warum?“

„Ja, ich denke schon. Cuba ist seit Jahren in Privatbesitz. Die Besitzer haben sie in „Dianetica“ oder ähnlich umbenannt. Heißt Havanna jetzt nicht auch irgendetwas mit Hubble? Aber den jetzigen Bewohnern ist das wahrscheinlich sowieso egal seit dieser Zoonose-Sache damals.

„Zoo... was?“

„Zoonose. Das ist ein Virus, der von seinem ursprünglichen Betätigungsfeld – was weiß ich; Pflanzen oder so – mutiert und nun auf Menschen übergeht. So was wie die Schwedische Mutterkorn-Pandemie im Jahre 2016 zum Beispiel.“

„Und das weiß alles ein Schichtleiter bei Nockermann?“

„Ich“, er wurde etwas unruhig, „ich lese halt viel und gern. Machen doch viele, oder?“

„Und“, sie war immer noch nicht fertig mir ihm, „und warum sollte der Name den Bewohnern egal sein? Ich finde, es macht schon einen Unterschied, wie die Stadt heißt, in der ich wohne. Mir wäre das nicht egal.“

„Ihnen sicher nicht, aber ich denke, Ameisen und anderen Viechern ist der Name des Ortes egal, auf dem sie gerade krabbeln. Und sonst lebt da keiner mehr. Wegen der Zoonose eben. So nun muss ich aber wirklich...“ Damit dampfte er ab.


Sonja fühlte sich etwas merkwürdig, vielleicht auch einfach nur ratlos. Trotzdem oder auch genau deshalb kam sie am folgenden Tag erneut in das Cafe an der Saseler Twiete. Hans war auch da. Und wieder sprachen sie miteinander. Langsam begann so eine wunderbare Freundschaft. Viele Wochen trafen sie sich, tranken Kaffee, aßen Kuchen, manchmal auch Eis und redeten, redeten jeweils für viele Stunden. Sie schöpften allmählich Vertrauen zueinander. Sie zu dem Mann mit den braunen einfühlsamen Augen, den leicht abstehenden Ohren und dem Bauchansatz, der manchmal mehr einem Lexikon als einem üblichen Menschen glich und er zu der Frau mit dem charismatischen Äußeren, der großen Nase und den Augen, die so viel Trauer und Leid erlebt haben mussten.

Er ahnte, dass es etwas gab, was sie gerne loswerden wollte und irgendwann, es war an einem Freitag übrigens, fragte er sie einfach danach. Und tatsächlich, an diesem Tag, der sich durch nichts als seinem Datum von dem Freitag davor oder dem danach unterschied, begann sie, davon zu erzählen. Es war eine Geschichte die sie zuvor noch mit niemandem geteilt hatte und sie war sehr traurig. So wie das meist bei Geschichten ist, die einen selbst betreffen.

„Ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll.“ meinte sie und fragte sich damit schon, ob sie die Geschichte wirklich erzählen sollte.. Hans schlug in seiner ruhigen Art vor, sie möge einfach am Anfang beginnen. „Gut, beginne ich also am Anfang“, antworte sie ihm und entschied sich damit dafür.„Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern noch zusammen. Sie hatten sich wohl zuerst auch noch gerne, aber dann, keiner konnte mir sagen wieso und warum, trennten sie sich. Einfach so. Ich muss wohl so sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Mein Vater meinte, es lag an Marion, meiner Mutter, und sie meinte, es lag an ihm.“ Sonja zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung, was da genau los war. Auf jeden Fall blieb ich bei meiner Mutter. Dann kam Paul, ihr Neuer. Er war eigentlich nett, aber ich konnte mit ihm machen, was ich wollte. Ich habe ihn im Grunde die ganze Zeit herumkommandiert. Vielleicht hat er sich deshalb auch wieder von Marion getrennt? Danach war sie überwiegend mit Frauen zusammen, immer alles so alte Weiber, aber auch die blieben zumeist nicht für lange.

Na ja, es ging uns damals trotzdem eigentlich ganz gut. Marion hat halbtags gearbeitet und Wolfgang... genau, mein Vater, hat zumindest zuerst noch Alimente gezahlt. Er war bei einer Bank und verdiente nicht schlecht, aber dann flog er raus oder wurde gekündigt. Er zahlte dann am Anfang weniger, klar, aber später leider gar nichts mehr. Mutter hat vielleicht geflucht!“ Sonja und Hans waren längst in ein vertraulicheres DU übergegangen. „Marion setze dann für ihn beim Jugendamt ein Besuchsverbot gegen mich durch und wir zogen kurze Zeit später in eine andere Stadt, nach Berlin. Mutter meinte, ich hätte viel von meinem Vater geerbt. Und in Bezug auf Berlin hatte sie wohl auch Recht, denn ich habe diese Stadt genau wie er aus tiefstem Herzen gehasst.“

„Warum eigentlich?“

„Berlin ist für mich eine Ansammlung voll stinkender Bauten, eine Kakophonie für die Augen, um mit Pastor Kneselbecks Worten zu sprechen. Alles nur Beton und nur durchbrochen von noch mehr Beton...“

„Nee, warum sich deine Eltern getrennt haben, meinte ich eigentlich.“

„Ach so, das. Keine Ahnung, sagte ich doch schon. Freunde, die meine Eltern kannten, meinten, dass sie sich vielleicht nie wirklich geliebt haben. Geheiratet hatten sie ja auch nur, weil ich kam. Und als ich dann da war...“, sie schwieg einen Moment, „ als ich dann da war, habe ich am Anfang wohl viel geschrieen... und habe sie wenig zur Ruhe kommen lassen. Vielleicht war das auch ein Grund mit...“

„Ach was! Glaube ich nicht“, meinte Hans, diesmal sehr bestimmt: „Wenn sich Leute trennen, dann tun sie es verdammt noch mal nur ihretwegen. Rede dir da bloß nichts ein. Du kannst am allerwenigsten dafür.“

„Ist ja auch egal. In Berlin lebten wir einige Jahre. Marion wurde immer öfter krank und blieb dann tagelang im Bett. Beim Aufräumen habe ich häufig dutzende leerer Packungen mit Vitaminbops gefunden. Kennst diese Horrordinger?“

„Wer kennt sie nicht?“

„Die sollten verboten werden.“

„Sind sie doch längst.“

„Oh! Eines Morgens auf jeden Fall erwachte sie einfach nicht mehr. Das war vielleicht Scheiße! Stell dir vor, du gehst in ihr Zimmer und sie liegt da, einfach nur da mit weit aufgerissenen Augen. Nicht tot, aber auch nicht viel besser!“ Eine Träne folgte den sanften Wölbungen ihrer Wange. Hans reichte ihr eine mehr oder weniger unbenutzte Serviette. „Sie kam auf eine Pflegestation. Keiner konnte mir sagen, für wie lange. Hanna, die Frau mit der sie zusammen war, mochte mich nicht besonders. Traf sich gut, ich sie nämlich auch nicht. Wolfgang hätte mich sicher gerne zu sich genommen, aber, wie du dir denken kannst, stimmte das Jugendamt nicht zu. Er schuldete denen schließlich schon seit Jahren meinen Unterhalt. Ich kam für kurze Zeit in ein Heim und dann in eine Pflegefamilie. Da war ich elf.“ Ein Becher Tee stand dampfend vor ihr. „Aber ich war nicht lange da. Mit 12 war ich wieder im Heim. Papa schrieb mir beinahe jede Woche, die ganze Zeit über. Er versuchte alles, stritt sich mit den Behörden, ging sogar vor den elektronischen Gerichtshof, aber es half alles nichts. Wie heißt es doch: Die Mühlen der Behörden mahlen langsam, aber dafür lange!

Mutter war all die Zeit noch immer im Koma. Sie wurde schließlich nach Karlsruhe verlegt, angeblich wegen der besseren ärztlichen Versorgung. Aber ich denke heute, sie haben nur deshalb dahin verfrachtet, weil es für sie billiger war. Wahrscheinlich aber nicht billig genug, denn Wolfgang bekam Nachricht, dass sie vorhatten, die Maschinen, die sie am Leben hielten, abzuschalten.“

„Warum denn das? War sie gehirntot?“ fragte Hans. Es ging ihm sichtlich nahe.

„Nein, wegen der Versicherung. Sie weigerte sich, die Kosten weiterhin zu übernehmen. Vaters Anwältin meinte, dass das zwar ungesetzlich sei, aber eine übliche Vorgehensweise, weil dann, wenn ein Widerspruch gegebenenfalls erwirkt ist, sie längst verstorben wäre. Is\' heftig, oder? Wolfgang ist dann bei der gerichtlichen Voranhörung richtiggehend ausgetickt, hat mir die Anwältin erzählt. Das Gericht hat ihn deswegen zu einer Ordnungsstrafe verdonnert. Und weil er nicht zahlen konnte - eigentlich ja nicht Neues - sollte er eine Ersatzhaftstrafe antreten. Doch anstatt an diesem Tag vor den Gefängnistoren zu stehen, stand er plötzlich mitten im Speisesaal des Heims. Lederklamotten, Motörheadaufnäher, Stiefel, er sah aus, als käme er direkt aus dem Museum. Ich weiß es noch genau: Er baute sich vor mir auf, sagte kein Wort und warf mir einfach die Lederkombi hin.“

Hans betrachte sie. War das der gleiche Aufzug? Aber er fragte nicht nach, sondern hörte zu und schenkte gelegentlich Kaffee nach.

„Wie gesagt, er stand einfach nur da und wartete. Aber ganz konnte er sich ein Grinsen doch nicht verkneifen, man konnte es an dem Zucken der Mundwinkeln erkennen. Ich zog dann die Sachen an und wir gingen los. Was heißt gingen - ich kam mir vor wie beim Einmarsch der Gladiatoren, nur quasi andersherum, denn wir marschierten nicht in eine Arena hinein, sondern geradewegs aus einer hinaus. Und draußen schwangen wir uns aufs Moped und fuhren ab.“

„Mit der Virago, die draußen steht?“

„Klar, mit welcher denn sonst?“

„Weiß ich... jetzt... auch nicht.“

„Natürlich fuhren wir mit der. Es war das Einzige, was er besaß, diese alte XV535. Hatte ich das nicht schon erwähnt?“

„Doch, bestimmt“, log Hans.

„Es war klasse! Wir fuhren raus aus dieser dreckigen Stadt, natürlich nicht, ohne uns diverse Male zu verfahren und dann ging’s in Richtung Hamburg“

„Seit der Ringautobahn braucht man ein Studium, um sich da noch zurecht zu finden, kenn’ ich aus eigener Erfahrung.“

„Den Eindruck hatten wir auch. Wir sind dann über Hamburg auf der A255 nach Hildesheim gefahren. Von da aus nur noch über Landstraßen. Das war so geil! Kannst du dir das vorstellen? Das Knattern des Motors, die Landschaft, die an dir vorbei zieht. Dieser stimulierende Geruch von Benzin, Motoröl ... Wer noch auf keiner Maschine saß, kann sich das gar nicht vorstellen. Einzigst, dass die Konstrukteure den Tank so klein gehalten haben nervte. Du musst so halt jede 150 bis 200 Kilometer tanken. Insgesamt haben wir drei Tage gebraucht. Tagsüber sind wir gefahren, besser wäre sicher nachts gewesen, weil sie uns bestimmt gesucht haben, aber Wolfgang konnte genauso gut Karten lesen, wie ich; nämlich gar nicht. Ich weiß nicht, wie oft wir uns verfahren haben, nur noch, dass wir uns Karlsruhe schließlich von Süden her genähert haben. In den Nächten haben wir auf Campingplätzen übernachtet; so richtig rustikal mit Lagerfeuer, Dosenbier, Würstchen und am Stock gebratenem Brot. Lecker! Ich hätte grad’ Appetit auf ein Stückchen Kuchen, möchtest du auch noch eines, Hans?“

Hans nickte geistesabwesend. Er war viel zu sehr gefangen in ihrer Erzählung als dass er über Banalitäten wie Essen nachdenken mochte. Sonja bestellte zwei Stück Haselnusskuchen. Sie machten eine Pause, aßen und nachdem Sonja wieder von der Toilette kam, sie ging recht häufig dorthin, erzählte sie weiter:

Am Nachmittag des dritten Tages sind wir in Karlsruhe angekommen. Wir hatten sowieso großes Glück, denn eine Woche danach kam die bundesweite Mauteinführung und ich glaube nicht, dass wir uns die Reise dann noch hätten leisten können.“ Sonja aß die letzten Haselnusskrümel von ihrem Teller. „Am Bahnhof von Karlsruhe dann haben wir die Maschine abgestellt und sind anschließend mit der Tram zu dem Krankenhaus gefahren. Es war eigentlich gar kein richtiges Krankenhaus. Dort liefen weder Schwestern noch Ärzte herum. Was wir sahen, waren einige Leute von einem Sicherheitsdienst und vereinzelt ein paar Pfleger. Wenn man es genau betrachtet, glich das ganze eher einem Friedhof, nur, dass auf diesem die Leichen noch lebten. Auch richtige Krankenzimmer gab es nicht. Die Leute lagen sonstwo und wurden nur für Angehörige in einen Besucherraum gekarrt. Aber wenigstens ließ man uns zu ihr. Dann aber...“ sie machte eine Pause, „ als wir sie sahen.. sie tat mir so Leid, so unendlich Leid. Völlig bleich und so ausgezehrt war sie. Mein Gott, war das schrecklich.“ Sonja erhob sich erneut. „Ich geh noch mal kurz aufs Klo, eine Erblast meiner Mutter, weißt du, die musste auch immer oft.“ Als sie von dort wiederkam, waren ihre Augen klein und rot.

„Papa hat mich dann gefragt, was wir machen sollen. Und ob es nicht vielleicht doch besser wäre, wenn man die Maschinen einfach abschalten würde. Und ob du es glaubst oder nicht, just in diesem Augenblick schlug sie die Augen auf! Unglaublich! Vermutlich das erste Mal seit Jahren. Papa und ich, wir haben sie in den Arm genommen. Sehr lange. Ein Pfleger, oder wie man die nannte, meinte, es wäre nun langsam an der Zeit Abschied zu nehmen. Tja, wie soll ich sagen... wir waren da anderer Meinung. Wolfgang hat sie hochgenommen, ich nahm unsere Sachen und wir sind geflüchtet. So schnell, die Wachmänner haben gar nicht begriffen, was da passiert war.“

Danach schwieg sie. War die Geschichte zuende? Schon? Hans war sich unsicher, wollte nicht unhöflich sein und Fragen, doch seine Neugier obsiegte: „Und was geschah dann“, fragte er: „Ich meine, geht es deiner Mutter heute besser?“

Sonja schaute ihn an, wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Nie hatte sie jemanden diese Geschichte erzählt und als sie es jetzt tat, war ihr so, als durchlebe sie alles noch einmal. Überhaupt, wie lange war es her, seit sie mit einem Freund ein gutes Gespräch geführt hatte. „Zu lange“, dachte sie, doch sprach sie dabei laut.

„Bitte?“.

„Was, ach so, Mutter... Nein, sie lebt nicht mehr, Vater auch nicht.“ Die nächsten Sätze überlegte sie sich gut und als sie auch sie erzählte, gab sie damit ein Stück von ihrem Innersten preis. „Wolfgang ist mit Marion in ein Taxi gestiegen. Ich wollte natürlich auch mit, aber an der Wagentür stieß er mich zurück. Sehr grob, ich wäre fast gefallen. Er warf mir die Zündschlüssel der XV zu und sagte: „Ich liebe dich, Sonja! Nimm die Schlüssel, die Maschine gehört dir. Papiere liegen in den Satteltaschen. Ich schulde deiner Mutter noch etwas und das möchte ich ihr wiedergeben. Als ich fragte, was das sei, sagte er nur: Zeit! Einfach nur ein wenig Zeit“ und knallte die Tür dann zu.

Sie haben sie dann einige Tage darauf gefunden. In einem Waldstück, nicht weit von Ettlingen entfernt. Sie lagen beide zusammengekuschelt um ein abgebranntes Feuer. Beide tot. Würstchen und Tofu lagen da noch rum. Was die Todesursache betraf... in dem Tofu fand man Salmonellen. Später erfuhr ich, dass auch mein Vater auch krank war und ich nehme an, dass sie beide...weil sie geschwächt waren... daran...dann gestorben sind.“ Sonja konnte und wollte ihren Tränen keinen Halt mehr geben. Hemmungslos schniefte sie in ein Serviettentuch.


Hans hatte genug gehört. Er kannte jetzt die Geschichte, ihre Geschichte. Seine Gesichtszüge wirkten nun starr und unentschlossen. Er sah aus, als wollte am liebsten zahlen und gehen. Wieder verließen ein paar junger Burschen Arm in Arm das Cafe, doch diesmal schaute er ihnen nicht hinterher und auch spreizte er seinen kleinen Finger nicht ab, als er geistesabwesend zur Kaffeetasse griff. Ein kleiner Schweißfilm lief über seine Stirn.

„Du Sonja, Ich glaube, ich muss dir etwas sagen“, begann er.

„Musst du nicht.“ Sie nahm seine Hand, legte sie in die ihrige und drückte sie fest.

„Doch, ich... habe dich belogen, ich bin ... weder Schichtleiter noch schwul.. Gut, ich arbeite auch bei Nockermann, dass stimmt schon, aber eigentlich...“

„Ich weiß.“

„Wie, woher das?“ Wenn er vorher nicht schon rosafarben angelaufen war, dann war es spätestens jetzt.

„Ich habe dich letzte Woche in deinem Laden gesehen und Hans, glaubst du wirklich, ein paar Blicke oder ein abgespreizter Finger können eine Frau für lange über wahre Absichten hinweg täuschen?“

„Nein, wohl eher nicht“, meinte er ein wenig kleinlaut und blickte zu Boden. Doch seine Hand lag immer noch in ihrer und auch jetzt ließ sie sie nicht los. Als er aufsah strahlte sie ihn an und nach einem Augenblick strahlte er zurück.


Irgend jemand hatte bei dem Poster von George W. Bush die Zahl 26 in eine 23 geändert. Der Schrift nach könnte es eine Frau gewesen sein.
 

Zinndorfer

Mitglied
Hallo Thomas, der Text fängt im Präsens an, dabei würde ich es auch belassen. Und dann genauer arbeiten. Wenn die Frau das Lokal betritt, ist klar, dass sie im Inneren ist. Ein Hauch von Landstraße ist in einem Hamburger Straßencafe schwer vorzustellen, der von Benzin dagegen schon. Das Bild von dem Motorrad aber ist insgesamt gut. „Fragte er und begann damit ein Gespräch“ ist klar. Künstlich und köstlich liegen zu nah beieinander. „Gut, beginne ich also am Anfang“, antworte sie ihm und entschied sich damit dafür“ ist ein Satz, der sich in sich selber dreht. Und bei dem Dialog verliert man manchmal den Faden. Wer ist der Sprecher? Der Einleitungsabsatz ist gelungen, erweist sich jedoch leider im Velauf der Geschichte als Leichtgewicht, das noch beigepolstert werden könnte. In der Mitte läuft der Mann rot an aus einem weit banaleren Grund als er später rosafarben wird – ein plakativer Hinweis auf die Pointe? Aber was ist die Pointe? Gibt es zwei? Sind sie miteinander verbunden? Noch passt es nicht wirklich zusammen. Gruß Zinndorfer
 

Zinndorfer

Mitglied
Hallo Thomas, hast du meinen Kommentar gesehen? Ich frage nur, weil du wieder einen neuen Text eingestellt hast. Vielleicht bist du ja an Kommentaren nicht interessiert, dann brauche ich mich ja auf deinen Threads auch nicht mit mir selbst zu unterhalten. Gruß Zinndorfer!
 
Hallo Zinndorfer,

nee is schon recht, ich freue mich über Rückmeldungen. Was das mit dem Rotwerden betrifft, da stimme ich dir zu und werde das auch umändern. Eine Geschichte in der Gegewart zu Schreiben liegt mit nicht, ich bevorzuge da lieber die Vergangenheitsform.

Grüße Thomas Sichelschmied
 

aboreas

Mitglied
Hallo, Thomas,

gut zu wissen, dass solche weitgehend mehrwertsteuerresistente Feinkostläden wie "Lidl" auch im Jahre 2027 noch existieren. Wie steht es mit Aldi?

Ansonsten eine muntere, interessante Geschichte.

Gruß: abo
 



 
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