Vom Ende eines Schauspiels

Bartleby

Mitglied
Vom Ende des Schauspiels
Totus mundus agit hisrionem

Die Premiere wurde mit Spannung erwartet, vom Publikum wissend, daß es sich um ein neues Stück des bekannten Regisseurs handelte und daß für diese Spielzeit extra ein junger und sensibler Hauptdarsteller verpflichtet worden war. Trotz seiner geringen Erfahrung sollte der junge Schauspieler die Hauptrolle spielen, was man verwundert zur Kenntnis nahm, gab es doch am Theater viele junge aber dennoch erfahrene Schauspieler.
Der junge Schauspieler brillierte im ersten Akt, der Beifall erhob sich und nahm ihm ein wenig die Enge, die sich ihm um die Brust gelegt hatte. Zwischen dem ersten und dem zweiten Akt, wurde seine Maske nochmals aufgefischt, der Regisseur und der Intendant klopften ihm wohlmeinend auf die Schulter und berichteten ihm rasch von den erstaunten Blicken, die sie beim Publikum beobachtet hätten. Erleichtert lächelnd betrat der junge Schauspieler die Bühne zum zweiten Akt.
Im Grau des Bühnenbildes verlor sich sein in graue Tücher gehüllter Körper, das in hellen Farbtönen geschminkte Gesicht wandelte gut sichtbar für jedermann auf der Bühne umher. Unten, in einer altmodischen Versenkung am Bühnenrand verfolgte der Souffleur die Bewegungen des Schauspielers. Bisher hatte der Souffleur nicht eingreifen müssen, doch er blieb bereit.
Auf der Bühne nahm der junge Schauspieler eine auf dem Boden liegende Maske auf und hielt sie vor sein Gesicht. Eine venezianische Maske mit langer Nase und in schwarzer Farbe. Nun rezitierte der junge Schauspieler seinen Text, ergriffen lauschte ihm das Publikum, während des Monologs hielt das sonst geschäftige Treiben hinter der Bühne, für einen Moment inne. Die Worte ergriffen jeden, der Souffleur vergaß mit dem Finger den Text im Textbuch zu verfolgen und lauschte. In den hinteren Reihen, auf den Logen und im Foyer war die Stimme des jungen Schauspielers zu hören.
Der Text sah es vor, daß sich die Hauptperson des Stücks in Selbstzweifel stürzte, nach dem Sinn des Lebens fragen sollte, nur um dann mit Lächerlichkeit diese Frage wieder von sich zu stoßen, sich einem eingespielten Werbespot hingebend. Eine Ironie auf die fabrikfertige Massenfrage nach dem Sein mit passender Antwort, dargestellt in vielen verschiedenen Farben, die jeweils eine andere, modische Antwort auf alle Fragen darstellen sollte.
Der Schreiber des Stücks war bekannt als besonders kritischer Mensch, der dem verzerrten Menschen einen Spiegel vorhalten wollte, um ihn aus dem Dämmerschlaf seiner selbst zu reißen.
Seine Figuren scheitern an bestimmten Fragen im Leben und stürzen sich in ein Chaos aus Lust, Verzweiflung, Raserei. Dem jungen Schauspieler hatte dieses Stück anfangs nicht zugesagt, aber der Regisseur hielt ihn für die einzige Person, welche ein solches Stück spielen könne.
Nun stand er da, mit hell geschminktem Gesicht, davor die schwarze Fratzenmaske, die grauen Tücher um den Körper gehängt, vor einer grauen Wand. An ihm vorbei rasten Komparsen in bunten Kostümen, ihn gelegentlich anrempelnd und auslachend.
Der junge Schauspieler nahm die Maske ab, warf sie zu Boden. Sie zerbrach. Verwirrt zeigten sich hinter der Bühne Regisseur und Intendant, der Souffleur suchte eilig die Szene, nur das Publikum verfolgte weiter gespannt die Szene.
Waren es gespielte Zweifel oder waren es echte? Im Gesicht des jungen Schauspielers regte sich etwas. Er trat vor, die bunten Komparsen eilten verwirrt von der Bühne, es wurde still. Aus dem Kreis der Scheinwerfer trat der junge Schauspieler auf den vorderen Rand der Bühne, neben die Vertiefung, hinter welcher der Souffleur im Textbuch blätterte. Der junge Schauspieler sah sich langsam um, erkannte die Gesichter der Zuschauer. In ihnen konnte er lesen: Was macht er jetzt? Was wird geschehen? Gehört das zum Stück?
Mitten unter ihnen erkannte der junge Schauspieler das Gesicht eines Mannes, das weiß war, mit eingefallenen Augen, mit einem dünnen Bart um den Mund, der so merkwürdig gebogen war, daß der junge Schauspieler vermeinte, den Mann lachen zu sehen. Zwei lange Reihen Zähne grinsten, bleckten ihn an, lachten tonlos. Daneben eine Frau im Kostüm, die sich mit dem Programmheft Luft zufächelte, zu anderen Seite des stumm lachenden Mannes saß ein anderer Mann, der mit erstaunt offenem Mund abwartete, was nun geschehen solle. Neben dem grinsenden Gesicht aber verliefen alle Gesichter zu einer schwarzen Masse. Der junge Schauspieler nahm nur noch diesen Mann wahr, um ihn herum starrte eine Wand zu ihm hoch, gespannt von der Erwartung, verstört der plötzlichen Pause wegen.
Hinter Bühne lief der Regisseur umher, zischte dauernd „Vorhang, Vorhang", doch keiner der Bühnenarbeiter konnte auf dem Zeitplan einen Vorhang an diesem Punkt erkennen. Was würde denn der Herr Intendant sagen?
Der Herr Intendant saß in seiner Loge und wartete ab. Gerade erst kam er vom Bereich hinter der Bühne hervor, und als er unter vielen Entschuldigungen durch den Flur in seine Loge geeilt war, fiel ihm die eigentümliche Stille auf. Zwar hatte er das Klappern und Klirren der Gläser im Foyer wahrgenommen, das Flüstern des Garderobenpersonals und das helle Geräusch der Schlüssel, die der Hausmeister an ihrem Eisenreifen hin und her bewegte, aber das dunkle Murmeln, daß zu dieser Zeit immer von der Bühne her, bis ins Foyer zu hören war, blieb aus. Ungewöhnlich lange. Der Intendant setzte sich neben seine Frau, lächelte ihr kurz zu und sah dann die Szene, den am Rande der Bühne stehenden und starrenden Schauspieler. Er blickte seine Frau fragend an, sie blickte fragend zurück. Das stimmt etwas nicht.
Der junge Schauspieler nahm ein Zischen von der Seite wahr. Der Souffleur flüsterte ihm Text und Position zu. Der Flüsterer zischte und rollte die Augen, rot im Gesicht hatte er sich sogar ein wenig über sein Versteck am Bühnenrand vorgewagt. Von oben traf ihn der verwirrte Blick des Schauspielers. Wie lange stand er schon hier? Was grinst der Mann dort zwischen den Gesichtern?
Das starre, bärtige helle Gesicht zwischen der Frau, die sich immer noch Luft zufächelte und dem erstaunten Mann, regte sich nicht, es war nur da, die Szene verfolgend.
Der junge Schauspieler grinste ihm zu, lächelte und kniff die Augen zusammen. Hinter der Bühne lief der Regisseur umher, die verzweifelten Versuche von Schauspielern, Bühnenpersonal und anderen Anwesenden ihn zu beruhigen, ignorierend. Nervosität wurde von Zorn abgelöst, angstvolles Zittern von Schweißausbrüchen vertrieben. Was ist nur los mit dem Jungen? Hat er seinen Text vergessen? Hat ihn der Mut verlassen? Der Regisseur gab Anweisungen, daß man den Vorhang fallen lasse. Dies sei nicht möglich, weil der junge Schauspieler zu nahe am Rande der Bühne stehe und ihn der herabkommende Vorhang erschlagen könne. Flüche waren zuhören. Man solle den jungen Schauspieler vom Rand der Bühne weg locken.
Der junge Schauspieler lachte. Er lachte laut, irr und krampfartig. Nun sah sich das Publikum an, beugte die Köpfe zueinander und wisperte gelegentlich. Einige staunten noch immer, andere kratzen sich an den Köpfen. In seiner Loge rutschte der Intendant nervös auf seinem Stuhl hin und her, unter den mißbilligenden Blicken seiner Frau.
Der Souffleur gewahrte vom Bereich hinter der Bühne die hektischen Handzeichen einiger Bühnenarbeiter und selbst des Regisseurs. Er sollte den jungen Schauspieler irgendwie in Richtung Kulisse locken. Mit weit aufgerissenen Augen gab der Souffleur Zeichen, daß er dies wohl kaum bewerkstelligen könne, doch da taumelte der jung Schauspieler vom Bühnenrand weg, lachend. Der Vorhang fiel. Das Theater atmete auf. Die Pause wurde eingeläutet, früher als sonst, wie man bemerkte.

Sie reden auf ihn ein, während er in der Garderobe auf einem Stuhl sitz. Der Regisseur hat eine Hand in der Hosentasche, die andere beschreibt wirre Wege in der Luft. Er steht vor dem jungen Schauspieler, der völlig erschöpft dasitzt, den Regisseur, die Wand und den Intendanten, die Tür und sein Spiegelbild abwechselnd beobachtet.
Er soll sich zusammenreißen. Die Premiere ist wichtig, sowohl für das gesamte Theater wie auch für ihn und seine künftige Karriere. Was ist überhaupt passiert? Ein Gesicht, das grinste? Vielleicht ein Kritiker? Ja, vielleicht ein Kritiker. Doch darum soll sich er sich nicht kümmern, er soll einfach nur seine Rolle spielen. Wie immer, wie es sich für einen Schauspiele gehört. einfach nur die Rolle.
Der Souffleur klopft an die Garderobentür und wird eingelassen. Auch er will wissen, was passiert ist. Gab es Fragen von den Zuschauern? Nein, die scheinen nichts gemerkt zu haben oder halten den Vorfall für eine besonders eigenwillige Interpretation des Stücks. Gut. Es geht weiter? Ja.
Keiner der Herren kann sich erklären, was vorgefallen ist, doch sie werden das Stück beenden, sie sind sich alle vier sicher. Der Intendant wird das Stück von der Loge aus sehen, der Regisseur wird hinter der Bühne stehen. Der Souffleur versichert, daß er in jedem Fall besonders aufmerksam sein wird und das niemand befürchten muß, daß etwas derartiges nochmals vorkommen könnte.
Der Schauspieler läßt sich die Maske richten, er wird weiter spielen, das Gesicht im Publikum nicht mehr beachten.
Im Foyer treffen sich die Zuschauer, begrüßen sich und diskutieren. Stimmen vermischen sich zu einem Durcheinander, es wird geraucht, getrunken. Ein Mann berichtet, daß er glaubt ihm habe der junge Schauspieler direkt ins Gesicht gesehen und dann angefangen zu grinsen. Eine Frau, die sich mit ihrem Begleiter vor dem Theater aufhält, um dort freier atmen zu können, berichtet von einem ähnlichen Eindruck.
Ein Gong ruft die Zuschauer zurück.

Der Schauspieler betrat die Bühne zum dritten Akt, in einem anderen Kostüm und mit einer dunkleren Maske. Sein Auftreten wirkt entschlossener und sicherer. Ist es die Rolle? Der Souffleur kann sich nicht erinnern, daß dieser Aufzug so geprobt worden war, doch seine wieder aufgekommene Nervosität legte sich schnell wieder, das Stück läuft ohne Vorkommnisse weiter, nur das deutlich andere Auftreten des Schauspielers bleibt auffallend.
Auch der Regisseur fühlte sich unwohl. War es so geprobt worden? Nein. Aber es mißfiel ihm nicht, es paßte gut hinein, verfälschte nicht die Interpretation, die er sich ausgedacht und mit den Schauspielern eingeprobt hatte. Eine solche Eigenwilligkeit des Schauspielers, diese Entschlossenheit war ihm bei den Proben nicht aufgefallen. Die übrigen Schauspieler hatten immer wieder lange über die Interpretation ihrer Rolle gestritten, diskutiert und daran gefeilt. Ihr Kollege hingegen schien mit seiner Rolle verwachsen zu sein, in ihr aufgegangen zu sein, so daß die Interpretation des Regisseurs zwar nicht völlig verändert, doch aber anders war, vollkommener. Aus diesem Grund hatte der Regisseur alles daran gesetzt, daß der Schauspieler diese Rolle auch behalte. Das Publikum bemerkte nichts.
Der Schauspieler blickte auf einen leeren Punkt hinter den Reihen der Zuschauer, blickte durch die Wände des Theaters. Dort hinten, am Ende seines Blicks war der einsame Horizont, befreit von allen Störenden Gegenständen und Bauten, Menschen und Eindrücken, einfach frei und einsam. Einzig der Abendstern zeigte sich in der kalten Luft, blickte höhnisch vom Ende des Horizonts zurück, grinsend.
Für einen Moment mußte der Schauspieler zweifeln. Ist am Ende der Bühne noch etwas? Ist der Rand der Bühne der Rand der Bühne das Ende der Welt? Er warf seine Zweifel ab, fand in den Text, in seine Rolle zurück und spielte sie aus bis zum Ende des dritten Akts.
Der Regisseur gab dem Souffleur ein Zeichen. Er ballte die Faust und ließ den Daumen nach oben zeigen, der Souffleur erwiderte die Geste. Im vierten Akt sollte die überraschende Wende des Stücks kommen. Wenn das Publikum denkt, der Held begehre auf, werfe die Fesseln von sich, sollte er eine Maske aufsetzten, die mit den Masken der Komparsen genau identisch ist, der Held des Stücks wird sich in der Masse der Masken verlieren. Das Bühnenbild des vierten Akts zeigte eine große Zahl von an Wänden und Stangen befestigen Masken, die alle vollkommen gleich waren.
Doch der Schauspieler warf die Maske von sich, mit großer Wucht, daß sie auf dem Bühnenboden zerbrach. Für einen Moment mußten der Regisseur, der Intendant, der Souffleur und die gesamte Belegschaft des Theaters denken. Eine Unterbrechung. Dann begann das Gerenne, Flüstern, Zischen, Gestikulieren, Schnauben. Der Intendant sackte in sich zusammen, von seiner Frau bemitleidet, der Regisseur erging sich in einem neuen Wutausbruch, der Souffleur nahm die Brille ab, zerknitterte das Textbuch, als er sein Gesicht in seinen Händen verbarg. Die anderen Schauspieler standen mit ratlos umher. Der Regisseur schrie laut und wütend, so daß es bis in den Zuschauerraum zu hören war: „Improvisieren!"
Nun bemerkte auch das Publikum etwas.
Ein fragendes Murmeln und Blicken, ein Austausch zu rechten und linken Seiten begann, während der Schauspieler regungslos auf der Bühne dastand, zitterte und sich schließlich fallen ließ. Um ihn herum liefen dann einige Komparsen, vom Regisseur geschickt um das Stück, koste es was es wolle, zu retten. Er gab Zeichen, hektische Anweisungen, die Beleuchter sollten das Licht dämmen und den Schauspieler in den Hintergrund weichen lassen, doch der saß, die Beine untereinander verschränkt auf der Bühne und schüttelte den Kopf. Er sah sich fragend um und grinste in Richtung des Publikums.
Jedes Bemühen der Komparsen, Schauspieler und Beleuchter war umsonst. Das Publikum hatte es jetzt bemerkt. Die Maske war gefallen, nicht vereinbart, sondern aus einem anderen Willen heraus. Sie lag da, verbarg den Schauspieler nicht mehr, zerbrochen. Der Souffleur war durch den Gang unter der Bühne bis hinter die Kulisse geeilt, sah dort den Regisseur, der sich rauchend auf eine Kiste gesetzt hatte und nichts sagte. Der Regisseur hatte die Komparsen von der Bühne gerufen und ordnete nun an, daß der Schauspieler von der Bühne zu holen sei, mit Gewalt wenn nötig. Alles weitere würde man dann sehen. Ein Nervenzusammenbruch, den Anforderungen nicht gewachsen. Der Regisseur dachte sich bereits eine Geschichte für die Presse aus.
Auf der Bühne stand der Schauspieler nun wieder. Er schritt auf und ab, sah das Publikum an. Das Publikum hatte für einen Moment das Gefühl fixiert zu sein, keinen Ausweg mehr zu sehen. Verstört rutschte es hin und her, stellte sich fragen, wurde allmählich lauter. Es war verstört, überfordert.
Es wollten drei Bühnenarbeiter die Bühne betreten, um den Schauspieler wegzuführen.
Der Schauspieler blickte ins Publikum, es beruhigte sich nicht mehr, es gebärte sich deutlich lauter.
„Niemand ist hier", sagte der Schauspieler.
Er sackte zusammen und starb.





Mirko Stauch 1999
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. mächtig gewaltig, deine geschichte. n bischen lang, aber knackig. laß mal das rechtschreibprogramm drüberlaufen. lg
 

Oblivia

Mitglied
Warum nur wird eine an und für sich gute Idee oft so endlos lange durchgekaut, bis sie nicht mehr schmeckt?

Flammarion hat recht, die Geschichte ist entschieden zu lang, wenn Du die ewigen Wiederholungen herausstreichst, kann man aber durchaus etwas daraus machen.

Der Schluß ist allerdings reichlich platt.

Oblivia
 



 
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