Vom Schiff

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Zugfensterbilder. Tote, halb bewachsene Gleise und backsteinerne Baracken, darum ausgebrannte Wiesen und hier und da im Hintergrund eine alternde Villa.
Zugfensterbilder, flatterten an der Scheibe vorbei wie die alten Postkarten vom Tisch eines Trödelhändlers, der mal wieder bei heftigem Wind an der falschen Stelle aufgedeckt hatte.
Und im Spiegelbild der selben Scheibe das milde, ganz verhaltene Lächeln einer alten Frau, die unter tränengegossenen Falten mit der Welt ihren Frieden geschlossen hatte.
Erst ein paar Augenblicke lang schaute sie dort hinaus, als ihr Mann gegenüber nach der altweißen Handtasche griff, sie wie einen Schulbeutel um seinen Oberkörper legte und die Hände davor in seinem Schoß verschränkte.
„Was soll das?“ fragte sie und sah ihn an, wie man einen eng Vertrauten ansieht der Dummes tut.
„Ist schon gut“, erwiderte er gelassen. „Wir sind ja noch nicht da.“
„Ja aber warum hängst du dir die Tasche um? Wie sieht denn das aus?“
„Wir sind ja noch nicht da.“
Als hätte es keinen Zweck, schüttelte sie den Kopf und warf nochmals einen flüchtigen Blick aus dem Fenster.
„Erinnere dich bitte“, fuhr er aber fort, und lehnte sich ihr ein Stück weit entgegen, „wie wir beide mit dem Schiff gefahren sind.“ Sie sah ihn wieder an und schwieg. „Erinnere dich bitte, wie wir beide mit dem Schiff gefahren sind. Wir haben beide nicht bemerkt, wie jemand den Aschenbecher von unserem Tisch genommen hat.“ Sie nickte, und dennoch verlangte ihr Blick noch immer nach einer Erklärung. „Wenn du die Tasche dort stehen lässt“, ergänzte er mit mahnender Gestik. „Du brauchst nur mal kurz aus dem Fenster zu sehen. Schon ist sie weg. – Erinnere dich, wie wir zusammen auf dem Schiff waren.“
„Ich weiß gar nicht wovon du redest.“
„Erinnere dich, wie wir zusammen auf dem Schiff waren. Und wie wir beide nicht bemerkt haben, dass jemand den Aschenbecher von unserem Tisch genommen hat.“
Und wieder schüttelte sie nur den Kopf über seine Worte, blickte zurück aus dem Fenster.
Auf dem Schiff, dem Schiff. Was meinte er?

Das einzige Schiff an das sie sich beim Anblick Berliner Vorstadtvillen zu erinnern vermochte, war ein riesiger Dampfer im kalten, windigen Hafen Hamburgs im Jahre ’38. Ein Gigant, der aus dem Wasser ragte wie ein Haus; so stand es in ihrer Erinnerung geschrieben.
Und wie die Streichhölzer in einer vollen Schachtel, lagen sie, ihre Eltern, der Bruder und unzählige Fremde dicht an dicht gedrängt auf dessen Deck aneinander.
Ein riesiges, menschliches Puzzle, hatte es irgendwer genannt. Und wer sich rührte, ob Wind oder Wasser, machte das schöne Bild wohl kaputt. So jedenfalls lautete das Spiel, wie sie es sich anfangs aus Spannung und Angst ausgedacht hatte.
Aber nach stunden- und tagelanger Fahrt begann dieses Spiel in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, so wie alles verschwand. Das Land, das Gefühl für Zeit, das Gefühl Mensch, geschweige denn Kind zu sein. Immer stiller wurden die stillen Momente, und immer lauter die Attacken von Lärm, in denen irgendwer schrie oder heulte, sich übergab oder sang. Irgendwann verschwand sogar das Schiff, sahen ihre kleinen, müden Augen nur mehr die unebene Fläche aus Decken und Mänteln.
Dort hatte es keine Aschenbecher gegeben, nicht einmal Tische. Und wenn es sich irgendwer erlauben konnte zu rauchen, schnippte er die Asche direkt von der Reling aus in den Wind, der sie weiter trieb, zurück dorthin woher sie kamen, und wo bald mehr Asche den Himmel bedecken sollte.
Doch wie konnte sie davon ahnen? Sie, die sie bis auf die kleine Puppe, die ihre Mutter unterm Kleid versteckt hatte, ihr ganzes Spielzeug verloren hatte. Sie, die sie nicht verstanden hatte was vor sich ging, als ihre Eltern von Schalter zu Schalter gegangen waren, um Villa, Geschäft, Vermögen und Identität Stück für Stück binnen Stunden für ein paar Fetzen Papier einzutauschen. Aus dem Mann mit dem heiteren Lächeln und der Frau mit den rosanen Wangen – wie sie ihre Eltern über Jahre gekannt hatte – war ein Vagabundenpaar geworden, das nichts besaß, bis auf die Kleider am Leib. Sozial Tote, die mit dem letzten Fußtritt einem Gebäude entkamen, dessen Strohdach bereits lichterloh in Flammen stand.

Gefasst und flink wischte sie sich mit dem Finger unter den Augen entlang und sah ihn an, wie er da saß, die Tasche im Schoß, wie ein gealtertes, aber nicht erwachsen gewordenes Kind. Aber wann sollte sie mit ihm auf einem Schiff gereist sein?
Denn dies andere Schiff, an das sie sich jetzt als einziges erinnerte, hatte sie damals müde, schwach und schwerkrank gemacht. Und nach Jahren noch wollte sie keines mehr betreten. Selbst dann nicht als sie längst verstand, dass jene Tortur einer Überfahrt sie vor schlimmerem Schicksal bewahrt hatte. Vor fensterlosen Zügen, die über tote, halbbewachsene Gleise in backsteinerne Baracken fuhren, darin ausgebrannte Menschen und hier und da – ganz plötzlich schlug sie ihm auf sein Bein. Ihr war eingefallen, welches Schiff er gemeint.
 

Zefira

Mitglied
Lieber David,

die Geschichte ist zwar großartig geschrieben, aber am Ende ein wenig verwirrend.

Ich verstehe es so (korrigiere mich, wenn ich falsch liege), daß die Frau die Schiffahrt, die der Mann meint, deshalb vergessen hat, weil jene Überfahrt mit den Eltern ihr Gedächtnis vollkommen dominiert. Der Begriff Schiff ist bei ihr gewissernmaßen besetzt mit diesem Vorgang. Die Fahrt, von der ihr Mann spricht, ist dagegen bedeutungslos.

Ist das richtig? Oder beinhaltet der Schlußsatz noch einen weitergehenden Hinweis auf etwas, was ich nicht verstanden habe?

Wenn meine Interpretation jedenfalls richtig ist, dann finde ich folgenden Satz nicht ganz schlüssig:

>>Denn dies andere Schiff, an das sie sich jetzt als einziges erinnerte, hatte sie damals müde, schwach und schwerkrank gemacht. Und nach Jahren noch wollte sie keines mehr betreten. Selbst dann nicht als sie längst verstand, dass jene Tortur einer Überfahrt sie vor schlimmerem Schicksal bewahrt hatte. <<

Wenn sie also von jener Überfahrt eine - sagen wir mal - Schiffsphobie davon getragen hat, sollte ihr der Augenblick, als sie sich zum erstenmal überwand und doch wieder den Fuß auf ein Schiff setzte, noch in Erinnerung sein, oder? Vielleicht nicht der Moment mit dem Aschenbecher - aber der Moment, als sie ihre Angst und Abneigung besiegte.

Sagst Du mal ein paar Worte dazu?

Noch mal: Großartig geschrieben ist die Geschichte allemal.

Lieben Gruß,
Zefira
 
Zunächst danke für's Lob.

Zur "Interpretation": das hast Du schon so richtig verstanden, dass die Schiffsflucht damals ihre Erinnerung mit dem Begriff Schiff dominiert - vor allem beim Anblick der alten Berliner Villen!, aus denen sie ja damals weg musste.
Über den, wie ich finde etwas plötzlichen Schluss, bin ich auch nicht ganz glücklich. Ich habe nachwievor das Problem, dass ich seit Jahren keine richtigen Kurzgeschichten mehr geschrieben habe, sondern nur noch an Romanen arbeite. Meine Spannungsbögen und sonstigen Dramaturgien sind also inzwischen an einen Umfang von mindestens 100 Seiten gewöhnt. Trotz allem sind die kurzen Texte in diesem Rahmen hier aber eine angenehme Abwechslung und vor allem Dank der konstruktiven Kritik äußerst lehrsam für mich. Aber jetzt werde ich wohl doch etwas zu allgemein.

Also zurück zum Text: Es ist ja nicht gesagt, dass die Schiffsreise mit ihrem Mann die erste war zu der sie sich überwunden hat. Für Jahre hatte sie keines betreten. Wann sich das geändert hat ist ja da nicht gesagt. Außerdem kann einem doch schon mal etwas entfallen, wenn man ohnehin die ganze Zeit auf was anderes fixiert ist. Und hier verweise ich noch mal auf den Anfang und den Blick aus dem Zugfenster auf die alten Beliner Villen.

Tja, so weit erst mal meine Erklärung dazu.
 



 
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