Vom Kreuz

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gareth

Mitglied
„Du musst verschwinden“, sagte jener auf der Erde,
einsam, krank und elend und verwundet,
„das wird mein Erbe sein, für meine Brüder, Schwestern,
nur das ist mir geblieben noch zu tun.
Ich sage es dies eine, letzte Mal.“

Fragend schwieg das Himmelreich zurück.

„So schweige nur, so schweige noch am Ende,
denn wahrlich, deiner Worte sind genug.
Betrachte deine Wege durch die Zeiten
und messe sie getrost an deinem Worte,
dann stell, o Herr, gerettet und verloren, die Bilanz
und sieh gleich mir die Folge deines Wirkens:

verloren die, die kritisch ihre Gaben
zu nutzen trachten, wie du sie geheißen,
gerettet noch die Ärgsten, so sie glauben.

Ein Dutzend Leben gegen tausend Tode,
ein Gränlein Weisheit gegen wilden Wahn.
Ein gnadenloses Schlachten dir zu Ehren,
von dir nicht nur geduldet, nein, begrüßt,
gewollt, so lesen sie in jenen Schriften,
die künden von Gewalt und Mord durch dich.
Das ist was bleibt, von uns, von unserm Wollen,
das ist, was ich erreicht, mit meinem Plan.

Sie werden töten, brennen, morden, Jahr um Jahr,
in tausend Jahren noch in unserm Namen
und Religion um Religion wird sich erheben,
Gerechte, Ungerechte, niemand wird sie scheiden
und nie wird sein des Treibens je ein Ende.
Es dürstet mich, all das zu widerrufen,
was ich gesagt, die Menschen zu befreien,
den Blick auf deinem Himmel. Dieser Schuld
mich zu begeben, wenn ich gehe, schreit mein Herz.

Und zwing mich nicht, so lange hier zu reden,
die Zeit ist knapp, Jehova, höre gut:

Lass alles Spekulieren auf mein rasches Ende,
lass mich allein nun hier und geh davon
und zwing mich nicht, die Sache aufzuklären
an diesem Ort, von diesem Kreuz herab.“

Und Wind kam auf und es begann ein Ringen,
ein letzter Kampf um Wahrheit und um Liebe,
um Hoffnung und Versagen, Schuld und Sühne,
begleitet wild von Sturm, Nacht, Blitz und Beben,
bis endlich der, der mit den vielen Namen,
der ew´ge Schweiger, dienstbar allen Mächten,
das Himmelreich verließ und der am Kreuz
sein Leben gab, erschöpft im letzten Sieg.

Und dieses war der Handel, der geschlossen:

Ich, Jesus Christus, Mensch und reinen Herzens,
der Menschensohn und Hoffnung für die Vielen,
die sich mir anvertraut, bin schuldig des Versagens.
Und doch, in dieser Stunde meines Todes
sei der Moment der Wahrheit und des Lichts.
Ich will Erlösung schaffen, Schutz für alle Menschen,
um die ich einst geworben reinen Glaubens,
und Helfer wieder sein und nicht Verführer.
Das Wesen Gott, rachsüchtig und versagend,
an das ich mich gebunden in Verblendung,
wird nicht mehr sein, sobald ich nicht mehr bin.
Dies soll uns sein ein eherner Vertrag
und mein Vermächtnis, dass von allen Menschen
Verzeihung mir gewährt sei nun zuletzt.

Und dies ist was ich biete, höre gut:
Ich will dich ‚Vater’ nennen noch dies eine Mal,
im Angesichte derer die mich lieben,
von diesem Kreuz herab im Angesicht des Todes,
herab von diesem Kreuze deiner Schande.

So werden sie dich wahren in den Herzen,
Musik und Dichtung widmen ihrem Höchsten,
mit reiner Seele und mit freiem Geist
aufstrebend sich bemüh´ n in ihren Besten.

Doch Krieg und Frieden, Krankheit und Verderben,
gelöst, entzogen ewig deinem Willen,
sei einzig nun anheim gestellt dem Walten
der Kräfte dieser Welt für die es eins bleibt:
Leben oder Tod, in wahrer Harmonie.
Und ebenso sei es mit all der Liebe,
mit all der Zärtlichkeit, die Menschen tief empfinden,
sie sei gelöst vom Glauben, für und für.
Ihr sollt einst leben ohne Sünde, Scham und Schuld,
euch lieben ohne Furcht, folgt euren Herzen,
lasst ab von jedem Urteil nach dem Glauben,
seht in der Liebsten Augen und erkennt
darin, was immer euch zu wissen drängt.

Ihr werdet es verstehen eines Tages
und dann den ersten Schritt zur Freiheit tun
und Menschlichkeit, nicht Glaube wird euch leiten.
Ach könnt dereinst ich der sein, es zu künden“.

Und jenes Wesen mit den vielen Namen,
geboren aus Entsetzen, Leid und Tod,
genährt von Liebe, Einfalt, Schuld und Angst,
verließ das Himmelreich, das mit ihm endet.

Und während schon sein Haupt sich sterbend neigte,
sprach laut des Menschen Sohn noch einmal: „Vater.
Es ist vollbracht!“, vernehmlich für die Zeugen.

Dies Opfer, Brüder, Schwestern, sollt ihr ehren
und seid gewiss, dass alles, was geschehen
auf dieser dünnen Kruste unsrer Erde
seit jenem Tag hat seinen Ursprung hier.

Und wenn ein Edler stirbt in jungen Jahren
und wenn ein Mörder, Schlächter, schwelgt als freier Greis,
dann sei der Mensch allein des Menschen Richter.
Sucht letzte Gründe, Hilfe nur in Euch.

Dies ist die Lehre, seht, die euer Bruder
zum Preis des eignen Lebens euch erstritten.

Der diese Kenntnis mühsam hat erworben,
er kann euch nur berichten, handelt selbst.
 
L

Lotte Werther

Gast
An gareth

Als ich diesen Text las, fiel mir ein anderer von dir ein, den ich wieder und gerne las: Ein Junitag anno 98. Dort wie hier finde ich deine Auseinandersetzung mit jenem, den du Gott nennst, eigenwillig und gut in der Ausführung.

Sowohl das Thema als auch der sprachliche Niederschlag verlangen mehr vom Leser als nur ein paar Minuten der oberflächlichen Lektüre. Zu lange ist es aber nicht. Das Sujet braucht Länge, Getragenheit des Versmaßes und eine angemessene Sprache. Und dies hast du getan.

Selbst Handeln. Damit vor allem kann ich mich identifizieren. Weil ich immer schon den Gedanken des Handelns vertreten habe. Nicht den des Wartens und des sich in die Opferrolle Begebens.

Lotte Werther
 
K

Kasoma

Gast
Na, lieber Gareth...

ist denn heut schon Weihnachten?
Da hast Du uns ein schönes, schweres Geschenk gemacht...
Von der Aussage her gebe ich Lotte recht: sehr weise und wahr, alles in allem. Aber: sprachlich sehe ich ein ungewisses Kuddelmuddel... ne, das klingt nicht, zumindest nicht in meinen Ohren!
Schon im ersten Abschnitt die drei "und", dann die Stelle, dass der Himmel schweigend zurück blickt - außerdem viel zu viele steife Hauptwörter...
Ich habe es durchgehalten, weil ich die Botschaft erfassen wollte und das ging dann auch...

trotzdem, sei herzlichst gegrüßt von Kasoma

P.S Oh, ich sehe gerade, es sind nicht drei "und", es sind nur zwei, aber drei Adjektive stehen dazwischen...sei es drum: Ich mag es nicht! Aber alles rein gefühlsmäßig, bin kein Lyrikexperte, sorry
 

gareth

Mitglied
Ja, ich kenn die auch, Kasoma,

die Lehren, die besagen, dass wir möglichst wenig Adjektive und wenig steife Hauptwörter einsetzen sollen. Das sind schöne, einfache Regeln, die man sich gut merken kann *seufz*.
Für deine Bereitschaft, es zu Ende zu lesen, obwohl du es nicht magst, sei dir gedankt.

Dir, liebe Lotte Werther, danke ich ebenfalls für die Auseinandersetzung mit dem Text und das Finden von Begriffen, die sich von 'ungewissem Kuddelmuddel' für meine armen Ohren wohltuend abheben, nachdem ich mir so viel Mühe mit der Metrik gemacht hab :eek:)

So viel für den Moment von

gareth
 
K

Kasoma

Gast
Lieber Gareth,

nein, ich kenn sie nicht diese Regeln, um so mehr scheinen sie mir ihre Berechtigung zu haben, wenn es sie denn gibt...
Ich finde der Ausdruck "Kuddelmuddel" ist hier gut gewählt, er beschreibt laienhaft, was ich denke, doch er trifft den Kern...

In der Bibel herrscht ein Ton vor, der feierlich, tragend und von eingängiger Melodie ist...dennoch ist er schlicht und nicht verworren - so hätte ich mir dieses Stück gewünscht...wenn Du verstehst...

Von diesen Sätzen werde ich morgen keinen mehr wissen und das tut mir leid, weil Du mir ein echtes Geschenk hättest machen können, Du ja...

Gruß von Kasoma, die nett und nicht gern anderer Meinung ist
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Gareth,

mir scheint Form und Ausarbeitung perfekt zusammenzuspielen.
Entgegen gewöhnlichen Texten, die sich mit der Eigenverantwortlichkeit des Menschen beschäftigen, nimmst Du Dir die Zeit und das Recht eine Argumentation über den Umweg ihrer Herkunft zu führen.
Einen Held der Christen zu wählen, ist hier wohl dem kulturellen Umfeld geschuldet.
Das Jesus am Kreuz seinen Gott besiegt, macht ihn Prometheus gleich.
Allerdings bleibt auch hier der dunkle Nachgeschmack, mit welchem Recht sich ein Einzelner zum Befreier Aller aufgerufen fühlt, denn in letzter Konsequenz brauchen die Menschen selbst das nicht.

cu
lap
 

Dorothea

Mitglied
Eigenwillige Antwort auf tiefgründige Fragen

Hallo Gareth,

ich möchte ausdrücklich meinen Respekt ausdrücken vor Deinem Werk, das auf originelle Weise sich auseinandersetzt mit einer uralten Menschheitsfrage.
Dieses gern gespendete Lob darfst Du sehr hoch gewichten, weil es von einer überzeugten katholischen Christin kommt, die Manches daher etwas anders sieht.
Ein ausführlicher Kommentar zu Details würde den Rahmen sprengen, und ich möchte diesen Text, den ich als wertvoll erachte, nicht ins Lupanum versenken.
LG.
 

gareth

Mitglied
Lieber lapismont, liebe dorothea,

ich bin Euch Beiden sehr dankbar für Eure Kommentare, weil sie mich stützen in meiner Unsicherheit gegenüber meinem eigenen Text (die ich Kasoma gegenüber zugegebener Maßen nicht so deutlich gemacht habe). Es hilft mir, dass lapismont sich mir in der formalen Frage zuneigt und mich an die kulturbedingte teilweise Begrenzung des Themas erinnert hat.
Ich habe Jesus eine Rolle zugewiesen, die ihn mir selbst näher bringt, indem ich ihn nach Vollendung seines Lebens erkennen und äußern lasse, dass nur ein wirklich in Verantwortung dem Nächsten gegenüber selbstbestimmtes Leben den Menschen frei machen kann und nicht ein Berufen auf höhere Mächte. Dies wollte ich in Einklang bringen mit der Wirklichkeit unseres täglichen Erlebens, das uns mit unzähligen sogenannten Religionskriegen konfrontiert und täglichen Geschehnissen, die aus meiner Sicht eine Nichtbeteiligung Gottes unbedingt wünschenswert erscheinen lassen. Es hat ein Jahr gedauert und der kritischen Ermutigung durch Lotte Werther bedurft, bis ich mich entschloss den Text zu veröffentlichen. Dein Kommentar, Dorothea, ist mir deshalb besonders wichtig, weil er zeigt, dass die vorgetragenen Gedanken zumindest teilweise auch für eine gläubige Christin lesbar sind.

Liebe Grüße
gareth
 

Wolkenreiter

Mitglied
ein absolut grandioser Text, Gareth, über den man lange sinnieren kann. Es ist jetzt das dritte Mal, dass ich ihn lese und immer noch entdecke ich neues. Episch!

Herzliche Grüsse,
Markus Saxer *Wolkenreiter*
 



 
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