Von Stillen Örtchen und verschlossenen Türen

Freeda

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Berlin, und ich mittendrin, sehr jung noch und, obwohl ebenfalls aus einer Großstadt kommend, beeindruckt von dem Ausmaß dieser Stadt, in jeder Hinsicht. Für ein Vierteljahr, den Herbst über, sollte Berlin mein Zuhause sein, und ich erinnere mich, dass es an einigen Tagen schon winterlich kalt war. Manchmal gab es nächtens Frost, wie sonst nur im Januar; eifrig wurden die Kohleöfen befeuert, und die Luft roch nach Brikett. Die Wohnung, die ich mir mit einer Bekannten teilte, lag in einem Altbau von der Art, welche man eigentlich lieber abgerissen hätte und war ausgestattet mit Einfachglas-Fenstern, die jedes Mal, wenn ein LKW unten auf der Straße über das Kopfsteinpflaster rumpelte, leise klirrten. Obwohl der Wind sich durch alle Ritzen eben dieser Fenster drängte, fand ich sie besonders reizvoll und deshalb jetzt erwähnenswert, denn es wuchsen Eisblumen daran, und so etwas Schönes hatte ich zuletzt in meiner Kindheit bestaunt. Meine Eltern hatten frühzeitig alle Fenster des Hauses gegen hochmoderne Doppelglas-Scheiben austauschen lassen, was dazu führte, dass sich ungehindert ein Schimmelpilz an den Wänden vermehrte (der bei weitem nicht so schön anzusehen war wie Eisblumen), aber das ist eine andere Geschichte. Im engen Treppenhaus wanden sich die ausgetretenen Stufen einer knarrenden Holztreppe von Etage zu Etage, und immer wieder versagte die Deckenbeleuchtung ihren Dienst. Selbst die Haustürklingel arbeitete nicht zuverlässig – sofern sich der Besuch nicht bis zur Wohnungstür vorarbeitete, um dort eine mechanische Klingel zu betätigen, konnte man nie wissen, ob einem ein geselliger Abend mit netten Menschen entging (oder ein weniger geselliger Vertreterbesuch) - auf die Klingel war einfach kein Verlass.
Nun, hier fühlte ich mich dennoch wohl und schleppte in aller Frühe Briketts vom Keller (auch hier das Problem mit der Beleuchtung, was meine Phantasie immer wieder beflügelte) in den dritten Stock, um den Ofen damit zu füttern - Zentralheizung gab es nicht. Es war wildromantisch.
Ich war neugierig auf Berlin, nahm sämtliche Unbilden gelassen hin und kostete jede freie Minute aus, um mich davon zu überzeugen, wie schön diese Stadt sei. Dies nur so am Rande, denn erzählen wollte ich eigentlich eine kleine Begebenheit, an die ich bis heute erinnert werde, sobald ich, nunja, eine mir fremde Toilette betrete.

Mich erfreuten diese vielen kleinen Märkte, die man, egal an welchem Wochentag, in jedem Stadtteil durchstreifen konnte. Und die Berliner waren stets so aufgeschlossen und gesprächsbereit, dass man in meiner Heimatstadt schon von Distanzlosigkeit gesprochen hätte – mir jedoch gefiel das. Und so schlenderte ich an einem arbeitsfreien, wunderbar sonnigen Mittwoch durch die Straßen, schaute hier ein wenig, kaufte dort eine Kleinigkeit und trödelte über einen der besagten Märkte, um dann, mit gefülltem Korb und ebenso gefüllter Blase den Heimweg anzutreten. Das schaffe ich noch, dachte ich mir, und eilte an Gelegenheiten vorüber, die es mir ermöglicht hätten, unauffällig meinem dringenden Bedürfnis nachzugeben. Am liebsten ging ich doch auf die heimische Toilette, was vielleicht verständlich ist. Aber nein, ich merkte, wie es kaum noch aufzuhalten war, es drängte mich nun wirklich sehr, und ich beschloss, die nächstbeste Möglichkeit anzusteuern.
Endlich schien mir Erlösung in Sicht, eine Kneipe an der Ecke, zwar dem ersten Eindruck nach nicht besonders vertrauenerweckend, doch war mir diese Tatsache nun wirklich egal.
Ich stolperte hinein, um sogleich ein Weilchen zu verharren, denn das im krassen Gegensatz zum sonnigen Herbsttag stehende Licht in der Kneipe beraubte mich meines Sehvermögens. Allerdings nur für einen kurzen Augenblick – dann sah ich deutlich den Tresen vor mir, dahinter und davor ein paar Männer, die nun schwiegen und zu mir herübersahen. Mir war irgendwie nicht wohl. Vielleicht sollte ich wieder hinaus? Aber ich musste nun mal, das konnte ich nicht ignorieren.
Ähm, ich wollte nur mal, dürfte ich vielleicht mal kurz die Toilette benutzen? Nun war es raus – natürlich könnse, kommse ma mit, da sind wa ja jaanich so, junge Frau, nur dat Treppchen hoch, den Gang entlang, erste Tür links, dann rechts und dann sehnse et schon fast.
Oh danke, danke, liebster Wirt, oh Du mein Retter in der Not, und ich schwebte das besagte Treppchen hinauf, das breite Grinsen der Herren an der Theke in meinem Rücken. Ich hielt mich genau an die Wegbeschreibung und fand im letzten Winkel eine Tür, versehen mit zwei in Augenhöhe angebrachten Nullen, die offensichtlich zum Stillen Örtchen führte, das mir hier ganz hinten in den Tiefen des Gemäuers wirklich sehr still vorkam. Aber was schadete das, hinein, dann die Wahl zwischen zwei weiteren metallenen Türen (Feuerschutztüren nicht unähnlich), von denen ich die rechte nahm, Tür auf, Tür zu, abgeschlossen, Hose runter, und aah. Immer wieder schön, wenn man darf, wie man möchte. Ein Weilchen blieb ich noch entspannt sitzen, studierte die Sprüche an den Wänden und musterte die Architektur des kleinen Raumes, in dem ich mich befand. Nicht rechteckig das Kämmerchen, sondern nach hinten spitz zulaufend; eine kleine, verstaubte Lüftungsklappe ersetzte knapp unterhalb der Decke ein Fenster, und die Wände reichten von oben bis unten; nicht so, wie sonst üblich bei Toiletten, wo man, bückt man sich, die Füße der anderen Toilettenbenutzer sehen kann, weil die Wände ein Stück über dem Boden enden und es somit möglich ist, unter ihnen hindurchzuspähen. Nein, dieser Raum war wirklich geschlossen. Selbst die Tür ging nicht mehr auf.
Inzwischen hatte ich mir die Hose wieder hochgezogen und meinen Korb genommen. Aber ein gezielter Griff an den Mechanismus, der diese Tür verschlossen hielt, zeigte mir, dass sie sich nicht mehr öffnen ließ. Der Riegel, den man drehen musste, um zu bewirken, dass das Schloss aufschnappte, drehte durch, und ich beinahe mit. Es ist nicht wirklich erquicklich, in einem Raum eingesperrt zu sein, der eng und hoch ist, kein Fenster hat, eine Tür, die sich nicht öffnet und dem zu allem Überfluss noch ein abgestandener Geruch anhaftet. Mir war plötzlich nicht mehr gut. Ich versuchte einen Augenblick, in mich zu gehen, um herauszufinden, ob ich etwas falsch gemacht hatte beim Verriegeln der Tür. Aber nein - eigentlich gab es da nichts verkehrt zu machen. Zaghaft, wie es so meine Art ist, klopfte ich an die Tür, die, betrachtete man sie genauer, in Fußhöhe schon zahlreiche Beulen und Dellen wütender Tritte aufwies. Und waren da nicht auch Spuren blutiger Fingernägel, die sich, das Ende nahe wähnend, verzweifelt in den mattgelben Lack gegraben hatten? Auf mein Klopfen reagierte natürlich kein Mensch. Ich versuchte es mit Rufen. Das gelang mir ganz gut, kein bisschen hysterisch, wie ich fand. Obwohl ich ja allen Grund dazu hatte. Inzwischen musste ich ein zweites Mal, und als ich so auf dem Klo saß, verdrängte Verärgerung meine Furcht.
Ich gab also das vorsichtige Klopfen mit der Hand auf und ging stattdessen ganz aus mir heraus, holte mit meinem rechten Fuß aus und trat beherzt gegen die Tür. Hierbei durchströmte mich nun ein eigenartiges Gefühl, fast so etwas wie Befriedigung, und da meine Winterstiefel nicht der filigraneren Sorte angehörten, konnte ich ganz ungehemmt zutreten. Und noch mal und noch mal und lauter rufen – kleine Verschnaufpause, Blick zur Uhr.
Fast dreißig Minuten waren vergangen. Mensch, die Kerle an der Theke mussten doch merken, dass ich nicht wieder auftauchte. Ich hätte mir ja auch einen Schuss setzen können, Überdosis, Tod auf der Toilettenschüssel, und keiner hat’s gemerkt, leider, leider, man hätte einfach nichts mitbekommen, das arme Mädchen, so jung, und das frische Gemüse im Korb schon ganz verwelkt. Oh, Hilfe!
Und wie ich gerade wieder entschlossen gegen die Tür treten wollte, drückte von außen Jemand die Klinke herunter. Besetzt, rief ich, aber unfreiwillig! Könnte mich mal jemand befreien? Nun wurde an der Klinke gerüttelt, um einen Augenblick Geduld gebeten, ah, meine Rettung nahte. Ich presste mein Ohr an die Tür und hörte ein Pfeifen auf dem Flur. Unerhört, ich war in diesem Kabuff gefangen, dem Erstickungstod nahe, in Panik aufgelöst, und draußen wurde ein fröhliches Lied gepfiffen, als wenn nichts wäre.
Jetzt jedoch vernahm ich mechanische Geräusche, Jemand machte sich an der Tür zu schaffen, es knirschte und knackte, und plötzlich sprang sie auf, um mich in die Freiheit zu entlassen.
Der Wirt stand vor mir, mein Held; ein zweites Mal von ihm errettet zu werden war beinahe schon zuviel. Und mit einem hingehauchten Danke stürzte ich an ihm vorbei, durch die Tür, den Gang entlang, die Treppe hinunter, vorbei an den Männern, deren Blicke ich in meinem Taumel nicht mehr wahrnahm und hinaus in die kalte, klare Herbstluft.

Damals beschloss ich für die Zukunft, mich vor solchen Unternehmungen etwas zurückzuhalten bezüglich meines Teekonsums, das würde mir möglicherweise weitere unangenehme Erlebnisse dieser Art ersparen, und meinen Durst könnte ich dann ja auch noch anschließend stillen. Hat natürlich nicht wirklich funktioniert, und ich kam immer mal wieder in Bedrängnis – jedoch ließen sich die Türen fremder Toiletten bislang tadellos öffnen. Mit dem Verschließen gab es da mehr Probleme.Und im Nachhinein bin ich etwas beschämt, weil ich dem Wirt nicht ausdrücklich für meine Rettung dankte. Wo Helden heutzutage doch so selten sind.
 
S

Sanne Benz

Gast
schön..

Hallo Freeda,
hat mir sehr gefallen. Ich mag solch gute Beschreibungen..liefert dann auch gute Bilder. Klar muss man da etwas schmunzeln.
Berlin, naja..das kann einem auf der ganzen Welt passieren. Habe auch mal 10Jahre in berlin gelebt..aber DAS..das blieb mir doch..ein Glück, erspart *g*
Mich erinnerte das an den Film "Tootsie".Habe ihn mir nach 10Jahren wieder mal reingezogen.Da gibts eine Partyszene, wo einer die Klotür öffnet und eine entnervt raus kommt. Sie hatte eine halbe Stunde drin gehockt und keiner hatte bemerkt,das sie weg war.Die Szene an sich,die Dialoge..ich hab echt gelacht.

lG
Sanne
 

Freeda

Mitglied
Danke, Sanne!

Freu' mich über Dein nettes posting.
'Tootsie' habe ich auch gesehen, als der Film damals im Kino lief, meine Güte, wie lange ist das schon her?
An die Klo-Szene kann ich mich noch vage erinnern, wo Du das jetzt schreibst (vielleicht sollte ich mir den Film auch noch einmal anschauen?); und da sieht man doch mal wieder: Im wahren Leben kann's zugehen wie im Film!
Liebe Grüße,

Freeda
 
S

Sanne Benz

Gast
Hallo Freeda..
ja..erst widerwillig..dann hab ich ihn aufgenommen, für schlechte Tage, wo sonst nix läuft..
und ich muss sagen: hat sich gelohnt..diesen Film mal wieder anzusehen! :)
Und wie gesagt..diese Kloszene,bei der ich echt lachte!
lG
Sanne
 



 
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