Vom Wolf im Schafspelz

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Reflex

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Vom Wolf im Schafspelz


Ich wünschte, ich könnte dir besseres berichten, doch hat es sich so zugetragen, wie ich es nun erzähle:

Wir hielten ihn für einen Wolf im Schafspelz, doch irrten wir uns, war er doch nur ein Wolf, der seiner Natur folgte. Es war der geringste, der schwächste, der unbekannteste meiner Brüder, der auf ihn zeigte und meinte, ihn entlarvt zu haben. Wir glaubten ihm, obwohl wir ihm noch nie geglaubt haben. Und als wir an ihn glaubten, wuchs er über sich hinaus. Er wurde größer, als all seine Brüder und Schwestern, er überragte seine Eltern und blickte auf uns herab. Er fletschte seine Zähne, stieß einen gellenden Schrei aus und hielt sein Gewehr in die Höhe. Wir taten ihm gleich und jeder, der uns beobachtete, verkroch sich vor Furcht hinter seinem Ofen. Mit lautem Gebrüll folgten wir meinem Bruder, den Wolf zu enttarnen und ihn zur Strecke zu bringen. Nur wenige Schritte von unserem Haus entfernt, stellten wir den Täuscher, den Blender, den Betrüger, der voll gefressen von seinem letzten Raubzug auf der Lichtung ruhte und nicht bemerkte, dass wir uns ihm näherten. Mein Bruder vornweg eilend erspähte ihn zuerst und legte sein Gewehr an, seine Trophäe anvisierend, doch bevor er schoss, rückten wir lärmend näher. Der Wolf öffnete verschlafen seine Augen und starrte verängstigt, hellwach mit einem Male, unfähig sich zu rühren in die Läufe unserer Gewehre. Er zitterte, er zitterte, er zitterte und flehte laut um Erbarmen.
„Keine Gnade“, schrie mein Bruder, frisches Blut bereits witternd.
„Keine Gnade“, schrieen wir im Chor der Henker und der Kugelhagel, einem Inferno gleich, streckte den Wolf nieder.
Wir umringten ihn und brachen in lautem Jubel aus. Mein Bruder packte den noch warmen, zerrissenen Fleischberg und hielt ihn in die Höhe.
„Triumph, Triumph, Triumph“, rief er uns zu, das wir ihm dreimal nachsprachen.
Wir hoben ihn auf unsere Schultern, während das Blut des Wolfes an ihm auf uns heruntertropfte und kehrten jubelnd in unser Dorf zurück, in dem wir freudig begrüßt wurden. Man schlachtete ein Lamm, spielte Musik und ein Fest nie gekannter Größe nahm seinen Lauf. Nur eine alte, sehr alte Frau, faltig und vertrocknet, saß in ihrer Hütte und feierte nicht mit uns. Stattdessen fragte sie uns Feiernde:
„Habt ihr denn einen Schafspelz beim Wolf gefunden?“
Mein Bruder antwortete:
„Nein, na und? Der Wolf ist tot, erhebet die Becher!“, und wir stießen mit ihm an.
Die Feier währte drei Tage und drei Nächte. Mein Bruder wuchs mit dieser Tat, wir verehrten ihn seitdem und ich war stolz, sein Bruder zu sein. Die Alte verkroch sich aber in ihrer Hütte und zündete eine Kerze für den Wolf an.
 
B

Blackmail

Gast
Guten Tag, mein Bruder.

Deine Wortwahl gefällt mir sehr gut, dieser Text hat mich geradezu eingeladen Ihn zu lesen. Es lässt sehr viel offen worüber man sich Gedanken machen kann.
Dein Schreibstil erinnert mich etwas an meinen in jungen Jahren, als meine Gefühle meinen Verstand übermahnt haben und ich schneller dachte als ich schrieb.

Mit etwas Übung kann aus dir was ganz großes werden. ;)
Ein großer Narr, wie wir alle hier. Doch da es dein erster Text ist und du so zu sagen noch Jungfräulich bist freu ich mich eine Fortsetzung.

Hochachtungsvoll

Mr. Blackmail aka Steppenwolf
 

Reflex

Mitglied
Hey Steppenwolf,

erst einmal möchte ich mich für die späte Antwort entschuldigen und Dir danken für die positiven, ermunternden Worte, denn ehrlich gesagt war ich eher ein bisschen skeptisch, als ich meine kleine Geschichte bei Leselupe eingestellt habe. Ich war mir nicht mal sicher, ob man sie als Literatur bezeichnen kann... ;-)

Der überhastete Stil ist bei der Geschichte durchaus gewollt. Letztlich geht es mir bei meinen Kurzgeschichten mehr um die Vermittlung von Atmosphäre als um eine bestimmte Aussage. Ich möchte dem Leser keine vorgefertigten Antworten vorgeben, sondern ich will ihm in den Hintern treten, dass er sich doch einmal ein wenig mehr über Alltäglichkeiten Gedanken machen sollte verpackt in einer märchenhaften oder fantastischen (vom Worte "Fantasie" stammend und nicht im Sinne "besonders gut") Geschichte und sich fragt, ob er die Dinge, die er als gegeben hinnimmt, wirklich hinnehmen sollte (das klingt jetzt ein bisschen so, als wollte ich andere mit erhobenem Zeigefinger zurechtweisen und oberlehrerhaft belehren. Das liegt mir aber wirklich fern). Es sollen einfach Denkanstöße sein, die vielleicht helfen, neue Dimensionen zu ergründen oder vielleicht finden ja einige ihre Gedanken darin wieder. Und all das möchte ich dann noch in einigermaßen anspruchsvolle Worte fassen. Kurzgeschichten sind insofern sehr gut zum Experimentieren und ein solches Experiment ist auch diese Geschichte. Sie ist in kurzer Zeit entstanden und vom Stil her eigentlich nicht repräsentativ für mich (meine ich). Vielleicht erkennst Du Unterschiede, wenn Du eine andere Geschichte von mir lesen solltest, die sicher bald folgen wird. Ich würde mich freuen.

Danke und viele Grüße

Reflex
 



 
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