Von goldenen Eulen und roten Dächern

Greenlia

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Dies ist der Anfang einer Geschichte. Mit einigen Stellen bin ich noch nicht ganz zufrieden, aber bisher, im Ganzen gesehen, enttäuscht sie micht nicht:


Ich saß am Fenster und es regnete. Es war Januar und obwohl erst früh am Nachmittag schon stockdunkel. Die Regenwolken verdunkelten das Wenige an hellem Himmel und schafften eine triste Stimmung. Noch trister als sie ohnehin war.
Ich gähnte und stierte in die Dunkelheit. Meine Langweile grenzte schon an Depression.
Die Fensterbank war groß und breit, es lagen Kissen darauf und die Katze. Das einzige Lebewesen, das der Jahreszeit wohliges Schnurren entgegnete. Ich kraulte das getigerte Fell, packte ihren Kopf und sprach zu ihr. Ich hatte mich immer schon als Katzenversteher gesehen, keine Ahnung, ob es stimmte, aber die Katzen mochten mich. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Mühe gab mit ihnen, dass ich mit ihnen redete, wie mit Menschen. Oder wahrscheinlich besser als mit Menschen.

Nun, der Tag hätte keine weitere Bedeutung und ich würde ihn auch nicht erwähnen, wenn er nicht der Auftakt zu einer merkwürdigen Reihe von Ereignissen und Abenteuern geworden wäre.
Er ließ sich Zeit der Tag, kroch dumpf durch den eisernen Morgen, den feuchten Mittag, den Regen am Nachmittag, um dann am Abend aus der Lethargie zu brechen. Und das in einem gewaltigen Szenario.
Ich saß da, kraulte die Katze, dachte an den vergangenen Sommer und den kommenden. Meine Gedanken verketteten sich, blieben an Erinnerungen hängen, Bier und Bücher, Mädchen und warme Nächte.
Es war nach zehn, als es klingelte.
Der Ton war lange vorbei. Ich suchte nach der Erklärung, die mich aus den Gedanken gerissen hatte, als es wieder klingelte, diesmal eindringlicher.
Das Einzige, was mich trieb, nach der Tür zu sehen, war Neugier. Ich hatte nicht die geringste Lust auf Menschen. Vor allem nicht um diese Uhrzeit.
Die Katze kam wie selbstverständlich hinter mir her marschiert. Ich kannte keine Katze, die ihr Heim besser hütete als unsere. Sie scharwenzelte um meine Beine, als ich die Tür aufzog, und machte Geräusche.
Eine triefnasse, stinkende Gestalt stolperte in den Flur, keuchte etwas und stürzte fast zu Boden. Gegen meinen Willen packte ich sie im letzten Moment und sie fiel mir schwer in die Arme.
Die Katze maunzte und freute sich über das Spektakel, ich rief: „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ und wusste weder ein noch aus. Warum hörte meine Mutter nicht?
Da bemerkte ich, dass meine Hände warm wurden und rot. Die Person blutete, und nicht wenig. Und plötzlich war mein Hirn wieder klar. Ich wusste, was zu tun war. Binnen kürzester Zeit hatte ich die Person ihrer nassen Kleidung entledigt, die Wunde ausfindig gemacht und so gut es ging, versorgt. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so etwas konnte. Das Leben ist zu voll von tristen Januartagen, die einem die eigenen Fähigkeiten lähmen.
Ich wusste immer noch nicht, wer nun auf unserem Sofa lag und warum.
Ich schickte die Katze nach oben, um meine Mutter und meine Schwester zu holen.
Meine Schwester kam heruntergetrampelt, die Haare zerzaust und die Augen klein von Schlaf. Aber glitzernd vor Neugier. Meine Mutter kam langsamer und würdevoller nach. Ich glaube aber heute, es war Angst. Denn als sie die geschlagene Gestalt sah, verdüsterte sie sich kurz, als hätte sie eine Vorahnung gehabt.
Niemand sprach. Dieser Moment, als alle im Wohnzimmer standen, nichts sagten, sich anschauten und erkannten, dass sich etwas verändern würde, wird mir lebendig wie keine andere Erinnerung im Gedächtnis bleiben.
Meine Mutter stand wie vom Donner gerührt. Erst als meine Schwester laut fragte: „Wer sind Sie?“, fand sie zu sich. Als wären wir nicht da, kniete sie sich vor das Sofa und griff nach der Hand des Fremden. Leicht schüttelte sie den Kopf, immer wieder, und ich glaube, sie weinte.
„Ich habe sie gefunden, die roten Dächer“, sagte der Fremde.
Ich wusste nicht, worum es hier ging, was für verdammte Dächer er meinte. Aber es sprach ein Triumph aus seinen Worten, dass seine Verletzungen es wohl wert gewesen waren.
„Die roten Dächer, Loreley. Ich habe sie gefunden!“

Ich weiß auch nicht mehr, wie lange wir noch saßen und langsam der Geschichte auf die Schliche kamen, die der Fremde mit sich brachte. Ich kann nur sagen, dass ich mich auf eine Weise unwohl fühlte, als ahnte ich Schwierigkeiten. Aber der Abend und der Fremde waren zu bizarr und fantastisch, als dass ich mich ihnen hätte entziehen können. Wann wir endlich schlafen gingen oder ob wir saßen und lauschten, bis der graue Morgen graute, kann ich nicht sagen. Die nächsten Tage verliefen ohne Anfang und Ende, Tag und Nacht verschwammen unter der Präsenz des Fremden und seiner Geschichte. Die bald auch die unsere werden würde.

Seit ich mich erinnern kann und noch früher, hatten meine Mutter und ich immer in dem Haus mit dem großen, überwuchernden Garten gelebt. Die Katze war auch immer da gewesen. Sie erschien auch auf verblichenen Kinderfotos meiner Mutter. Irgendwann lernte ich, dass Katzen nicht wirklich sieben Leben haben. Aber mit den Jahren hörte ich auf, mich zu fragen, warum unsere Katze eine Ausnahme war.
Wir hatten oft Besuch von verschiedenen Leuten, die alle von weit her zu kommen schienen. Sie alle kannten meine Mutter gut und es war immer eine Freude, denn sie brachten mir Geschenke, und ich sah, dass meine Mutter mit ihnen glücklich war. Sie kamen immer in Scharen. Dann wurde es laut im Haus und es gab reichlich zu essen und zu trinken. Wenn eine solche Gesellschaft bevorstand, machten meine Mutter und ich einen großen Einkaufszettel und sammelten Ideen, wie wir das Haus dekorieren und uns verkleiden wollten. Dann verkleideten wir uns und gingen als Seeräuber die große Einkaufsliste erledigen.
Mit den Leuten aus der Umgebung hatte meine Mutter nie zu tun. Wir waren die Einzigen im Viertel, die ein solches Haus mit einem solchen Garten inmitten der Ansammlung von Hoch- und Mehrfamilienhäusern besaßen. Ich vermutete, dass die Nachbarn einfach neidisch waren. Ich hingegen hatte viele Freunde in der Schule. Viele waren mit mir befreundet, weil sie gerne in unser Haus kamen. Aber das machte nichts. Es war ein besonderes Haus, man konnte herrlich darin spielen, und ich war stolz darauf.
Eines Tages, als ich noch ein Kind war, kam meine Mutter zu mir in den Garten, setzte mich auf ihren Schoß und erzählte mir ein Märchen. Meine Schwester war damals noch nicht geboren und ich liebte meine Mutter, dass es schmerzte. Ich war überzeugt, dass sie ich war und ich sie. Dass wir eine aufgesplitterte Seele waren. Ich brauchte keine Miene zu verziehen, sie wusste immer, was mit mir los war. Sie war ein Engel, dachte ich, eine Fee oder eine Prinzessin. Ich wusste keinen Unterschied, denn die Engel und Feen und Prinzessinnen in den Märchen, die meine Mutter mir erzählte, spiegelten sich alle in ihr.
Dieses Märchen war das letzte, das sie mir je erzählte, und entgegen aller anderen Märchen hatte es ein trauriges Ende. Ich war nicht zufrieden damit und sagte es meiner Mutter.
Sie strich mir über den Kopf und meinte, ich solle mich daran gewöhnen. „Außerdem ist nicht gesagt, ob dies das Ende ist. Auch wenn meine Märchen ein Ende haben, die Personen darin leben doch weiter, oder? Und sie erleben noch mehr Abenteuer. Und vielleicht sterben sie im nächsten oder übernächsten.“
Ich war irritiert, dass sie mein Konzept der Märchenwelt so aus den Fugen riss, und beleidigt. Ich war ein verwöhntes Kind und vermutlich war es der Versuch meiner Mutter gewesen, mich an die Realität heranzuführen.
Ein paar Monate später kam meine Schwester zur Welt und mit ihr ging eine zweite Sonne in meinem Leben auf. Ich merkte, wie es meiner Mutter eine unendliche Erleichterung war, dass ich meine Schwester so sehr liebte. Und für sie brach ein zweiter Frühling an. Es war die schönste Zeit, die wir zu dritt hatten.

Das ging mir durch den Kopf, als ich voller Gedanken in mein Bett kroch. Vor meinem Fenster fuhren bereits die ersten Leute zur Arbeit. Ich war gerädert und hatte keine Lust zu denken. Nicht jetzt, da ich die ganze Nacht damit verbracht hatte, mein Hirn arbeiten zu lassen, Bruchstücke von Erinnerungen aufblitzen zu sehen, Verbindungen zu erkennen und neue Fragen zu finden.
Meine Schwester kam zu mir und kroch zu mir ins Bett. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Irgendwann hatte sie gesagt: „Ich bin zu groß dafür!“ und hatte sich mit ihrem Kuscheltier ins Bett geschmissen. Sie hatte die ganze Zeit, die wir im Wohnzimmer gesessen hatten, kein Wort gesagt, und ich dachte, sie würde jetzt ihr Schweigen brechen. Aber ihr Lockenkopf bürstete nur über mein Gesicht, während sie sich drehte, und Sekunden später schlief sie. Angesteckt von ihrer Erschöpfung ließ auch ich mich ins Nichts fallen.

Als ich erwachte, lag ich auf dem Boden und alles schmerzte. Ich schaute auf, sah meine Schwester, alle Viere von sich gestreckt, in meinem zerknüllten Bett liegen. Selig schlafend.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachmittags. Ich schlich in die Küche, um etwas Sinnvolles zu tun. Meine Mutter war nicht da und auch der Fremde auf dem Sofa war verschwunden. Ich schaute im Wohnzimmer umher, misstrauisch, und ein Wurstbrot balancierend. Die Katze lauerte. Der Fremde hatte seinen Rucksack dagelassen. Wie selbstverständlich wanderte meine Hand hinein und wühlte. Ich zog ein Buch hervor, in Leder geschlagen. Von goldenen Eulen auf roten Dächern hieß es.

Vielleicht wäre hier der richtige Zeitpunkt zu erzählen, was ich die vorherige Nacht erfahren hatte.
Die Verletzungen des Fremden waren weniger groß als die unendliche Erschöpfung, mit der uns begrüßt hatte. Er schlief erschöpft ein auf dem Sofa, während meine Mutter Tee und ich Nudeln kochte. Ich bereitete uns instinktiv auf eine lange Nacht vor.
„Mama“, sagte ich irgendwann, als wir wieder nur da saßen, über unserem Tee brüteten und schwiegen, „erzähl.“
Meine Mutter blickte in ihre Tasse, Dampf stieg ihr ins Gesicht. Sie lächelte, sah uns an. Ihr Lächeln war warm und breit.
„Wisst ihr, Kinder, es ist sehr schön, dass er endlich gekommen ist.“ Sie nahm meine Schwester in den Arm, die den Fremden anstarrte und die Worte unserer Mutter gar nicht zu hören schien.
„Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Damals, als du noch nicht geboren warst, mein Sohn, waren wir gute Freunde. Ich lebte ganz woanders. Dein Vater war auch dabei und andere Leute, an die ich mich mit viel Liebe erinnere. Wir waren eine besondere Gruppe und wir haben Abenteuer erlebt.“ Sie lächelte diesmal nur mich an. „Solche Abenteuer, wie ich sie dir erzählte, als du klein warst.“
Mit Feen und sprechenden Tieren, dachte ich.
„Eines Tages fiel Raffael ein Buch in die Hände. Das ist Raffael“, sagte sie und drehte ihren Kopf zum Sofa. „Es hieß Von silbernen Katzen auf blauen Dächern. Er hatte es immer verstanden Kuriositäten aus aller Welt zu erstehen, keiner wusste, wie er es anstellte. Er war immer der seltsamste Vogel unserer Gruppe und wahrscheinlich der Kern, der uns zusammenhielt. Kurz gesagt, er las das Buch und etwas geschah danach mit ihm. Er sprach nur noch von den blauen Dächern und davon, dass er sie finden müsse, dass er nicht eher ruhen werde, bis er sie gefunden habe, koste es, was es wolle. Anfangs waren wir alle eifrig bei der Sache, wir forschten uns durch die Bücherwelt nach Anhaltspunkten, machten uns auf die Suche nach den verrücktesten Menschen in den verwinkeltesten Gegenden, nur weil wir eine winzige Information dort vermuteten. Oh, wir erlebten eine spannende Zeit. Aber nach einem Jahr der erfolglosen Suche, dachte jeder, was keiner auszusprechen wagte: dass die mysteriösen blauen Dächer nicht existierten. Es kam, wie es kommen musste. Ein Streit brach aus, und Raffael fühlte sich betrogen, weil keiner mehr hinter dem Projekt stand. Er verließ uns, und unsere Gruppe brach vollständig auseinander, denn nun hatten wir keine Mission mehr. Wir konnten nicht zurück in unser Leben, wie es vorher gewesen war. Ich hatte nur deinen Vater, mein Sohn, und unsere Liebe. Wir zogen in dieses Haus, das Haus deiner Großtante. Bald kamst du. Und bald darauf waren nur noch wir zwei hier.“
Den letzten Teil kannte ich schon. Und da meine Mutter näheren Erklärungen, was es mit meinem Vater auf sich hatte, immer wieder kunstvoll auswich, fragte ich nie. Mittlerweile war es mir egal.
„Es gab eine Zeit, da ich mich sehr einsam fühlte in dem großen Haus. Da begann ich Raffael lange Briefe zu schreiben und sie ins Nirgendwo zu schicken. Ich kannte ja weder eine Adresse, noch wusste ich in welcher Stadt er sich befand. Umso erstaunter war ich, als ich eines Tages Antwort bekam.“
Ich setzte mich gerader hin. Der Tonfall meiner Mutter hatte sich verändert.
„Der Umschlag und das Papier wirkten, als wären sie lange gereist. Der Poststempel und die Briefmarke waren verblichen, ich konnte nicht erkennen, woher er kam. Ein Absender stand natürlich nicht darauf. Aber an der Art, wie mein Name auf dem Umschlag stand, wusste ich sofort: Es war Raffael. Die Nachricht war sehr kurz. Wartet, ich suche sie.“ Meine Mutter schob meine Schwester zur Seite, die mit halb geschlossenen Augen in ihren Armen eingedöst war.

„Loreley hat etwas verschwiegen.“
Ich wandte den Kopf, ein Augenpaar glitzerte vom Sofa herüber. Ich hatte nicht gemerkt, dass Raffael aufgewacht war. „Kann ich welche von den Nudeln haben?“
„Was meinst du?“, fragte ich ihn, reichte ihm einen Teller mit dampfenden Nudeln in Soße.
„Unser Streit. Er ging nicht in harmlosen Wortgefechten zuende. Es kam zu Handgreiflichkeiten und einer von uns starb.“ Nudeln wurden geräuschvoll von der Gabel gezogen. Raffael schob sich eine Handvoll nach der anderen hinein, Soße tropfte ihm vom Kinn. Er hatte offensichtlich lange nichts mehr gegessen.
„Was geschah dann?“, unterbrach ich sein Mahl.
„Arthur kam durch Liliths Hand um. Lilith floh, erschreckt von dem, was sie getan hatte und die Rache von Arthurs Bruder fürchtend. Deinem Vater.“
„Wer war mein Vater?“
„Das reicht.“ Meine Mutter war dunkel im Türrahmen erschienen. „Du bist nicht hergekommen, um unsere Vergangenheit aufzuwühlen.“
Raffael ließ sich erschöpft zurück sinken. Ich nahm seinen Teller, bevor er zu Boden fiel. So nah dran war ich gewesen. Ich würde meine Chance noch bekommen, dachte ich. Aber ich unterschätzte die Wirkung, die ein Befehl meiner Mutter auf Raffael hatte.
„Hast du den Brief gefunden, Mama?“
Plötzlich wurde sie scheu. „Hier habe ich ihn. Aber... Ich wusste nicht, dass du wieder wach bist, Raffael. Vielleicht erklärst du endlich, unter welchen Umständen du diesen Brief geschrieben hast.“
Ich nahm meiner Mutter den Brief aus der Hand und zog andächtig das Papier heraus. Es war klein und verblichen, wellig, als wäre es einmal nass geworden, und auch die Tinte verschwommen. Meine Schwester kam näher gekrochen und ich las ihr vor:


52. 3. '87​
Loreley, Loreley –

ich trage jeden deiner Briefe an meinem Herzen. Und ich werde in dein Haus kommen, das verspreche ich, irgendwann. Dann hat hoffentlich alles ein Ende, was mich zur Zeit quält.

R.


„Das ist tatsächlich ein kurzer Brief. Und das Datum ist seltsam“, sagte ich.
„Ich glaube aber, es stimmt.“ Meine Mutter sah Raffael aus dem Augenwinkel an. Er nickte schwer. „Das Datum ist seltsam, weil es eine seltsame Zeit war. Ich war sechs Monate im Himalaya und eigentlich war es ein ganzes Jahr. Dort bin ich endlich, endlich auf eine brauchbare Spur der roten Dächer gekommen.“
„Seit wann waren die blauen Dächer aus dem Buch rote Dächer?“, fragte ich.
„Das habe ich im Himalaya gelernt. Das erste Buch war eine Fälschung. Dort fand ich das Original. Ich hatte die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt. Und dort im Himalaya erzählte man mir die Geschichte des Buches, dessen Fälschung fast genauso berühmt geworden war.“
Plötzlich sackte Raffael müde zusammen und stieß einen Seufzer aus. Er verzog das Gesicht und ich erinnerte mich, dass er ernsthaft verletzt war.
„Ich hätte nicht so viel essen sollen“, sagte er. „Ich muss schlafen.“ Er schloss die Augen. „Verzeiht mir, dass ich so reingeplatzt bin.“
Meine Mutter strich sanft über Raffaels Arm. „Du bist willkommen. Ich schlafe hier bei dir. Falls du etwas brauchst.“
Ich nahm meine Schwester, die eingerollt auf dem Teppich lag, huckepack und ging nach oben. Meine Glieder waren bleischwer, aber mein Kopf fand keine Ruhe. Ich wollte mehr erfahren, alles.

Später am Nachmittag, als ich wach geworden war, hatte ich also das Buch Von goldenen Eulen auf roten Dächern gefunden. Entweder war Raffael sehr leichtsinnig seinen Schatz so unbeaufsichtigt zu lassen oder er vertraute uns sehr. Ich vermutete das Letztere. Ein Mann, der so viel erlebt hatte, hatte mit Sicherheit auch ein gesundes Misstrauen gegen die Welt.
Das war also das Original. Ich leugne nicht, dass mein Puls schneller ging, als ich es aufschlug. Die Seiten waren hart und fast brüchig, aber die Worte leuchteten als wären sie erst gestern niedergeschrieben worden. Es hatte keine besondere Aufmachung, das Buch, dessen Autor sich Simon von Stroturing nannte. Alles war mit Hand geschrieben, schlicht und ordentlich gehalten. Keine Verschnörkelungen oder irgendein Hinweis, dass es sich bei dem Buch um eine Kostbarkeit handelte. Was mich stutzen ließ, waren die vielen Randbemerkungen, die von verschiedenen Personen stammten. Sie trugen immer eine andere Signatur, bezogen sich aufeinander und waren so zahlreich, dass sie fast den Wortgehalt des Buches verdoppelten. Es waren Zusatzinformationen und Korrekturen an dem eigentlichen Text. Nach und nach lernte ich, dass sich alle Personen auf den Weg gemacht hatten die roten Dächer zu finden. Sie hatten das Buch als Reiseführer genutzt und sich sowohl an dem Hauptautoren als auch an allen anderen Abenteurer vor ihnen orientiert. Ich entdeckte ein paar Randbemerkungen von Raffael, die er mit seinem verschlungenen R. unterzeichnet hatte. Sie waren sehr präzise und warfen teilweise Theorien über die roten Dächer um, die sich lange gehalten hatten. Während bei vielen Theorien die eine haarsträubender als die andere war, so legte Raffael Wert auf persönliche Erfahrungen und handfeste Belege.
Trotz der vielfältigen Berichtigungen des Haupttextes verlor dieser jedoch nicht seinen Zauber und seine Überzeugungskraft und seine Energie, die offensichtlich machten, dass die roten Dächer kein Hirngespinst waren. Die meisten Berichtigungen fanden sich in der Wegbeschreibung und der Historie der roten Dächer, doch als ich das Kapitel aufschlug, das von der Ankunft von Stroturings an jenen geheimen Ort sprach, fand ich keine einzige Randebemerkung. Scheinbar hatte keiner der Abenteurer die roten Dächer erreicht. Das stimmte mich etwas traurig, als ich das Buch zuschlug. Vielleicht waren sie umgekommen auf der Reise. Raffael war auch nicht im besten Zustand zurückgekehrt.
Ich ließ das Buch wieder im Rucksack verschwinden und aß mit seltsamem Gefühl im Bauch mein Wurstbrot ohne Wurst. Die Katze hatte es doch geschafft Beute zu machen. Ich glaube, sie war so dick wegen der vielen Wurstbrote, die ich überall vergaß.
Ich verspürte das Bedürfnis mit jemandem über das Buch zu sprechen, jemand Außenstehendem. Meine Schwester war zu jung, meine Mutter erzählte nur das, was sie wollte, und Raffael war mir unheimlich. Aber ich vermutete, dass ich nicht die Erlaubnis hatte irgendjemandem von dem Buch oder von Raffael zu erzählen. Es lag ein großes Geheimnis über allem.
Ich beschloss ein bisschen im Haus zu wühlen. Es musste doch mehr Erinnerungen auf die Jugend meiner Mutter geben, mehr Informationen zu Arthur und Lilith und meinem Vater. Bei einigen unserer Gesellschaften in früheren Jahren waren zwei Frauen anwesend gewesen, die mir im Gedächtnis geblieben waren, weil sie Französinnen waren. Sie hatten oft mit meiner Mutter gesprochen, als teilten sie alte und schöne Erinnerungen. Ich war damals zu jung, um genau hinzuhören und Schlüsse zu ziehen, aber ich erinnere mich, dass die drei Frauen oft stundenlang im Garten saßen und redeten, während im Haus die Feier weiterging.
Sophie und Amélie waren ihre Namen gewesen.
Ich holte die Fotoalben meiner Mutter. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, die schönen Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Und jedes unserer Feste war etwas Besonderes gewesen. Es war fast garantiert, dass Sophie und Amélie auf den Fotos erscheinen würden. Mit Adleraugen durchforstete ich die Alben, die meine Mutter mit getrockneten Blumen geschmückt hatte. Über jeder Fotoserie stand hübsch das Datum und der Anlass. In einem der älteren Alben entdeckte ich schließlich die Französinnen. Sie trugen große Hüte, ihre Gesichter blieben halb im Schatten. Ich entdeckte noch weitere Fotos von ihnen, jedes Mal mit großen Hüten oder die Köpfe so gedreht, dass man nur schwach die Gesichter erkennen konnte. Je mehr Fotos ich von ihnen fand, desto offensichtlicher wurde, dass sie hatten unerkannt bleiben wollen. Auf einem Bild überreichte Sophie oder Amélie meiner Mutter ein Kästchen. Es war ihr dreißigster Geburtstag. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mit Sophie in der Küche gestanden hatte und eine riesige Torte mit ihr gebacken hatte. Die Schwestern waren an diesem Tag früh gekommen, Amélie hatte meine Mutter mit zum Einkaufen genommen und ich war mit Sophie daheim geblieben.
Mein Herz schlug schneller. Sophie hatte mir ein Büchlein geschenkt, das sie selbst geschrieben hatte. Sie war Autorin.
Ich ließ alles stehen und liegen und überlegte fieberhaft, wo das Buch sich jetzt befand. Wenn ich ihren Nachnamen wüsste, wäre dies schon ein guter Anhaltspunkt.

Sophie Mirabeau. Ich hatte das Büchlein in der Truhe meiner Mutter gefunden. Ich hatte wirklich das ganze Haus auf den Kopf gestellt, bis ich mich an die privaten Sachen meiner Mutter wagte. Es war nicht meine Art, aber inzwischen verspürte ich das Recht etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Sie würde noch dankbar sein, wenn sie die Geheimnisse nicht mehr alleine mit sich herumtragen müsste.
Der schnellste Weg führt über das Internet. Es dauert auch nicht lange, da erschienen unzählige Einträge über Sophie Mirabeau und ihre Bücher. Philosophische Romane, melancholische Romane, historische Biographien, viele mit Preisen belegt. Und Kinderbücher. Etliche Kinderbücher. Ich fand Parallelen zu den Geschichten meiner Mutter, als ich mir verschiedene Rezensionen durchlas. Bestimmt waren Märchen eine Sache, die ihre Freundschaft gehalten hatte.
„Was machst du da, Jascha?“ Meine Schwester trat verschlafen hinter mich. Ihr Lockenkopf stand Sturm und ihr Mund war bereits marmeladenverschmiert.
„Ich recherchiere. Willst du gleich mitkommen in die Bücherei?“
Sie nickte und schaute mir zu. Ich recherchierte weiter.
Es gab einige Zeitungsartikel über Sophie Mirabeau, aber kaum etwas über ihre Biographie. Ich bemerkte, dass die meisten ihrer Bücher in einem Verlag namens Arcangeli erschienen waren. Wir waren eine Bücherfamilie, alle fanatisch nach Literatur, doch vom Arcangeli-Verlag hatte ich noch nie gehört. Sophie Mirabeau blieb mysteriös. Sie wurde es immer mehr, denn sie schien ihr Leben vor der Welt zu verstecken.

Ich traf Alva in der Stadtbücherei. Sie stand vor einem Regal, die Hände auf das Brett gestützt, und studierte die Bücher von Nahem.
Sie erkannte uns erst, als wir direkt vor ihr standen. „Jascha, Minou. Wir haben uns lange nicht gesehen. Geht es euch gut?“
„Blendend. Übermüdet, aber blendend. Das Leben schenkt uns ein Abenteuer.“
„Das freut mich. Und in einem Monat könnte es auch ein oder zwei Abenteuer geben. Da widmen wir uns jeglichen Freuden des Lebens. Ich hoffe, du hast es nicht vergessen.“
Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich unsere alljährliche Karnevalsfeier vergessen können? Maskenball nannten wir ihn und es war bisher immer ein glorreiches Fest über drei Tage gewesen, auf dem Landsitz von Charlottes Eltern. Zu dieser Zeit übergaben sie uns großzügig das Haus für die Festivitäten und gönnten sich selbst ein paar Tage Urlaub. Seit vier Jahren schon feierten wir den Karneval dort und jedes Mal wurde er besser.
„Möchte Minou dieses Mal dabei sein?“ Alva sah meine Schwester an. „Zumindest am Samstag, tagsüber?“
„Ja! Ich will immer, aber sonst lässt mich Mama nicht. Glaubst du, sie lässt mich dieses Mal, Jascha?“ Minou zog an meiner Hand.
„Ich bin mir sicher. Zumindest am Samstag, ja.“
„Ich suche heute einen Bildband. Von Kay Nielsen. In Powder and Crinoline. Kennst du ihn?“
„Wir haben den Band zuhause.“
„Ah, irgendwie dachte ich mir das. Ich wollte nur nicht schon wieder fragen. Aber falls ich ihn hier nicht finde...“
„Gebe ich ihn dir. Klar gebe ich ihn dir. Ich würde dir kein Buch ausschlagen.“
Sie lächelte. „Ich weiß. Wonach sucht ihr?“
„Sophie Mirabeau. Jegliche Information über sie. Oder Werke, die im Arcangeli-Verlag erschienen sind.“
Alva schüttelte den Kopf. „Such im Internet, geh zur Zeitung. Vielleicht gibt es im Archiv etwas oder jemand erinnert sich an ein Interview. Ist sie bekannt?“
„Doch, ich glaube schon. Ihre Bücher zumindest haben Preise gewonnen. Aber sie selbst bleibt im Dunkel.“
„Trinken wir am Samstag zusammen einen Tee? Dann erzählst du mir von Sophie Mirabeau und bringst mir In Powder and Crinoline mit.“
„Sehr gern. Sagen wir um fünf bei mir. Meine Mutter wird sich auch freuen dich wiederzusehen.“
Wir ließen Alva vertieft zwischen den Bücherregalen stehen.

Noch am gleichen Nachmittag schrieb ich an verschiedene Redaktionen, ob sie Informationen über die Schriftstellerin Sophie Mirabeau hätten. Ich rechnete nicht damit, dass mir überhaupt jemand antworten würde. Zeitungsmenschen hatten nie Zeit.
Minou spielte mit der Katze im Garten, ließ sie eine Schnur jagen und lachte ihr unbändiges Kinderlachen.
„Jaschaaa!“, rief sie gegen mein Fenster. Ich öffnete es und sah zu ihr nach unten.
„Ich will als Teufel zu eurem Fasching gehen! Kann Mama so eine Verkleidung machen?“, schrie sie.
„Klar kann sie das! Soll ich dann als Engel gehen?“, schrie ich zurück.
„Nein!“, schrie sie. „Du bist doch kein Mädchen! Du kannst als Pirat gehen, hab ich gedacht!“
„Nein, wie langweilig! Das war ich schon mal! Wie wäre es mit einem Fuchs?“
Minou überlegte kurz, den Kopf in den Nacken gelegt. „Okay! Das ist gut!“
Ich salutierte und zog mich wieder in das Zimmer zurück. Es war bitterkalt draußen.
Also würde ich als Fuchs gehen, mit der Erlaubnis meiner Schwester. Ich hatte es gesagt, weil ich auf unserem Dachboden eine Fuchsmaske mit echtem Fell gefunden hatte, die noch gut erhalten war.
Erst spät am Abend kamen meine Mutter und Raffael zurück. Ich sah wie gebückt er ging, sich auf den Arm meiner Mutter stützend als wäre er ein alter Mann. Aber sein Gesicht hatte deutlich mehr Farbe als am Abend zuvor und er war sauber und trug neue Kleidung.
„Was habt ihr den Tag über getrieben, Kinder?“, fragte meine Mutter. Und obwohl ich keinen Grund hatte, klopfte mir das Herz aus Angst sie könnte mir ansehen, dass ich nach Sophie Mirabeau geforscht hatte. Ich antwortete schnell, bevor meine Schwester etwas Unvernünftiges sagen konnte. „Wir waren in der Bibliothek mit Alva und haben uns Gedanken über unsere Karnevalskostüme gemacht.“
„Darf ich diesmal mit, Mama?“, rief Minou. Vor Aufregung vergaß sie sogar ihre Scheu vor Raffael. Ich sah, dass er sie musterte.
„Ach, Töchterchen. Das ist doch ein Fest für Große.“ Meine Mutter strich Minou über den Kopf. „Aber vielleicht am Samstag, tagsüber. Wenn mir Jascha verspricht, dass er auf dich aufpasst.“
Selbstverständlich würde ich auf meine Schwester aufpassen. Wie auf meinen Augapfel. Das wusste meine Mutter sehr gut. Ich war froh, dass sie es Minou erlaubte, den Samstag mit uns zu verbringen. Meine Schwester gehörte irgendwie immer dazu. Einfach, weil ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte.
„Und wo wart ihr, Mama?“, fragte ich.
„Einkaufen, über alte Zeiten reden, Pläne schmieden. Habt ihr etwas gegessen? Denn heute Abend gehen wir alle weg und ich will nicht, dass ihr anfangt über Hunger zu klagen.“
„Wohin?“, rief Minou.
„Welche Art von Plänen?“, fragte ich.
„Wir fahren gleich an den Ort, an dem die Pläne beginnen.“

Es schneite kleine nasse Flocken, als wir uns am Abend ins Auto setzten. Meine Schwester und Raffael knabberten Salzstangen auf dem Rücksitz und ich versuchte Näheres aus meiner Mutter zu quetschen. Doch sie blieb stur wie immer. Ich versuchte den Weg zu verfolgen, den wir fuhren, aber seit wir aus der Stadt waren, war es so dunkel und verschwommen draußen, dass ich nur wage Vermutungen aufstellen konnte. Wir fuhren nach Süden und die Landschaft, die Bepflanzung verdichtete sich. Plötzlich bog meine Mutter von der Straße ab, fuhr am Feld entlang und bog dann auf einen Pfad in den Wald.
„Das ist kein Weg für Autos, ich hoffe, du weißt das“, sagte ich besorgt.
„Wir sind genau richtig.“ Wenn meine Mutter entschlossen eine Sache verfolgte, konnte sie niemand davon abbringen.
Der Pfad war so schmal, dass wir ständig über Wurzeln holperten und Äste gegen die Windschutzscheibe schlugen. Aber meine Mutter fuhr die Strecke, als legte sie sie täglich zurück.
Ich wusste nicht, welcher Wald es war, den wir durchquerten, aber er wirkte riesig. Wir verbrachten bestimmt eine Stunde durch das Unterholz rumpelnd und ich fürchtete um unser Auto. Als ich auf die Uhr schaute, war es ein Uhr. Die Salzstangen waren gegessen, die CD mindestens dreimal durchgelaufen. Meine Schwester schlief den Kopf in Raffaels Schoß gelegt, der wiederum gebannt durch die Windschutzscheibe blickte, als erwarte er jeden Moment eine Überraschung.
Auf einmal ruckte es und der Wagen hielt an. Ohne ein Wort stieg meine Mutter aus, ich tat es ihr nach. Raffael weckte Minou und half ihr nach draußen.
„Was nun?“
„Wir müssen auf jemanden warten.“ Meine Mutter sah mich lange an. Sie wollte etwas sagen, ich merkte es, aber nichts kam heraus. Sie sah mich so durchdringend an, als wollte sie, dass ich ihre Gedanken las. Es beunruhigte mich und ich bekam Angst bei dem Gedanken, was weiter geschehen würde.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Licht erschien in der Dunkelheit, das sich durch die Bäume bahnte. Der Schein wurde größer, leckte an den Stämmen und verzerrte die Pflanzenwelt mit den Schatten, die er warf.
Ein hochgewachsener Mann folgte dem Licht. Er trug etwas Großes auf dem Rücken, dennoch bewegte er sich leichtfüßig und schnell.
„Uriel! Hier sind wir“, rief meine Mutter.
Uriel warf den Strahl der Taschenlampe in unsere Richtung. Dann sahen wir ihn.
„Jascha, ein Engel“, sagte meine Schwester. Und es war keine kindliche Einbildungskraft, die aus ihr sprach.
Was er auf dem Rücken trug, waren Flügel. Riesige, kraftvolle, an den Körper geschmiegte Flügel.
Ich staunte. Meine Mutter hatte mir nie von Bekanntschaften mit Engeln erzählt. Ein bisschen beleidigt war ich. Dass sie es mir vorenthalten hatte.
Uriel leuchtete Raffael an. Er trat an ihn heran, als wären wir anderen nicht da. Er war viel größer als Raffael und muskulöser. Einen Moment dachte ich, Uriel würde ihn angreifen, so brüsk, wie er sich an ihn wandte. Doch stattdessen sprach er.
„Mutig von dir hier einfach so aufzutauchen.“
„Das Gleiche könnte ich dir auch sagen. Allen anderen könnte ich es sagen!“
„Du weißt vielleicht nicht, dass mir die Geschichte von Venedig zu Ohren gekommen ist. Das ist etwas ganz Anderes.“
Raffael erbleichte, sein Körper spannte sich sichtbar. Auch meine Mutter zuckte zusammen.
„Uriel, wir haben doch entschieden, die Vergangenheit heute ruhen zu lassen. Bitte. Beherrsch dich.“
Ich merkte plötzlich, dass Minou meine Hand ergriffen hatte. Ihre kleinen Nägel stachen mich.
Uriel seufzte tief und entspannte sich, schaltete die Taschenlampe aus. „Also gut. Du hast Recht. Es gibt jetzt Dinge, die Vorrang haben. Kommt mit.“
Wir setzten uns in Bewegung. Ich hielt noch immer Minous Hand.
Schweigend durchwanderten wir den nächtlichen Wald. Es war nichts zu hören außer des gelegentlichen Knackens von Zweigen unter unseren Füßen oder irgendwo in der Dunkelheit. Nicht einmal der Wind rauschte durch die Wipfel und auch der Schnee hatte aufgehört.
Uriel machte vor einer Steinwand Halt. Ich sah mich um, so gut es in der Nacht möglich war, und staunte, wie bergig es vor uns wurde. Ich hatte wirklich nicht den blassesten Schimmer, wo wir waren. Ich wusste von keinem Gebirge in der Nähe.
Uriel fuhr mit der Hand am Fels entlang. Er verschwamm, wo Uriels Hand ihn berührte, wurde durchsichtig und löste sich schließlich ganz auf. Dahinter lag ein finsterer Tunnel. Uriel machte uns ein Zeichen, dass wir ihm hindurch folgen sollten. Meine Angst war purer Neugier und Aufregung gewichen. Ich zögerte nicht. Auch die Anderen folgten eilig.

Wir befanden uns noch innerhalb des Berges, um uns herum streckten sich zerklüftete Felswände in die Höhe. Aber der Ort glich eher einem Kessel, denn zum Himmel hin war er geöffnet und ließ einer herrlichen Sternendecke Einblick. Lichte Baumbewachsung umgab uns und in der Mitte des Kessels konnte ich die Umrisse eines großen Holzhauses mit mehreren Stockwerken ausmachen.
Uriel marschierte direkt darauf zu, und wir hintendrein.
„Seit zwei Monaten ungefähr wohne ich wieder hier. Schert euch nicht um die Unordnung und den Dreck. Ich komme nicht dazu, das Haus auf Vordermann zu bringen.“
In der Dunkelheit bekamen wir sowieso nicht viel mit vom Dreck.
„Willst du nicht den Kamin anmachen, damit wir es etwas gemütlicher und wärmer haben?“
Ich war dankbar für Raffaels Vorschlag. Uriel schien die Kälte nicht zu spüren, aber wir Anderen zitterten. Statt zur Tat zu schreiten, sah Uriel Raffael lange und forschend an. Ich weiß, er sagte nichts, weil wir da waren. Dann schichtete er das Holz im Kamin und ließ ein Feuer auflodern.
Es gab warme Decken im Haus, die Böden waren mit Teppichen und Fellen ausgelegt und die Fenster gut isoliert. Es dauerte nicht lange, bis wir es wohlig warm hatten. Jetzt war ich gespannt zu hören, welche Rolle Uriel in der Geschicht spielte.
Er sah nicht unbedingt aus, wie die Engel, die meine Mutter in ihren Geschichten beschrieben hatte. Zwar war er groß und athletisch, hellhaarig und hellhäutig, aber die ganze Zeit über trug er einen grimmigen, verschlossenen Gesichtsausdruck. Er war wohl auch nur ein Mensch, mit seinem Groll, seiner Verletzbarkeit und seinem Stolz.
Während wir uns am Feuer wärmten, saß er da und starrte aus dem Fenster, als wüsste er nicht, dass wir Erklärungen von ihm erwarteten.
„Was hast du die zwei Monate gemacht, die du schon hier bist?“, fragte meine Mutter. „Erst taucht aus dem Nichts Raffael auf, dann kommt eine völlig unerwartete Nachricht von dir... Das kann doch kein Zufall sein.“
„Nein“, sagte Uriel. Er sah Raffael misstrauisch an. „Ich vermute, wir haben den gleichen Grund dich aufzusuchen, Loreley.“
„Dann weißt du auch von dem fehlenden Blatt? Woher? Jetzt bezweifelst du wohl nicht länger die Existenz des Buches!“
Uriel schüttelte den Kopf. „Ich habe seine Existenz nie bezweifelt. Nur war ich immer der Überzeugung, dass man sich besser alleine nach ihm auf die Suche machen sollte.“
„So ist das also. Davon hast du aber nie etwas verlauten lassen.“ Raffael blitzte Uriel an. Ich spürte, wie alte Wunden aufrissen.
„Wir waren jung. Ich habe mich nicht getraut gegen dich zu sprechen. Bis jetzt.“
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?“
„Du hast falsch gegen Lilith geurteilt.“
„Möglich! Aber wie du sagst: Wir waren jung und haben Fehler gemacht.“

„Hast du nun das fehlende Blatt, Loreley?“ Uriel wandte sich an meine Mutter und ignorierte Raffael.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber es muss einen Grund geben, weshalb eure beiden Spuren zu mir führen.“
„Oder in dein Haus“, korrigierte Raffael. „Das ist, was ich vermute.“
Die Rede von dem fehlenden Blatt, das sich möglicherweise in unserem Haus befand, ließ mich an unsere Bibliothek denken. Ich hatte im Laufe meines Lebens fast alle Bücher mindestens einmal in der Hand gehabt. Mir schien, ein Blatt ließe sich am besten in einem anderen Buch verstecken. Vermutlich waren dies auch die Gedanken von Raffael und Uriel gewesen.
„Aber weshalb, Raffael, suchst du so dringend nach dem Blatt, wenn du die roten Dächer doch schon gefunden hast?“
Raffael seufzte. „Ja, ich war da. Aber ich bin nicht bewusst dorthin gelangt. Mir ist es ähnlich wie Simon von Stroturing, dem Autor des Buches, bei seinem ersten Besuch ergangen. Mir fehlt ein Stück Erinnerung, beziehungsweise ist die Erinnerung sehr verschwommen und bizarr. Mir ist als erinnerte ich mich an einen Traum, wenn ich versuche den Weg zu den Dächern zurückzuverfolgen.
Aber Simon von Stroturing ist ein zweites Mal den Weg zu den Dächern gegangen. Und bei diesem zweiten Mal war er vollkommen anwesend. Er hat den präzisen Weg oder den Zauber oder was auch immer das Geheimnis ist, auf diesem fehlenden Blatt niedergeschrieben und es lose in das Buch gelegt. Ich weiß nicht, ob absichtlicherweise oder törichterweise. Jedenfalls war vorauszusehen, dass es recht bald verschwindet.
Von Stroturing hatte keine sehr guten deskriptiven Fähigkeiten. Das ganze Buch wirkt mehr wie eine Erzählung, er hatte Spaß daran die Ereignisse und Fakten zu verzerren oder ganz wegzulassen, was ihm zu langweilig erschien. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Buch befasst, ich glaube mehr als alle anderen, die es bisher gelesen haben. Und mittlerweile bin ich der Meinung, dass von Stroturing absichtlich das Buch wie ein Märchen gehalten hat. Aber diese fehlende Seite. Ich habe gehört, dass sie sehr gegen von Stroturings Gewohnheit geschrieben ist. Er hat mehrere Monate gebraucht um diese wichtigen Informationen exakt und kurz auf dieses eine Blatt zu zwängen. Der Mann, der mir dies erzählte, ein tibetanischer Mönch, war in dem Besitz des Blattes gewesen und hatte aufgrund seines Informationsgehalts den Weg zu den Dächern eigenständig und ohne Umwege gefunden. Er wollte mir aber nicht sagen, was Blatt und Buch miteinander verbindet. Denn man benötigt beide um den Weg tatsächlich zu finden.“
Uriel nickte. „So habe ich es auch erfahren. Durch Zufall, ich hatte die Suche nach dem Buch längst aufgegeben, kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ebenfalls im Besitz des Blattes gewesen war. Sie allerdings hatte es nicht zu den Dächern geschafft, da ihr das Buch fehlte. Sie bereute es tagtäglich keine Kopie von dem Blatt gemacht zu haben. Dieses Phänomen ist bisher immer aufgetreten: Diejenigen, die im Besitz des Buches oder des fehlenden Blattes gewesen waren, haben seine Bedeutung unterschätzt oder nicht damit gerechnet es jemals wieder zu verlieren. Aber jeder bereute bitterlich, wenn es erst einmal weg war, kein Duplikat davon gefertigt zu haben.“ Uriel wandte sich an Raffael. „Was ist mit dir? Hast du eine Kopie?“
Raffael schüttelte den Kopf.
„Zurück zum Thema“, sagte meine Mutter. „Denn es beunruhigt mich immer mehr, dass die Fäden in mein Haus laufen und ich nicht weiß, weshalb. Könnt ihr endlich sagen, was euch auf meine Spur gebracht hat?“
„Im Grunde war es jemand von unserer alten Gruppe.“ Raffael lächelte gequält. Vieles wirkte gequält an ihm. Nicht seiner Verletzung wegen. Er wirkte seelisch gequält. Und es lag nicht an dem Blatt, das er suchte. Er suchte noch etwas Anderes, etwas viel Geheimeres.
Ich hatte ein Gespür für die Dinge, welche die Seelen der Menschen um mich herum bewegten.
„Jemand, der dich in der Anfangszeit sehr oft besucht hat. Jemand, der oft auf deinen Festen war. Dieser Jemand hat gesagt, das Blatt befinde sich in deinem Besitz.“
„Das muss ein Irrtum sein. Kannst du nicht konkreter werden?“
„Ich weiß nicht, ob du willst, dass deine Kinder den Namen hören.“
„Nein, das will ich nicht.“ Meine Mutter sah uns an. „Ich möchte nicht, dass ihr noch tiefer hineingezogen werdet. Diese Querelen hätten längst vorbei sein müssen. Ich habe Angst, dass euch zu viel Wissen schadet.“
Ich nickte stumm, nahm Minou bei der Hand und verschwand ohne ein Wort. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schlafzimmer. In mir brodelte es, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter. Ich war fest entschlossen meine Nachforschungen auf eigene Faust weiterzuführen. Sollte meine Mutter doch glauben, mich interessiere das alles nicht.

Mitten aus dem Schlaf wurde ich gerissen. Es dauerte, bis ich wusste, wo ich war. Dann lauschte ich nach der Ursache, die mich geweckt hatte. Uriel und Raffael stritten vor dem Haus, direkt unter meinem Fenster.
„Du hast nicht nur die Gruppe auseinander gebracht, sondern auch meine Freundschaft skrupellos verraten.“
„Ich war dir nie zu etwas verpflichtet, Uriel. Es war Liliths freie Entscheidung. Wäre ich es nicht gewesen, wäre es ein Anderer gewesen. Du kennst Lilith und eigentlich solltest du wissen, dass sie nie so zu dir gestanden hat wie du zu ihr.“
„Was maßt du dich an über Liliths und meine Beziehung zu urteilen? Wie kannst du ohne Scham ihren Namen in den Mund nehmen, nachdem du sie erst verstoßen und dann verführt hast?“
Raffael lachte bitter auf. „Wir beide wissen sehr genau, dass Lilith nicht die Person ist, die sich verführen lässt.“
„Du hast sie mit Worten umschmeichelt, wie du es immer getan hast. Wie du es bei uns getan hast. Wir sind dir gefolgt, geblendet von deiner Begeisterung für das Buch, das du eifersüchtig vor uns versteckt hast, auf das wir kaum einen Blick werfen durften. Und trotzdem sollten wir deine Leidenschaft teilen, den Schlüssel zum Ruhm darin sehen. Zu deinem Ruhm. Konntest du Lilith damit verführen? Hast du dich mit deinem Erfolg gebrüstet die Dächer gefunden zu haben?“
„Sie wollte alles erfahren, alle Geheimnisse, die der Ort birgt. Sie sagte, sie würde alles dafür tun...“
Ich hörte ein kräftiges Rauschen und Schlagen. Einen Moment dachte ich, Uriel wäre auf Raffael losgegangen, aber dann sah ich etwas Weißes in den Himmel steigen. Uriel flog davon.

***​

„Damit du endlich weiterkommst, werde ich dir verraten, wo sich das fehlende Blatt befindet“, schnurrte die Katze. Sie hockte auf dem Fensterbrett und beobachtete mein Treiben. „Es befindet sich tatsächlich in diesem Haus. Zumindest eine Abschrift davon.“
„Warum bist du nicht schon vorher damit rausgerückt?“, fragte ich verärgert.
„Ich musste dir doch eine Chance lassen. Und bisher hast du dich wacker geschlagen. Aber wir wollen die Dinge ein wenig beschleunigen, nicht wahr?“ Sie blinzelte.
Sie hatte meine volle Aufmerksamkeit.
„Suche wieder in der Truhe deiner Mutter. Dort wirst du ein handgebundenes Manuskript finden, das nie veröffentlicht wurde. Der Autor hat die fehlende Seite, eitel wie er war, in seine Geschichte integriert. Deine Mutter sollte das Manuskript lesen und lektorieren. Und dann wieder zurückschicken. Sie hat es aber nie getan. Die Götter wissen, wieso.“ Sie blinzelte wieder. Die Katze hatte eine angenehm schnurrende Stimme. Fast lullte sie mich ein in ihre Erzählung.
„Nun lauf schon, Jascha. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Ich lief. Doch vor der Schlafzimmertür meiner Mutter kam ich zu einem abrupten Halt. Sie war verschlossen. Vorsichtig legte ich ein Ohr an die Tür. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt ein Spion im eigenen Hause zu sein. Nichts war zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter und Raffael weggegangen waren.
Kurz entschlossen klopfte ich. Als nichts geschah, drückte ich die Klinke herunter. Das Zimmer war leer. Mein Herz klopfte und nun überkam mich doch das schlechte Gewissen. Das Schlafzimmer trug den unverkennbaren Duft meiner Mutter. Der Duft, der mich durch die Kindheit begleitet hatte, in dem ich mich geborgen fühlte, der mir so viel Liebe entgegen brachte.
Ich schluckte und versprach mir, meiner Mutter alles zu erzählen, wenn der Zeitpunkt kam.
Dann flitzte ich zur Truhe und wühlte bis in die Tiefe, bis ich das Manuskript fühlte. Es war provisorisch gelocht und mit einer Schnur zusammen gebunden und handgeschrieben. Nicht die Arbeit eines professionellen Schriftstellers.
Ich machte, dass ich aus dem Zimmer kam, nicht ohne vorher die Spuren meines Eindringens zu verwischen.
Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa und die Katze kam an meine Seite gesprungen. Ich betrachtete das Manuskript und mein Herz sank. Es war auf Italienisch geschrieben. Von einer Sofia Arcangiolo.
Ich stutzte. Und überlegte, warum ich stutzte. Dann traf es mich wie der Blitz. Sophie Mirabeau im Arcangeli-Verlag und Sofia Arcangiolo.
„Es sind dieselben, nicht wahr, Katze? Nur welche ist die Echte?“
„Sieh sich einer den Titel an“, sagte die Katze. „Wie anmaßend ihr Menschen doch sein könnt.“
„Du kannst es verstehen?“
„Angeli argenti in cieli azzurri. Silberne Engel in blauen Himmeln.“
Ich lachte. „Die Anspielung ist offensichtlich. Aber wie soll ich diese bestimmte Seite finden, wenn ich kein Wort verstehe?“ Meine Stimmung verdüsterte sich schlagartig.
„Lass es mich lesen.“
Ich zögerte. Dann kam mir eine bessere Idee. „Nichts für ungut, Katze, aber ich kenne jemanden, der Italienisch kann. Wenn ich das Manuskript irgendwo hier liegen lasse, muss ich befürchten, dass Raffael oder meine Mutter es finden.“
„Dann will ich dir dennoch mehr zu der Autorin sagen. Schließlich war ich immer in der Nähe, wenn Sofia zu Besuch kam. Und da niemand einer Katze Beachtung schenkt, auch wenn es um intime Gespräche geht, habe ich interessante Dinge erfahren. Hör zu, Jascha.“
Ich hörte gierig zu. Und machte eine mentale Notiz, der Katze ein prächtiges Wurstbrot zu geben.
„Sofia Arcangiolo ist ihr richtiger Name. Sie hat sich als Autorin das Pseudonym Sophie Mirabeau zugelegt, weil sie Angst hatte von Gestalten ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden.“
„So wie alle Personen um meine Mutter herum Angst vor der Vergangenheit haben“, sagte ich.
„Und mit Recht. Diese Gruppe von Freuden hat eine Menge angerichtet in jungen Jahren und viel entdeckt, was hätte unentdeckt bleiben müssen.
Aber nun zu Sofia. Ihre Schwester, Aemilia, lebt unter dem Decknamen Amélie Mirabeau. Sie kennst du auch. Die wichtigere Person ist aber Sofia. Seit jeher hat sie geschrieben und Geschichten erzählt. Deine Mutter hat viel über Märchen von Sofia gelernt, sie war immer ihre begeistertste Zuhörerin.
Nun, eines Tages kamen Sofia und Aemilia zu einem unserer Feste mit Sorgen auf der Seele. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und hielt meine Ohren den Tag über in Hörweite der Schwestern. Irgendwann setzten sie sich mit deiner Mutter in den Garten und ich folgte ihnen. Was ich hörte, war haarsträubend, aber soweit ich es beurteilen kann, die Wahrheit. Sofia sagte, seit einiger Zeit bewahrheiteten sich ihre Geschichten. Sie hatte einen Roman geschrieben, der in Nîmes spielte. Der Stadt, in der sie mit Aemilia lebt. Aemilia hatte das Buch ebenfalls gelesen und konnte bestätigen, was Sofia so eigenartig aufgefallen war: In Nîmes lief jede einzelne Gestalt aus Sofias Romanen herum. Zunächst waren es äußerliche Übereinstimmungen, die sie stutzen ließen. Beispielsweise lief ihnen eines Tages ein Ehepaar über den Weg, das exakt der Beschreibung in Sofias Roman entsprach. Am selben Tag, erzählten sie, speisten sie in einem Restaurant, in dem sie auf einen jungen Mann aufmerksam wurden, der auffällig gekleidet war und ein erregtes Gespräch am Handy führte. Nicht nur die Tatsache, dass ein exzentrischer junger Mann eines Abends in einem Restaurant am Handy mit seinem Bruder stritt, wirkte wie die ins Leben gerufene Restaurantszene aus Sofias Roman, auch die Worte am Telefon waren die gleichen. Sofia konnte sie mitsprechen.
Nach dieser erschreckenden Erfahrung fassten die Schwestern den Entschluss in ein portugiesisches Städtchen zu fahren, in dem ein weiterer, kürzlich erschienener Roman Sofias spielte. Dort erlebten sie das gleiche schauerliche Schauspiel. Sie lasen in der Zeitung von dem Mord an einer gewissen Filipa Peres. Sowohl der Name der Toten als auch Ort, Zeit und Hergang des Mordes stimmten überein. Sofia gab der Polizei einen anonymen Hinweis auf den Mörder. Überflüssig zu sagen, dass sie ins Schwarze traf. Der springende Punkt ist allerdings, dass Sofia später auffiel, dass in ihrem Roman die Polizei ebenfalls den Hinweis auf den Mörder von einer anonymen Person erhalten hatte. Und dass Sofia, als sie den Roman geschrieben hatte, sich nie Gedanken gemacht hatte, wer diese Person war.“ Die Katze machte eine Pause.
Ich spürte, wie käseweiß ich war. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Meine Stimme war heiser.
„Keineswegs. Und dein Schreck ist nichts gegen den Schreck, den Sofia und Aemilia davontrugen, mein Lieber. Sie erzählten die Entdeckung deiner Mutter, weil sie niemand Anderem vertrauen konnten. Aber wie hätte deine Mutter ihnen helfen sollen? Den einzigen Rat, den sie Sofia geben konnte, war aufhören zu schreiben. Ein weiser Rat. Aber das wäre so, als wollte man Sofia den Sinn ihres Leben rauben.“
„Und dann fiel Sofia das fehlende Blatt in die Hände. Und sie schrieb dieses Buch, das meine Mutter nie gelesen hat, weil sie Angst vor dem Inhalt hatte. Das habe ich jetzt auch! Meine Herren, ganz schön makaber von Sofia so etwas zu tun! Warum hat sie es meiner Mutter gegeben?“
Die Katze zuckte mit den Ohren. „Das weiß ich nicht. Es fehlt ein Stück in dieser Geschichte. Jetzt liegt es an dir, weiterzuforschen.“
Ich schwieg beklommen.
„Sag nicht, dass du kalte Füße bekommen hast. Jemand muss das Gewirr auflösen.“
„Warum bist eigentlich du so erpicht darauf die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. „Das wiederum ist mein Geheimnis.“
 

Greenlia

Mitglied
Dies ist der Anfang einer Geschichte. Mit einigen Stellen bin ich noch nicht ganz zufrieden, aber bisher, im Ganzen gesehen, enttäuscht sie micht nicht:


Ich saß am Fenster und es regnete. Es war Januar und obwohl erst früh am Nachmittag schon stockdunkel. Die Regenwolken verdunkelten das Wenige an hellem Himmel und schafften eine triste Stimmung. Noch trister als sie ohnehin war.
Ich gähnte und stierte in die Dunkelheit. Meine Langweile grenzte schon an Depression.
Die Fensterbank war groß und breit, es lagen Kissen darauf und die Katze. Das einzige Lebewesen, das der Jahreszeit wohliges Schnurren entgegnete. Ich kraulte das getigerte Fell, packte ihren Kopf und sprach zu ihr. Ich hatte mich immer schon als Katzenversteher gesehen, keine Ahnung, ob es stimmte, aber die Katzen mochten mich. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Mühe gab mit ihnen, dass ich mit ihnen redete, wie mit Menschen. Oder wahrscheinlich besser als mit Menschen.

Nun, der Tag hätte keine weitere Bedeutung und ich würde ihn auch nicht erwähnen, wenn er nicht der Auftakt zu einer merkwürdigen Reihe von Ereignissen und Abenteuern geworden wäre.
Er ließ sich Zeit der Tag, kroch dumpf durch den eisernen Morgen, den feuchten Mittag, den Regen am Nachmittag, um dann am Abend aus der Lethargie zu brechen. Und das in einem gewaltigen Szenario.
Ich saß da, kraulte die Katze, dachte an den vergangenen Sommer und den kommenden. Meine Gedanken verketteten sich, blieben an Erinnerungen hängen, Bier und Bücher, Mädchen und warme Nächte.
Es war nach zehn, als es klingelte.
Der Ton war lange vorbei. Ich suchte nach der Erklärung, die mich aus den Gedanken gerissen hatte, als es wieder klingelte, diesmal eindringlicher.
Das Einzige, was mich trieb, nach der Tür zu sehen, war Neugier. Ich hatte nicht die geringste Lust auf Menschen. Vor allem nicht um diese Uhrzeit.
Die Katze kam wie selbstverständlich hinter mir her marschiert. Ich kannte keine Katze, die ihr Heim besser hütete als unsere. Sie scharwenzelte um meine Beine, als ich die Tür aufzog, und machte Geräusche.
Eine triefnasse, stinkende Gestalt stolperte in den Flur, keuchte etwas und stürzte fast zu Boden. Gegen meinen Willen packte ich sie im letzten Moment und sie fiel mir schwer in die Arme.
Die Katze maunzte und freute sich über das Spektakel, ich rief: „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ und wusste weder ein noch aus. Warum hörte meine Mutter nicht?
Da bemerkte ich, dass meine Hände warm wurden und rot. Die Person blutete, und nicht wenig. Und plötzlich war mein Hirn wieder klar. Ich wusste, was zu tun war. Binnen kürzester Zeit hatte ich die Person ihrer nassen Kleidung entledigt, die Wunde ausfindig gemacht und so gut es ging, versorgt. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so etwas konnte. Das Leben ist zu voll von tristen Januartagen, die einem die eigenen Fähigkeiten lähmen.
Ich wusste immer noch nicht, wer nun auf unserem Sofa lag und warum.
Ich schickte die Katze nach oben, um meine Mutter und meine Schwester zu holen.
Meine Schwester kam heruntergetrampelt, die Haare zerzaust und die Augen klein von Schlaf. Aber glitzernd vor Neugier. Meine Mutter kam langsamer und würdevoller nach. Ich glaube aber heute, es war Angst. Denn als sie die geschlagene Gestalt sah, verdüsterte sie sich kurz, als hätte sie eine Vorahnung gehabt.
Niemand sprach. Dieser Moment, als alle im Wohnzimmer standen, nichts sagten, sich anschauten und erkannten, dass sich etwas verändern würde, wird mir lebendig wie keine andere Erinnerung im Gedächtnis bleiben.
Meine Mutter stand wie vom Donner gerührt. Erst als meine Schwester laut fragte: „Wer sind Sie?“, fand sie zu sich. Als wären wir nicht da, kniete sie sich vor das Sofa und griff nach der Hand des Fremden. Leicht schüttelte sie den Kopf, immer wieder, und ich glaube, sie weinte.
„Ich habe sie gefunden, die roten Dächer“, sagte der Fremde.
Ich wusste nicht, worum es hier ging, was für verdammte Dächer er meinte. Aber es sprach ein Triumph aus seinen Worten, dass seine Verletzungen es wohl wert gewesen waren.
„Die roten Dächer, Loreley. Ich habe sie gefunden!“

Ich weiß auch nicht mehr, wie lange wir noch saßen und langsam der Geschichte auf die Schliche kamen, die der Fremde mit sich brachte. Ich kann nur sagen, dass ich mich auf eine Weise unwohl fühlte, als ahnte ich Schwierigkeiten. Aber der Abend und der Fremde waren zu bizarr und fantastisch, als dass ich mich ihnen hätte entziehen können. Wann wir endlich schlafen gingen oder ob wir saßen und lauschten, bis der graue Morgen graute, kann ich nicht sagen. Die nächsten Tage verliefen ohne Anfang und Ende, Tag und Nacht verschwammen unter der Präsenz des Fremden und seiner Geschichte. Die bald auch die unsere werden würde.

Seit ich mich erinnern kann und noch früher, hatten meine Mutter und ich immer in dem Haus mit dem großen, überwuchernden Garten gelebt. Die Katze war auch immer da gewesen. Sie erschien auch auf verblichenen Kinderfotos meiner Mutter. Irgendwann lernte ich, dass Katzen nicht wirklich sieben Leben haben. Aber mit den Jahren hörte ich auf, mich zu fragen, warum unsere Katze eine Ausnahme war.
Wir hatten oft Besuch von verschiedenen Leuten, die alle von weit her zu kommen schienen. Sie alle kannten meine Mutter gut und es war immer eine Freude, denn sie brachten mir Geschenke, und ich sah, dass meine Mutter mit ihnen glücklich war. Sie kamen immer in Scharen. Dann wurde es laut im Haus und es gab reichlich zu essen und zu trinken. Wenn eine solche Gesellschaft bevorstand, machten meine Mutter und ich einen großen Einkaufszettel und sammelten Ideen, wie wir das Haus dekorieren und uns verkleiden wollten. Dann verkleideten wir uns und gingen als Seeräuber die große Einkaufsliste erledigen.
Mit den Leuten aus der Umgebung hatte meine Mutter nie zu tun. Wir waren die Einzigen im Viertel, die ein solches Haus mit einem solchen Garten inmitten der Ansammlung von Hoch- und Mehrfamilienhäusern besaßen. Ich vermutete, dass die Nachbarn einfach neidisch waren. Ich hingegen hatte viele Freunde in der Schule. Viele waren mit mir befreundet, weil sie gerne in unser Haus kamen. Aber das machte nichts. Es war ein besonderes Haus, man konnte herrlich darin spielen, und ich war stolz darauf.
Eines Tages, als ich noch ein Kind war, kam meine Mutter zu mir in den Garten, setzte mich auf ihren Schoß und erzählte mir ein Märchen. Meine Schwester war damals noch nicht geboren und ich liebte meine Mutter, dass es schmerzte. Ich war überzeugt, dass sie ich war und ich sie. Dass wir eine aufgesplitterte Seele waren. Ich brauchte keine Miene zu verziehen, sie wusste immer, was mit mir los war. Sie war ein Engel, dachte ich, eine Fee oder eine Prinzessin. Ich wusste keinen Unterschied, denn die Engel und Feen und Prinzessinnen in den Märchen, die meine Mutter mir erzählte, spiegelten sich alle in ihr.
Dieses Märchen war das letzte, das sie mir je erzählte, und entgegen aller anderen Märchen hatte es ein trauriges Ende. Ich war nicht zufrieden damit und sagte es meiner Mutter.
Sie strich mir über den Kopf und meinte, ich solle mich daran gewöhnen. „Außerdem ist nicht gesagt, ob dies das Ende ist. Auch wenn meine Märchen ein Ende haben, die Personen darin leben doch weiter, oder? Und sie erleben noch mehr Abenteuer. Und vielleicht sterben sie im nächsten oder übernächsten.“
Ich war irritiert, dass sie mein Konzept der Märchenwelt so aus den Fugen riss, und beleidigt. Ich war ein verwöhntes Kind und vermutlich war es der Versuch meiner Mutter gewesen, mich an die Realität heranzuführen.
Ein paar Monate später kam meine Schwester zur Welt und mit ihr ging eine zweite Sonne in meinem Leben auf. Ich merkte, wie es meiner Mutter eine unendliche Erleichterung war, dass ich meine Schwester so sehr liebte. Und für sie brach ein zweiter Frühling an. Es war die schönste Zeit, die wir zu dritt hatten.

Das ging mir durch den Kopf, als ich voller Gedanken in mein Bett kroch. Vor meinem Fenster fuhren bereits die ersten Leute zur Arbeit. Ich war gerädert und hatte keine Lust zu denken. Nicht jetzt, da ich die ganze Nacht damit verbracht hatte, mein Hirn arbeiten zu lassen, Bruchstücke von Erinnerungen aufblitzen zu sehen, Verbindungen zu erkennen und neue Fragen zu finden.
Meine Schwester kam zu mir und kroch zu mir ins Bett. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Irgendwann hatte sie gesagt: „Ich bin zu groß dafür!“ und hatte sich mit ihrem Kuscheltier ins Bett geschmissen. Sie hatte die ganze Zeit, die wir im Wohnzimmer gesessen hatten, kein Wort gesagt, und ich dachte, sie würde jetzt ihr Schweigen brechen. Aber ihr Lockenkopf bürstete nur über mein Gesicht, während sie sich drehte, und Sekunden später schlief sie. Angesteckt von ihrer Erschöpfung ließ auch ich mich ins Nichts fallen.

Als ich erwachte, lag ich auf dem Boden und alles schmerzte. Ich schaute auf, sah meine Schwester, alle Viere von sich gestreckt, in meinem zerknüllten Bett liegen. Selig schlafend.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachmittags. Ich schlich in die Küche, um etwas Sinnvolles zu tun. Meine Mutter war nicht da und auch der Fremde auf dem Sofa war verschwunden. Ich schaute im Wohnzimmer umher, misstrauisch, und ein Wurstbrot balancierend. Die Katze lauerte. Der Fremde hatte seinen Rucksack dagelassen. Wie selbstverständlich wanderte meine Hand hinein und wühlte. Ich zog ein Buch hervor, in Leder geschlagen. Von goldenen Eulen auf roten Dächern hieß es.

Vielleicht wäre hier der richtige Zeitpunkt zu erzählen, was ich die vorherige Nacht erfahren hatte.
Die Verletzungen des Fremden waren weniger groß als die unendliche Erschöpfung, mit der uns begrüßt hatte. Er schlief erschöpft ein auf dem Sofa, während meine Mutter Tee und ich Nudeln kochte. Ich bereitete uns instinktiv auf eine lange Nacht vor.
„Mama“, sagte ich irgendwann, als wir wieder nur da saßen, über unserem Tee brüteten und schwiegen, „erzähl.“
Meine Mutter blickte in ihre Tasse, Dampf stieg ihr ins Gesicht. Sie lächelte, sah uns an. Ihr Lächeln war warm und breit.
„Wisst ihr, Kinder, es ist sehr schön, dass er endlich gekommen ist.“ Sie nahm meine Schwester in den Arm, die den Fremden anstarrte und die Worte unserer Mutter gar nicht zu hören schien.
„Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Damals, als du noch nicht geboren warst, mein Sohn, waren wir gute Freunde. Ich lebte ganz woanders. Dein Vater war auch dabei und andere Leute, an die ich mich mit viel Liebe erinnere. Wir waren eine besondere Gruppe und wir haben Abenteuer erlebt.“ Sie lächelte diesmal nur mich an. „Solche Abenteuer, wie ich sie dir erzählte, als du klein warst.“
Mit Feen und sprechenden Tieren, dachte ich.
„Eines Tages fiel Raffael ein Buch in die Hände. Das ist Raffael“, sagte sie und drehte ihren Kopf zum Sofa. „Es hieß Von silbernen Katzen auf blauen Dächern. Er hatte es immer verstanden Kuriositäten aus aller Welt zu erstehen, keiner wusste, wie er es anstellte. Er war immer der seltsamste Vogel unserer Gruppe und wahrscheinlich der Kern, der uns zusammenhielt. Kurz gesagt, er las das Buch und etwas geschah danach mit ihm. Er sprach nur noch von den blauen Dächern und davon, dass er sie finden müsse, dass er nicht eher ruhen werde, bis er sie gefunden habe, koste es, was es wolle. Anfangs waren wir alle eifrig bei der Sache, wir forschten uns durch die Bücherwelt nach Anhaltspunkten, machten uns auf die Suche nach den verrücktesten Menschen in den verwinkeltesten Gegenden, nur weil wir eine winzige Information dort vermuteten. Oh, wir erlebten eine spannende Zeit. Aber nach einem Jahr der erfolglosen Suche, dachte jeder, was keiner auszusprechen wagte: dass die mysteriösen blauen Dächer nicht existierten. Es kam, wie es kommen musste. Ein Streit brach aus, und Raffael fühlte sich betrogen, weil keiner mehr hinter dem Projekt stand. Er verließ uns, und unsere Gruppe brach vollständig auseinander, denn nun hatten wir keine Mission mehr. Wir konnten nicht zurück in unser Leben, wie es vorher gewesen war. Ich hatte nur deinen Vater, mein Sohn, und unsere Liebe. Wir zogen in dieses Haus, das Haus deiner Großtante. Bald kamst du. Und bald darauf waren nur noch wir zwei hier.“
Den letzten Teil kannte ich schon. Und da meine Mutter näheren Erklärungen, was es mit meinem Vater auf sich hatte, immer wieder kunstvoll auswich, fragte ich nie. Mittlerweile war es mir egal.
„Es gab eine Zeit, da ich mich sehr einsam fühlte in dem großen Haus. Da begann ich Raffael lange Briefe zu schreiben und sie ins Nirgendwo zu schicken. Ich kannte ja weder eine Adresse, noch wusste ich in welcher Stadt er sich befand. Umso erstaunter war ich, als ich eines Tages Antwort bekam.“
Ich setzte mich gerader hin. Der Tonfall meiner Mutter hatte sich verändert.
„Der Umschlag und das Papier wirkten, als wären sie lange gereist. Der Poststempel und die Briefmarke waren verblichen, ich konnte nicht erkennen, woher er kam. Ein Absender stand natürlich nicht darauf. Aber an der Art, wie mein Name auf dem Umschlag stand, wusste ich sofort: Es war Raffael. Die Nachricht war sehr kurz. Wartet, ich suche sie.“ Meine Mutter schob meine Schwester zur Seite, die mit halb geschlossenen Augen in ihren Armen eingedöst war.

„Loreley hat etwas verschwiegen.“
Ich wandte den Kopf, ein Augenpaar glitzerte vom Sofa herüber. Ich hatte nicht gemerkt, dass Raffael aufgewacht war. „Kann ich welche von den Nudeln haben?“
„Was meinst du?“, fragte ich ihn, reichte ihm einen Teller mit dampfenden Nudeln in Soße.
„Unser Streit. Er ging nicht in harmlosen Wortgefechten zuende. Es kam zu Handgreiflichkeiten und einer von uns starb.“ Nudeln wurden geräuschvoll von der Gabel gezogen. Raffael schob sich eine Handvoll nach der anderen hinein, Soße tropfte ihm vom Kinn. Er hatte offensichtlich lange nichts mehr gegessen.
„Was geschah dann?“, unterbrach ich sein Mahl.
„Arthur kam durch Liliths Hand um. Lilith floh, erschreckt von dem, was sie getan hatte und die Rache von Arthurs Bruder fürchtend. Deinem Vater.“
„Wer war mein Vater?“
„Das reicht.“ Meine Mutter war dunkel im Türrahmen erschienen. „Du bist nicht hergekommen, um unsere Vergangenheit aufzuwühlen.“
Raffael ließ sich erschöpft zurück sinken. Ich nahm seinen Teller, bevor er zu Boden fiel. So nah dran war ich gewesen. Ich würde meine Chance noch bekommen, dachte ich. Aber ich unterschätzte die Wirkung, die ein Befehl meiner Mutter auf Raffael hatte.
„Hast du den Brief gefunden, Mama?“
Plötzlich wurde sie scheu. „Hier habe ich ihn. Aber... Ich wusste nicht, dass du wieder wach bist, Raffael. Vielleicht erklärst du endlich, unter welchen Umständen du diesen Brief geschrieben hast.“
Ich nahm meiner Mutter den Brief aus der Hand und zog andächtig das Papier heraus. Es war klein und verblichen, wellig, als wäre es einmal nass geworden, und auch die Tinte verschwommen. Meine Schwester kam näher gekrochen und ich las ihr vor:


52. 3. '87​
Loreley, Loreley –

ich trage jeden deiner Briefe an meinem Herzen. Und ich werde in dein Haus kommen, das verspreche ich, irgendwann. Dann hat hoffentlich alles ein Ende, was mich zur Zeit quält.

R.


„Das ist tatsächlich ein kurzer Brief. Und das Datum ist seltsam“, sagte ich.
„Ich glaube aber, es stimmt.“ Meine Mutter sah Raffael aus dem Augenwinkel an. Er nickte schwer. „Das Datum ist seltsam, weil es eine seltsame Zeit war. Ich war sechs Monate im Himalaya und eigentlich war es ein ganzes Jahr. Dort bin ich endlich, endlich auf eine brauchbare Spur der roten Dächer gekommen.“
„Seit wann waren die blauen Dächer aus dem Buch rote Dächer?“, fragte ich.
„Das habe ich im Himalaya gelernt. Das erste Buch war eine Fälschung. Dort fand ich das Original. Ich hatte die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt. Und dort im Himalaya erzählte man mir die Geschichte des Buches, dessen Fälschung fast genauso berühmt geworden war.“
Plötzlich sackte Raffael müde zusammen und stieß einen Seufzer aus. Er verzog das Gesicht und ich erinnerte mich, dass er ernsthaft verletzt war.
„Ich hätte nicht so viel essen sollen“, sagte er. „Ich muss schlafen.“ Er schloss die Augen. „Verzeiht mir, dass ich so reingeplatzt bin.“
Meine Mutter strich sanft über Raffaels Arm. „Du bist willkommen. Ich schlafe hier bei dir. Falls du etwas brauchst.“
Ich nahm meine Schwester, die eingerollt auf dem Teppich lag, huckepack und ging nach oben. Meine Glieder waren bleischwer, aber mein Kopf fand keine Ruhe. Ich wollte mehr erfahren, alles.

Später am Nachmittag, als ich wach geworden war, hatte ich also das Buch Von goldenen Eulen auf roten Dächern gefunden. Entweder war Raffael sehr leichtsinnig seinen Schatz so unbeaufsichtigt zu lassen oder er vertraute uns sehr. Ich vermutete das Letztere. Ein Mann, der so viel erlebt hatte, hatte mit Sicherheit auch ein gesundes Misstrauen gegen die Welt.
Das war also das Original. Ich leugne nicht, dass mein Puls schneller ging, als ich es aufschlug. Die Seiten waren hart und fast brüchig, aber die Worte leuchteten als wären sie erst gestern niedergeschrieben worden. Es hatte keine besondere Aufmachung, das Buch, dessen Autor sich Simon von Stroturing nannte. Alles war mit Hand geschrieben, schlicht und ordentlich gehalten. Keine Verschnörkelungen oder irgendein Hinweis, dass es sich bei dem Buch um eine Kostbarkeit handelte. Was mich stutzen ließ, waren die vielen Randbemerkungen, die von verschiedenen Personen stammten. Sie trugen immer eine andere Signatur, bezogen sich aufeinander und waren so zahlreich, dass sie fast den Wortgehalt des Buches verdoppelten. Es waren Zusatzinformationen und Korrekturen an dem eigentlichen Text. Nach und nach lernte ich, dass sich alle Personen auf den Weg gemacht hatten die roten Dächer zu finden. Sie hatten das Buch als Reiseführer genutzt und sich sowohl an dem Hauptautoren als auch an allen anderen Abenteurer vor ihnen orientiert. Ich entdeckte ein paar Randbemerkungen von Raffael, die er mit seinem verschlungenen R. unterzeichnet hatte. Sie waren sehr präzise und warfen teilweise Theorien über die roten Dächer um, die sich lange gehalten hatten. Während bei vielen Theorien die eine haarsträubender als die andere war, so legte Raffael Wert auf persönliche Erfahrungen und handfeste Belege.
Trotz der vielfältigen Berichtigungen des Haupttextes verlor dieser jedoch nicht seinen Zauber und seine Überzeugungskraft und seine Energie, die offensichtlich machten, dass die roten Dächer kein Hirngespinst waren. Die meisten Berichtigungen fanden sich in der Wegbeschreibung und der Historie der roten Dächer, doch als ich das Kapitel aufschlug, das von der Ankunft von Stroturings an jenen geheimen Ort sprach, fand ich keine einzige Randebemerkung. Scheinbar hatte keiner der Abenteurer die roten Dächer erreicht. Das stimmte mich etwas traurig, als ich das Buch zuschlug. Vielleicht waren sie umgekommen auf der Reise. Raffael war auch nicht im besten Zustand zurückgekehrt.
Ich ließ das Buch wieder im Rucksack verschwinden und aß mit seltsamem Gefühl im Bauch mein Wurstbrot ohne Wurst. Die Katze hatte es doch geschafft Beute zu machen. Ich glaube, sie war so dick wegen der vielen Wurstbrote, die ich überall vergaß.
Ich verspürte das Bedürfnis mit jemandem über das Buch zu sprechen, jemand Außenstehendem. Meine Schwester war zu jung, meine Mutter erzählte nur das, was sie wollte, und Raffael war mir unheimlich. Aber ich vermutete, dass ich nicht die Erlaubnis hatte irgendjemandem von dem Buch oder von Raffael zu erzählen. Es lag ein großes Geheimnis über allem.
Ich beschloss ein bisschen im Haus zu wühlen. Es musste doch mehr Erinnerungen auf die Jugend meiner Mutter geben, mehr Informationen zu Arthur und Lilith und meinem Vater. Bei einigen unserer Gesellschaften in früheren Jahren waren zwei Frauen anwesend gewesen, die mir im Gedächtnis geblieben waren, weil sie Französinnen waren. Sie hatten oft mit meiner Mutter gesprochen, als teilten sie alte und schöne Erinnerungen. Ich war damals zu jung, um genau hinzuhören und Schlüsse zu ziehen, aber ich erinnere mich, dass die drei Frauen oft stundenlang im Garten saßen und redeten, während im Haus die Feier weiterging.
Sophie und Amélie waren ihre Namen gewesen.
Ich holte die Fotoalben meiner Mutter. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, die schönen Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Und jedes unserer Feste war etwas Besonderes gewesen. Es war fast garantiert, dass Sophie und Amélie auf den Fotos erscheinen würden. Mit Adleraugen durchforstete ich die Alben, die meine Mutter mit getrockneten Blumen geschmückt hatte. Über jeder Fotoserie stand hübsch das Datum und der Anlass. In einem der älteren Alben entdeckte ich schließlich die Französinnen. Sie trugen große Hüte, ihre Gesichter blieben halb im Schatten. Ich entdeckte noch weitere Fotos von ihnen, jedes Mal mit großen Hüten oder die Köpfe so gedreht, dass man nur schwach die Gesichter erkennen konnte. Je mehr Fotos ich von ihnen fand, desto offensichtlicher wurde, dass sie hatten unerkannt bleiben wollen. Auf einem Bild überreichte Sophie oder Amélie meiner Mutter ein Kästchen. Es war ihr dreißigster Geburtstag. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mit Sophie in der Küche gestanden hatte und eine riesige Torte mit ihr gebacken hatte. Die Schwestern waren an diesem Tag früh gekommen, Amélie hatte meine Mutter mit zum Einkaufen genommen und ich war mit Sophie daheim geblieben.
Mein Herz schlug schneller. Sophie hatte mir ein Büchlein geschenkt, das sie selbst geschrieben hatte. Sie war Autorin.
Ich ließ alles stehen und liegen und überlegte fieberhaft, wo das Buch sich jetzt befand. Wenn ich ihren Nachnamen wüsste, wäre dies schon ein guter Anhaltspunkt.

Sophie Mirabeau. Ich hatte das Büchlein in der Truhe meiner Mutter gefunden. Ich hatte wirklich das ganze Haus auf den Kopf gestellt, bis ich mich an die privaten Sachen meiner Mutter wagte. Es war nicht meine Art, aber inzwischen verspürte ich das Recht etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Sie würde noch dankbar sein, wenn sie die Geheimnisse nicht mehr alleine mit sich herumtragen müsste.
Der schnellste Weg führt über das Internet. Es dauert auch nicht lange, da erschienen unzählige Einträge über Sophie Mirabeau und ihre Bücher. Philosophische Romane, melancholische Romane, historische Biographien, viele mit Preisen belegt. Und Kinderbücher. Etliche Kinderbücher. Ich fand Parallelen zu den Geschichten meiner Mutter, als ich mir verschiedene Rezensionen durchlas. Bestimmt waren Märchen eine Sache, die ihre Freundschaft gehalten hatte.
„Was machst du da, Jascha?“ Meine Schwester trat verschlafen hinter mich. Ihr Lockenkopf stand Sturm und ihr Mund war bereits marmeladenverschmiert.
„Ich recherchiere. Willst du gleich mitkommen in die Bücherei?“
Sie nickte und schaute mir zu. Ich recherchierte weiter.
Es gab einige Zeitungsartikel über Sophie Mirabeau, aber kaum etwas über ihre Biographie. Ich bemerkte, dass die meisten ihrer Bücher in einem Verlag namens Arcangeli erschienen waren. Wir waren eine Bücherfamilie, alle fanatisch nach Literatur, doch vom Arcangeli-Verlag hatte ich noch nie gehört. Sophie Mirabeau blieb mysteriös. Sie wurde es immer mehr, denn sie schien ihr Leben vor der Welt zu verstecken.

Ich traf Alva in der Stadtbücherei. Sie stand vor einem Regal, die Hände auf das Brett gestützt, und studierte die Bücher von Nahem.
Sie erkannte uns erst, als wir direkt vor ihr standen. „Jascha, Minou. Wir haben uns lange nicht gesehen. Geht es euch gut?“
„Blendend. Übermüdet, aber blendend. Das Leben schenkt uns ein Abenteuer.“
„Das freut mich. Und in einem Monat könnte es auch ein oder zwei Abenteuer geben. Da widmen wir uns jeglichen Freuden des Lebens. Ich hoffe, du hast es nicht vergessen.“
Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich unsere alljährliche Karnevalsfeier vergessen können? Maskenball nannten wir ihn und es war bisher immer ein glorreiches Fest über drei Tage gewesen, auf dem Landsitz von Charlottes Eltern. Zu dieser Zeit übergaben sie uns großzügig das Haus für die Festivitäten und gönnten sich selbst ein paar Tage Urlaub. Seit vier Jahren schon feierten wir den Karneval dort und jedes Mal wurde er besser.
„Möchte Minou dieses Mal dabei sein?“ Alva sah meine Schwester an. „Zumindest am Samstag, tagsüber?“
„Ja! Ich will immer, aber sonst lässt mich Mama nicht. Glaubst du, sie lässt mich dieses Mal, Jascha?“ Minou zog an meiner Hand.
„Ich bin mir sicher. Zumindest am Samstag, ja.“
„Ich suche heute einen Bildband. Von Kay Nielsen. In Powder and Crinoline. Kennst du ihn?“
„Wir haben den Band zuhause.“
„Ah, irgendwie dachte ich mir das. Ich wollte nur nicht schon wieder fragen. Aber falls ich ihn hier nicht finde...“
„Gebe ich ihn dir. Klar gebe ich ihn dir. Ich würde dir kein Buch ausschlagen.“
Sie lächelte. „Ich weiß. Wonach sucht ihr?“
„Sophie Mirabeau. Jegliche Information über sie. Oder Werke, die im Arcangeli-Verlag erschienen sind.“
Alva schüttelte den Kopf. „Such im Internet, geh zur Zeitung. Vielleicht gibt es im Archiv etwas oder jemand erinnert sich an ein Interview. Ist sie bekannt?“
„Doch, ich glaube schon. Ihre Bücher zumindest haben Preise gewonnen. Aber sie selbst bleibt im Dunkel.“
„Trinken wir am Samstag zusammen einen Tee? Dann erzählst du mir von Sophie Mirabeau und bringst mir In Powder and Crinoline mit.“
„Sehr gern. Sagen wir um fünf bei mir. Meine Mutter wird sich auch freuen dich wiederzusehen.“
Wir ließen Alva vertieft zwischen den Bücherregalen stehen.

Noch am gleichen Nachmittag schrieb ich an verschiedene Redaktionen, ob sie Informationen über die Schriftstellerin Sophie Mirabeau hätten. Ich rechnete nicht damit, dass mir überhaupt jemand antworten würde. Zeitungsmenschen hatten nie Zeit.
Minou spielte mit der Katze im Garten, ließ sie eine Schnur jagen und lachte ihr unbändiges Kinderlachen.
„Jaschaaa!“, rief sie gegen mein Fenster. Ich öffnete es und sah zu ihr nach unten.
„Ich will als Teufel zu eurem Fasching gehen! Kann Mama so eine Verkleidung machen?“, schrie sie.
„Klar kann sie das! Soll ich dann als Engel gehen?“, schrie ich zurück.
„Nein!“, schrie sie. „Du bist doch kein Mädchen! Du kannst als Pirat gehen, hab ich gedacht!“
„Nein, wie langweilig! Das war ich schon mal! Wie wäre es mit einem Fuchs?“
Minou überlegte kurz, den Kopf in den Nacken gelegt. „Okay! Das ist gut!“
Ich salutierte und zog mich wieder in das Zimmer zurück. Es war bitterkalt draußen.
Also würde ich als Fuchs gehen, mit der Erlaubnis meiner Schwester. Ich hatte es gesagt, weil ich auf unserem Dachboden eine Fuchsmaske mit echtem Fell gefunden hatte, die noch gut erhalten war.
Erst spät am Abend kamen meine Mutter und Raffael zurück. Ich sah wie gebückt er ging, sich auf den Arm meiner Mutter stützend als wäre er ein alter Mann. Aber sein Gesicht hatte deutlich mehr Farbe als am Abend zuvor und er war sauber und trug neue Kleidung.
„Was habt ihr den Tag über getrieben, Kinder?“, fragte meine Mutter. Und obwohl ich keinen Grund hatte, klopfte mir das Herz aus Angst sie könnte mir ansehen, dass ich nach Sophie Mirabeau geforscht hatte. Ich antwortete schnell, bevor meine Schwester etwas Unvernünftiges sagen konnte. „Wir waren in der Bibliothek mit Alva und haben uns Gedanken über unsere Karnevalskostüme gemacht.“
„Darf ich diesmal mit, Mama?“, rief Minou. Vor Aufregung vergaß sie sogar ihre Scheu vor Raffael. Ich sah, dass er sie musterte.
„Ach, Töchterchen. Das ist doch ein Fest für Große.“ Meine Mutter strich Minou über den Kopf. „Aber vielleicht am Samstag, tagsüber. Wenn mir Jascha verspricht, dass er auf dich aufpasst.“
Selbstverständlich würde ich auf meine Schwester aufpassen. Wie auf meinen Augapfel. Das wusste meine Mutter sehr gut. Ich war froh, dass sie es Minou erlaubte, den Samstag mit uns zu verbringen. Meine Schwester gehörte irgendwie immer dazu. Einfach, weil ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte.
„Und wo wart ihr, Mama?“, fragte ich.
„Einkaufen, über alte Zeiten reden, Pläne schmieden. Habt ihr etwas gegessen? Denn heute Abend gehen wir alle weg und ich will nicht, dass ihr anfangt über Hunger zu klagen.“
„Wohin?“, rief Minou.
„Welche Art von Plänen?“, fragte ich.
„Wir fahren gleich an den Ort, an dem die Pläne beginnen.“

Es schneite kleine nasse Flocken, als wir uns am Abend ins Auto setzten. Meine Schwester und Raffael knabberten Salzstangen auf dem Rücksitz und ich versuchte Näheres aus meiner Mutter zu quetschen. Doch sie blieb stur wie immer. Ich versuchte den Weg zu verfolgen, den wir fuhren, aber seit wir aus der Stadt waren, war es so dunkel und verschwommen draußen, dass ich nur wage Vermutungen aufstellen konnte. Wir fuhren nach Süden und die Landschaft, die Bepflanzung verdichtete sich. Plötzlich bog meine Mutter von der Straße ab, fuhr am Feld entlang und bog dann auf einen Pfad in den Wald.
„Das ist kein Weg für Autos, ich hoffe, du weißt das“, sagte ich besorgt.
„Wir sind genau richtig.“ Wenn meine Mutter entschlossen eine Sache verfolgte, konnte sie niemand davon abbringen.
Der Pfad war so schmal, dass wir ständig über Wurzeln holperten und Äste gegen die Windschutzscheibe schlugen. Aber meine Mutter fuhr die Strecke, als legte sie sie täglich zurück.
Ich wusste nicht, welcher Wald es war, den wir durchquerten, aber er wirkte riesig. Wir verbrachten bestimmt eine Stunde durch das Unterholz rumpelnd und ich fürchtete um unser Auto. Als ich auf die Uhr schaute, war es ein Uhr. Die Salzstangen waren gegessen, die CD mindestens dreimal durchgelaufen. Meine Schwester schlief den Kopf in Raffaels Schoß gelegt, der wiederum gebannt durch die Windschutzscheibe blickte, als erwarte er jeden Moment eine Überraschung.
Auf einmal ruckte es und der Wagen hielt an. Ohne ein Wort stieg meine Mutter aus, ich tat es ihr nach. Raffael weckte Minou und half ihr nach draußen.
„Was nun?“
„Wir müssen auf jemanden warten.“ Meine Mutter sah mich lange an. Sie wollte etwas sagen, ich merkte es, aber nichts kam heraus. Sie sah mich so durchdringend an, als wollte sie, dass ich ihre Gedanken las. Es beunruhigte mich und ich bekam Angst bei dem Gedanken, was weiter geschehen würde.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Licht erschien in der Dunkelheit, das sich durch die Bäume bahnte. Der Schein wurde größer, leckte an den Stämmen und verzerrte die Pflanzenwelt mit den Schatten, die er warf.
Ein hochgewachsener Mann folgte dem Licht. Er trug etwas Großes auf dem Rücken, dennoch bewegte er sich leichtfüßig und schnell.
„Uriel! Hier sind wir“, rief meine Mutter.
Uriel warf den Strahl der Taschenlampe in unsere Richtung. Dann sahen wir ihn.
„Jascha, ein Engel“, sagte meine Schwester. Und es war keine kindliche Einbildungskraft, die aus ihr sprach.
Was er auf dem Rücken trug, waren Flügel. Riesige, kraftvolle, an den Körper geschmiegte Flügel.
Ich staunte. Meine Mutter hatte mir nie von Bekanntschaften mit Engeln erzählt. Ein bisschen beleidigt war ich. Dass sie es mir vorenthalten hatte.
Uriel leuchtete Raffael an. Er trat an ihn heran, als wären wir anderen nicht da. Er war viel größer als Raffael und muskulöser. Einen Moment dachte ich, Uriel würde ihn angreifen, so brüsk, wie er sich an ihn wandte. Doch stattdessen sprach er.
„Mutig von dir hier einfach so aufzutauchen.“
„Das Gleiche könnte ich dir auch sagen. Allen anderen könnte ich es sagen!“
„Du weißt vielleicht nicht, dass mir die Geschichte von Venedig zu Ohren gekommen ist. Das ist etwas ganz Anderes.“
Raffael erbleichte, sein Körper spannte sich sichtbar. Auch meine Mutter zuckte zusammen.
„Uriel, wir haben doch entschieden, die Vergangenheit heute ruhen zu lassen. Bitte. Beherrsch dich.“
Ich merkte plötzlich, dass Minou meine Hand ergriffen hatte. Ihre kleinen Nägel stachen mich.
Uriel seufzte tief und entspannte sich, schaltete die Taschenlampe aus. „Also gut. Du hast Recht. Es gibt jetzt Dinge, die Vorrang haben. Kommt mit.“
Wir setzten uns in Bewegung. Ich hielt noch immer Minous Hand.
Schweigend durchwanderten wir den nächtlichen Wald. Es war nichts zu hören außer des gelegentlichen Knackens von Zweigen unter unseren Füßen oder irgendwo in der Dunkelheit. Nicht einmal der Wind rauschte durch die Wipfel und auch der Schnee hatte aufgehört.
Uriel machte vor einer Steinwand Halt. Ich sah mich um, so gut es in der Nacht möglich war, und staunte, wie bergig es vor uns wurde. Ich hatte wirklich nicht den blassesten Schimmer, wo wir waren. Ich wusste von keinem Gebirge in der Nähe.
Uriel fuhr mit der Hand am Fels entlang. Er verschwamm, wo Uriels Hand ihn berührte, wurde durchsichtig und löste sich schließlich ganz auf. Dahinter lag ein finsterer Tunnel. Uriel machte uns ein Zeichen, dass wir ihm hindurch folgen sollten. Meine Angst war purer Neugier und Aufregung gewichen. Ich zögerte nicht. Auch die Anderen folgten eilig.

Wir befanden uns noch innerhalb des Berges, um uns herum streckten sich zerklüftete Felswände in die Höhe. Aber der Ort glich eher einem Kessel, denn zum Himmel hin war er geöffnet und ließ einer herrlichen Sternendecke Einblick. Lichte Baumbewachsung umgab uns und in der Mitte des Kessels konnte ich die Umrisse eines großen Holzhauses mit mehreren Stockwerken ausmachen.
Uriel marschierte direkt darauf zu, und wir hintendrein.
„Seit zwei Monaten ungefähr wohne ich wieder hier. Schert euch nicht um die Unordnung und den Dreck. Ich komme nicht dazu, das Haus auf Vordermann zu bringen.“
In der Dunkelheit bekamen wir sowieso nicht viel mit vom Dreck.
„Willst du nicht den Kamin anmachen, damit wir es etwas gemütlicher und wärmer haben?“
Ich war dankbar für Raffaels Vorschlag. Uriel schien die Kälte nicht zu spüren, aber wir Anderen zitterten. Statt zur Tat zu schreiten, sah Uriel Raffael lange und forschend an. Ich weiß, er sagte nichts, weil wir da waren. Dann schichtete er das Holz im Kamin und ließ ein Feuer auflodern.
Es gab warme Decken im Haus, die Böden waren mit Teppichen und Fellen ausgelegt und die Fenster gut isoliert. Es dauerte nicht lange, bis wir es wohlig warm hatten. Jetzt war ich gespannt zu hören, welche Rolle Uriel in der Geschicht spielte.
Er sah nicht unbedingt aus, wie die Engel, die meine Mutter in ihren Geschichten beschrieben hatte. Zwar war er groß und athletisch, hellhaarig und hellhäutig, aber die ganze Zeit über trug er einen grimmigen, verschlossenen Gesichtsausdruck. Er war wohl auch nur ein Mensch, mit seinem Groll, seiner Verletzbarkeit und seinem Stolz.
Während wir uns am Feuer wärmten, saß er da und starrte aus dem Fenster, als wüsste er nicht, dass wir Erklärungen von ihm erwarteten.
„Was hast du die zwei Monate gemacht, die du schon hier bist?“, fragte meine Mutter. „Erst taucht aus dem Nichts Raffael auf, dann kommt eine völlig unerwartete Nachricht von dir... Das kann doch kein Zufall sein.“
„Nein“, sagte Uriel. Er sah Raffael misstrauisch an. „Ich vermute, wir haben den gleichen Grund dich aufzusuchen, Loreley.“
„Dann weißt du auch von dem fehlenden Blatt? Woher? Jetzt bezweifelst du wohl nicht länger die Existenz des Buches!“
Uriel schüttelte den Kopf. „Ich habe seine Existenz nie bezweifelt. Nur war ich immer der Überzeugung, dass man sich besser alleine nach ihm auf die Suche machen sollte.“
„So ist das also. Davon hast du aber nie etwas verlauten lassen.“ Raffael blitzte Uriel an. Ich spürte, wie alte Wunden aufrissen.
„Wir waren jung. Ich habe mich nicht getraut gegen dich zu sprechen. Bis jetzt.“
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?“
„Du hast falsch gegen Lilith geurteilt.“
„Möglich! Aber wie du sagst: Wir waren jung und haben Fehler gemacht.“

„Hast du nun das fehlende Blatt, Loreley?“ Uriel wandte sich an meine Mutter und ignorierte Raffael.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber es muss einen Grund geben, weshalb eure beiden Spuren zu mir führen.“
„Oder in dein Haus“, korrigierte Raffael. „Das ist, was ich vermute.“
Die Rede von dem fehlenden Blatt, das sich möglicherweise in unserem Haus befand, ließ mich an unsere Bibliothek denken. Ich hatte im Laufe meines Lebens fast alle Bücher mindestens einmal in der Hand gehabt. Mir schien, ein Blatt ließe sich am besten in einem anderen Buch verstecken. Vermutlich waren dies auch die Gedanken von Raffael und Uriel gewesen.
„Aber weshalb, Raffael, suchst du so dringend nach dem Blatt, wenn du die roten Dächer doch schon gefunden hast?“
Raffael seufzte. „Ja, ich war da. Aber ich bin nicht bewusst dorthin gelangt. Mir ist es ähnlich wie Simon von Stroturing, dem Autor des Buches, bei seinem ersten Besuch ergangen. Mir fehlt ein Stück Erinnerung, beziehungsweise ist die Erinnerung sehr verschwommen und bizarr. Mir ist als erinnerte ich mich an einen Traum, wenn ich versuche den Weg zu den Dächern zurückzuverfolgen.
Aber Simon von Stroturing ist ein zweites Mal den Weg zu den Dächern gegangen. Und bei diesem zweiten Mal war er vollkommen anwesend. Er hat den präzisen Weg oder den Zauber oder was auch immer das Geheimnis ist, auf diesem fehlenden Blatt niedergeschrieben und es lose in das Buch gelegt. Ich weiß nicht, ob absichtlicherweise oder törichterweise. Jedenfalls war vorauszusehen, dass es recht bald verschwindet.
Von Stroturing hatte keine sehr guten deskriptiven Fähigkeiten. Das ganze Buch wirkt mehr wie eine Erzählung, er hatte Spaß daran die Ereignisse und Fakten zu verzerren oder ganz wegzulassen, was ihm zu langweilig erschien. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Buch befasst, ich glaube mehr als alle anderen, die es bisher gelesen haben. Und mittlerweile bin ich der Meinung, dass von Stroturing absichtlich das Buch wie ein Märchen gehalten hat. Aber diese fehlende Seite. Ich habe gehört, dass sie sehr gegen von Stroturings Gewohnheit geschrieben ist. Er hat mehrere Monate gebraucht um diese wichtigen Informationen exakt und kurz auf dieses eine Blatt zu zwängen. Der Mann, der mir dies erzählte, ein tibetanischer Mönch, war in dem Besitz des Blattes gewesen und hatte aufgrund seines Informationsgehalts den Weg zu den Dächern eigenständig und ohne Umwege gefunden. Er wollte mir aber nicht sagen, was Blatt und Buch miteinander verbindet. Denn man benötigt beide um den Weg tatsächlich zu finden.“
Uriel nickte. „So habe ich es auch erfahren. Durch Zufall, ich hatte die Suche nach dem Buch längst aufgegeben, kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ebenfalls im Besitz des Blattes gewesen war. Sie allerdings hatte es nicht zu den Dächern geschafft, da ihr das Buch fehlte. Sie bereute es tagtäglich keine Kopie von dem Blatt gemacht zu haben. Dieses Phänomen ist bisher immer aufgetreten: Diejenigen, die im Besitz des Buches oder des fehlenden Blattes gewesen waren, haben seine Bedeutung unterschätzt oder nicht damit gerechnet es jemals wieder zu verlieren. Aber jeder bereute bitterlich, wenn es erst einmal weg war, kein Duplikat davon gefertigt zu haben.“ Uriel wandte sich an Raffael. „Was ist mit dir? Hast du eine Kopie?“
Raffael schüttelte den Kopf.
„Zurück zum Thema“, sagte meine Mutter. „Denn es beunruhigt mich immer mehr, dass die Fäden in mein Haus laufen und ich nicht weiß, weshalb. Könnt ihr endlich sagen, was euch auf meine Spur gebracht hat?“
„Im Grunde war es jemand von unserer alten Gruppe.“ Raffael lächelte gequält. Vieles wirkte gequält an ihm. Nicht seiner Verletzung wegen. Er wirkte seelisch gequält. Und es lag nicht an dem Blatt, das er suchte. Er suchte noch etwas Anderes, etwas viel Geheimeres.
Ich hatte ein Gespür für die Dinge, welche die Seelen der Menschen um mich herum bewegten.
„Jemand, der dich in der Anfangszeit sehr oft besucht hat. Jemand, der oft auf deinen Festen war. Dieser Jemand hat gesagt, das Blatt befinde sich in deinem Besitz.“
„Das muss ein Irrtum sein. Kannst du nicht konkreter werden?“
„Ich weiß nicht, ob du willst, dass deine Kinder den Namen hören.“
„Nein, das will ich nicht.“ Meine Mutter sah uns an. „Ich möchte nicht, dass ihr noch tiefer hineingezogen werdet. Diese Querelen hätten längst vorbei sein müssen. Ich habe Angst, dass euch zu viel Wissen schadet.“
Ich nickte stumm, nahm Minou bei der Hand und verschwand ohne ein Wort. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schlafzimmer. In mir brodelte es, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter. Ich war fest entschlossen meine Nachforschungen auf eigene Faust weiterzuführen. Sollte meine Mutter doch glauben, mich interessiere das alles nicht.

Mitten aus dem Schlaf wurde ich gerissen. Es dauerte, bis ich wusste, wo ich war. Dann lauschte ich nach der Ursache, die mich geweckt hatte. Uriel und Raffael stritten vor dem Haus, direkt unter meinem Fenster.
„Du hast nicht nur die Gruppe auseinander gebracht, sondern auch meine Freundschaft skrupellos verraten.“
„Ich war dir nie zu etwas verpflichtet, Uriel. Es war Liliths freie Entscheidung. Wäre ich es nicht gewesen, wäre es ein Anderer gewesen. Du kennst Lilith und eigentlich solltest du wissen, dass sie nie so zu dir gestanden hat wie du zu ihr.“
„Was maßt du dich an über Liliths und meine Beziehung zu urteilen? Wie kannst du ohne Scham ihren Namen in den Mund nehmen, nachdem du sie erst verstoßen und dann verführt hast?“
Raffael lachte bitter auf. „Wir beide wissen sehr genau, dass Lilith nicht die Person ist, die sich verführen lässt.“
„Du hast sie mit Worten umschmeichelt, wie du es immer getan hast. Wie du es bei uns getan hast. Wir sind dir gefolgt, geblendet von deiner Begeisterung für das Buch, das du eifersüchtig vor uns versteckt hast, auf das wir kaum einen Blick werfen durften. Und trotzdem sollten wir deine Leidenschaft teilen, den Schlüssel zum Ruhm darin sehen. Zu deinem Ruhm. Konntest du Lilith damit verführen? Hast du dich mit deinem Erfolg gebrüstet die Dächer gefunden zu haben?“
„Sie wollte alles erfahren, alle Geheimnisse, die der Ort birgt. Sie sagte, sie würde alles dafür tun...“
Ich hörte ein kräftiges Rauschen und Schlagen. Einen Moment dachte ich, Uriel wäre auf Raffael losgegangen, aber dann sah ich etwas Weißes in den Himmel steigen. Uriel flog davon.

***​

„Damit du endlich weiterkommst, werde ich dir verraten, wo sich das fehlende Blatt befindet“, schnurrte die Katze. Sie hockte auf dem Fensterbrett und beobachtete mein Treiben. „Es befindet sich tatsächlich in diesem Haus. Zumindest eine Abschrift davon.“
„Warum bist du nicht schon vorher damit rausgerückt?“, fragte ich verärgert.
„Ich musste dir doch eine Chance lassen. Und bisher hast du dich wacker geschlagen. Aber wir wollen die Dinge ein wenig beschleunigen, nicht wahr?“ Sie blinzelte.
Sie hatte meine volle Aufmerksamkeit.
„Suche wieder in der Truhe deiner Mutter. Dort wirst du ein handgebundenes Manuskript finden, das nie veröffentlicht wurde. Der Autor hat die fehlende Seite, eitel wie er war, in seine Geschichte integriert. Deine Mutter sollte das Manuskript lesen und lektorieren. Und dann wieder zurückschicken. Sie hat es aber nie getan. Die Götter wissen, wieso.“ Sie blinzelte wieder. Die Katze hatte eine angenehm schnurrende Stimme. Fast lullte sie mich ein in ihre Erzählung.
„Nun lauf schon, Jascha. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Ich lief. Doch vor der Schlafzimmertür meiner Mutter kam ich zu einem abrupten Halt. Sie war verschlossen. Vorsichtig legte ich ein Ohr an die Tür. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt ein Spion im eigenen Hause zu sein. Nichts war zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter und Raffael weggegangen waren.
Kurz entschlossen klopfte ich. Als nichts geschah, drückte ich die Klinke herunter. Das Zimmer war leer. Mein Herz klopfte und nun überkam mich doch das schlechte Gewissen. Das Schlafzimmer trug den unverkennbaren Duft meiner Mutter. Der Duft, der mich durch die Kindheit begleitet hatte, in dem ich mich geborgen fühlte, der mir so viel Liebe entgegen brachte.
Ich schluckte und versprach mir, meiner Mutter alles zu erzählen, wenn der Zeitpunkt kam.
Dann flitzte ich zur Truhe und wühlte bis in die Tiefe, bis ich das Manuskript fühlte. Es war provisorisch gelocht und mit einer Schnur zusammen gebunden und handgeschrieben. Nicht die Arbeit eines professionellen Schriftstellers.
Ich machte, dass ich aus dem Zimmer kam, nicht ohne vorher die Spuren meines Eindringens zu verwischen.
Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa und die Katze kam an meine Seite gesprungen. Ich betrachtete das Manuskript und mein Herz sank. Es war auf Italienisch geschrieben. Von einer Sofia Arcangiolo.
Ich stutzte. Und überlegte, warum ich stutzte. Dann traf es mich wie der Blitz. Sophie Mirabeau im Arcangeli-Verlag und Sofia Arcangiolo.
„Es sind dieselben, nicht wahr, Katze? Nur welche ist die Echte?“
„Sieh sich einer den Titel an“, sagte die Katze. „Wie anmaßend ihr Menschen doch sein könnt.“
„Du kannst es verstehen?“
„Angeli argenti in cieli azzurri. Silberne Engel in blauen Himmeln.“
Ich lachte. „Die Anspielung ist offensichtlich. Aber wie soll ich diese bestimmte Seite finden, wenn ich kein Wort verstehe?“ Meine Stimmung verdüsterte sich schlagartig.
„Lass es mich lesen.“
Ich zögerte. Dann kam mir eine bessere Idee. „Nichts für ungut, Katze, aber ich kenne jemanden, der Italienisch kann. Wenn ich das Manuskript irgendwo hier liegen lasse, muss ich befürchten, dass Raffael oder meine Mutter es finden.“
„Dann will ich dir dennoch mehr zu der Autorin sagen. Schließlich war ich immer in der Nähe, wenn Sofia zu Besuch kam. Und da niemand einer Katze Beachtung schenkt, auch wenn es um intime Gespräche geht, habe ich interessante Dinge erfahren. Hör zu, Jascha.“
Ich hörte gierig zu. Und machte eine mentale Notiz, der Katze ein prächtiges Wurstbrot zu geben.
„Sofia Arcangiolo ist ihr richtiger Name. Sie hat sich als Autorin das Pseudonym Sophie Mirabeau zugelegt, weil sie Angst hatte von Gestalten ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden.“
„So wie alle Personen um meine Mutter herum Angst vor der Vergangenheit haben“, sagte ich.
„Und mit Recht. Diese Gruppe von Freunden hat eine Menge angerichtet in jungen Jahren und viel entdeckt, was hätte unentdeckt bleiben müssen.
Aber nun zu Sofia. Ihre Schwester, Aemilia, lebt unter dem Decknamen Amélie Mirabeau. Sie kennst du auch. Die wichtigere Person ist aber Sofia. Seit jeher hat sie geschrieben und Geschichten erzählt. Deine Mutter hat viel über Märchen von Sofia gelernt, sie war immer ihre begeistertste Zuhörerin.
Nun, eines Tages kamen Sofia und Aemilia zu einem unserer Feste mit Sorgen auf der Seele. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und hielt meine Ohren den Tag über in Hörweite der Schwestern. Irgendwann setzten sie sich mit deiner Mutter in den Garten und ich folgte ihnen. Was ich hörte, war haarsträubend, aber soweit ich es beurteilen kann, die Wahrheit. Sofia sagte, seit einiger Zeit bewahrheiteten sich ihre Geschichten. Sie hatte einen Roman geschrieben, der in Nîmes spielte. Der Stadt, in der sie mit Aemilia lebt. Aemilia hatte das Buch ebenfalls gelesen und konnte bestätigen, was Sofia so eigenartig aufgefallen war: In Nîmes lief jede einzelne Gestalt aus Sofias Romanen herum. Zunächst waren es äußerliche Übereinstimmungen, die sie stutzen ließen. Beispielsweise lief ihnen eines Tages ein Ehepaar über den Weg, das exakt der Beschreibung in Sofias Roman entsprach. Am selben Tag, erzählten sie, speisten sie in einem Restaurant, in dem sie auf einen jungen Mann aufmerksam wurden, der auffällig gekleidet war und ein erregtes Gespräch am Handy führte. Nicht nur die Tatsache, dass ein exzentrischer junger Mann eines Abends in einem Restaurant am Handy mit seinem Bruder stritt, wirkte wie die ins Leben gerufene Restaurantszene aus Sofias Roman, auch die Worte am Telefon waren die gleichen. Sofia konnte sie mitsprechen.
Nach dieser erschreckenden Erfahrung fassten die Schwestern den Entschluss in ein portugiesisches Städtchen zu fahren, in dem ein weiterer, kürzlich erschienener Roman Sofias spielte. Dort erlebten sie das gleiche schauerliche Schauspiel. Sie lasen in der Zeitung von dem Mord an einer gewissen Filipa Peres. Sowohl der Name der Toten als auch Ort, Zeit und Hergang des Mordes stimmten überein. Sofia gab der Polizei einen anonymen Hinweis auf den Mörder. Überflüssig zu sagen, dass sie ins Schwarze traf. Der springende Punkt ist allerdings, dass Sofia später auffiel, dass in ihrem Roman die Polizei ebenfalls den Hinweis auf den Mörder von einer anonymen Person erhalten hatte. Und dass Sofia, als sie den Roman geschrieben hatte, sich nie Gedanken gemacht hatte, wer diese Person war.“ Die Katze machte eine Pause.
Ich spürte, wie käseweiß ich war. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Meine Stimme war heiser.
„Keineswegs. Und dein Schreck ist nichts gegen den Schreck, den Sofia und Aemilia davontrugen, mein Lieber. Sie erzählten die Entdeckung deiner Mutter, weil sie niemand Anderem vertrauen konnten. Aber wie hätte deine Mutter ihnen helfen sollen? Den einzigen Rat, den sie Sofia geben konnte, war aufhören zu schreiben. Ein weiser Rat. Aber das wäre so, als wollte man Sofia den Sinn ihres Leben rauben.“
„Und dann fiel Sofia das fehlende Blatt in die Hände. Und sie schrieb dieses Buch, das meine Mutter nie gelesen hat, weil sie Angst vor dem Inhalt hatte. Das habe ich jetzt auch! Meine Herren, ganz schön makaber von Sofia so etwas zu tun! Warum hat sie es meiner Mutter gegeben?“
Die Katze zuckte mit den Ohren. „Das weiß ich nicht. Es fehlt ein Stück in dieser Geschichte. Jetzt liegt es an dir, weiterzuforschen.“
Ich schwieg beklommen.
„Sag nicht, dass du kalte Füße bekommen hast. Jemand muss das Gewirr auflösen.“
„Warum bist eigentlich du so erpicht darauf die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. „Das wiederum ist mein Geheimnis.“
 

Greenlia

Mitglied
Dies ist der Anfang einer Geschichte. Mit einigen Stellen bin ich noch nicht ganz zufrieden, aber bisher, im Ganzen gesehen, enttäuscht sie micht nicht:


Ich saß am Fenster und es regnete. Es war Januar und obwohl erst früh am Nachmittag schon stockdunkel. Die Regenwolken verdunkelten das Wenige an hellem Himmel und schafften eine triste Stimmung. Noch trister als sie ohnehin war.
Ich gähnte und stierte in die Dunkelheit. Meine Langweile grenzte schon an Depression.
Die Fensterbank war groß und breit, es lagen Kissen darauf und die Katze. Das einzige Lebewesen, das der Jahreszeit wohliges Schnurren entgegnete. Ich kraulte das getigerte Fell, packte ihren Kopf und sprach zu ihr. Ich hatte mich immer schon als Katzenversteher gesehen, keine Ahnung, ob es stimmte, aber die Katzen mochten mich. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Mühe gab mit ihnen, dass ich mit ihnen redete, wie mit Menschen. Oder wahrscheinlich besser als mit Menschen.

Nun, der Tag hätte keine weitere Bedeutung und ich würde ihn auch nicht erwähnen, wenn er nicht der Auftakt zu einer merkwürdigen Reihe von Ereignissen und Abenteuern geworden wäre.
Er ließ sich Zeit der Tag, kroch dumpf durch den eisernen Morgen, den feuchten Mittag, den Regen am Nachmittag, um dann am Abend aus der Lethargie zu brechen. Und das in einem gewaltigen Szenario.
Ich saß da, kraulte die Katze, dachte an den vergangenen Sommer und den kommenden. Meine Gedanken verketteten sich, blieben an Erinnerungen hängen, Bier und Bücher, Mädchen und warme Nächte.
Es war nach zehn, als es klingelte.
Der Ton war lange vorbei. Ich suchte nach der Erklärung, die mich aus den Gedanken gerissen hatte, als es wieder klingelte, diesmal eindringlicher.
Das Einzige, was mich trieb, nach der Tür zu sehen, war Neugier. Ich hatte nicht die geringste Lust auf Menschen. Vor allem nicht um diese Uhrzeit.
Die Katze kam wie selbstverständlich hinter mir her marschiert. Ich kannte keine Katze, die ihr Heim besser hütete als unsere. Sie scharwenzelte um meine Beine, als ich die Tür aufzog, und machte Geräusche.
Eine triefnasse, stinkende Gestalt stolperte in den Flur, keuchte etwas und stürzte fast zu Boden. Gegen meinen Willen packte ich sie im letzten Moment und sie fiel mir schwer in die Arme.
Die Katze maunzte und freute sich über das Spektakel, ich rief: „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ und wusste weder ein noch aus. Warum hörte meine Mutter nicht?
Da bemerkte ich, dass meine Hände warm wurden und rot. Die Person blutete, und nicht wenig. Und plötzlich war mein Hirn wieder klar. Ich wusste, was zu tun war. Binnen kürzester Zeit hatte ich die Person ihrer nassen Kleidung entledigt, die Wunde ausfindig gemacht und so gut es ging, versorgt. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so etwas konnte. Das Leben ist zu voll von tristen Januartagen, die einem die eigenen Fähigkeiten lähmen.
Ich wusste immer noch nicht, wer nun auf unserem Sofa lag und warum.
Ich schickte die Katze nach oben, um meine Mutter und meine Schwester zu holen.
Meine Schwester kam heruntergetrampelt, die Haare zerzaust und die Augen klein von Schlaf. Aber glitzernd vor Neugier. Meine Mutter kam langsamer und würdevoller nach. Ich glaube aber heute, es war Angst. Denn als sie die geschlagene Gestalt sah, verdüsterte sie sich kurz, als hätte sie eine Vorahnung gehabt.
Niemand sprach. Dieser Moment, als alle im Wohnzimmer standen, nichts sagten, sich anschauten und erkannten, dass sich etwas verändern würde, wird mir lebendig wie keine andere Erinnerung im Gedächtnis bleiben.
Meine Mutter stand wie vom Donner gerührt. Erst als meine Schwester laut fragte: „Wer sind Sie?“, fand sie zu sich. Als wären wir nicht da, kniete sie sich vor das Sofa und griff nach der Hand des Fremden. Leicht schüttelte sie den Kopf, immer wieder, und ich glaube, sie weinte.
„Ich habe sie gefunden, die roten Dächer“, sagte der Fremde.
Ich wusste nicht, worum es hier ging, was für verdammte Dächer er meinte. Aber es sprach ein Triumph aus seinen Worten, dass seine Verletzungen es wohl wert gewesen waren.
„Die roten Dächer, Loreley. Ich habe sie gefunden!“

Ich weiß auch nicht mehr, wie lange wir noch saßen und langsam der Geschichte auf die Schliche kamen, die der Fremde mit sich brachte. Ich kann nur sagen, dass ich mich auf eine Weise unwohl fühlte, als ahnte ich Schwierigkeiten. Aber der Abend und der Fremde waren zu bizarr und fantastisch, als dass ich mich ihnen hätte entziehen können. Wann wir endlich schlafen gingen oder ob wir saßen und lauschten, bis der graue Morgen graute, kann ich nicht sagen. Die nächsten Tage verliefen ohne Anfang und Ende, Tag und Nacht verschwammen unter der Präsenz des Fremden und seiner Geschichte. Die bald auch die unsere werden würde.

Seit ich mich erinnern kann und noch früher, hatten meine Mutter und ich immer in dem Haus mit dem großen, überwuchernden Garten gelebt. Die Katze war auch immer da gewesen. Sie erschien auch auf verblichenen Kinderfotos meiner Mutter. Irgendwann lernte ich, dass Katzen nicht wirklich sieben Leben haben. Aber mit den Jahren hörte ich auf, mich zu fragen, warum unsere Katze eine Ausnahme war.
Wir hatten oft Besuch von verschiedenen Leuten, die alle von weit her zu kommen schienen. Sie alle kannten meine Mutter gut und es war immer eine Freude, denn sie brachten mir Geschenke, und ich sah, dass meine Mutter mit ihnen glücklich war. Sie kamen immer in Scharen. Dann wurde es laut im Haus und es gab reichlich zu essen und zu trinken. Wenn eine solche Gesellschaft bevorstand, machten meine Mutter und ich einen großen Einkaufszettel und sammelten Ideen, wie wir das Haus dekorieren und uns verkleiden wollten. Dann verkleideten wir uns und gingen als Seeräuber die große Einkaufsliste erledigen.
Mit den Leuten aus der Umgebung hatte meine Mutter nie zu tun. Wir waren die Einzigen im Viertel, die ein solches Haus mit einem solchen Garten inmitten der Ansammlung von Hoch- und Mehrfamilienhäusern besaßen. Ich vermutete, dass die Nachbarn einfach neidisch waren. Ich hingegen hatte viele Freunde in der Schule. Viele waren mit mir befreundet, weil sie gerne in unser Haus kamen. Aber das machte nichts. Es war ein besonderes Haus, man konnte herrlich darin spielen, und ich war stolz darauf.
Eines Tages, als ich noch ein Kind war, kam meine Mutter zu mir in den Garten, setzte mich auf ihren Schoß und erzählte mir ein Märchen. Meine Schwester war damals noch nicht geboren und ich liebte meine Mutter, dass es schmerzte. Ich war überzeugt, dass sie ich war und ich sie. Dass wir eine aufgesplitterte Seele waren. Ich brauchte keine Miene zu verziehen, sie wusste immer, was mit mir los war. Sie war ein Engel, dachte ich, eine Fee oder eine Prinzessin. Ich wusste keinen Unterschied, denn die Engel und Feen und Prinzessinnen in den Märchen, die meine Mutter mir erzählte, spiegelten sich alle in ihr.
Dieses Märchen war das letzte, das sie mir je erzählte, und entgegen aller anderen Märchen hatte es ein trauriges Ende. Ich war nicht zufrieden damit und sagte es meiner Mutter.
Sie strich mir über den Kopf und meinte, ich solle mich daran gewöhnen. „Außerdem ist nicht gesagt, ob dies das Ende ist. Auch wenn meine Märchen ein Ende haben, die Personen darin leben doch weiter, oder? Und sie erleben noch mehr Abenteuer. Und vielleicht sterben sie im nächsten oder übernächsten.“
Ich war irritiert, dass sie mein Konzept der Märchenwelt so aus den Fugen riss, und beleidigt. Ich war ein verwöhntes Kind und vermutlich war es der Versuch meiner Mutter gewesen, mich an die Realität heranzuführen.
Ein paar Monate später kam meine Schwester zur Welt und mit ihr ging eine zweite Sonne in meinem Leben auf. Ich merkte, wie es meiner Mutter eine unendliche Erleichterung war, dass ich meine Schwester so sehr liebte. Und für sie brach ein zweiter Frühling an. Es war die schönste Zeit, die wir zu dritt hatten.

Das ging mir durch den Kopf, als ich voller Gedanken in mein Bett kroch. Vor meinem Fenster fuhren bereits die ersten Leute zur Arbeit. Ich war gerädert und hatte keine Lust zu denken. Nicht jetzt, da ich die ganze Nacht damit verbracht hatte, mein Hirn arbeiten zu lassen, Bruchstücke von Erinnerungen aufblitzen zu sehen, Verbindungen zu erkennen und neue Fragen zu finden.
Meine Schwester kam zu mir und kroch zu mir ins Bett. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Irgendwann hatte sie gesagt: „Ich bin zu groß dafür!“ und hatte sich mit ihrem Kuscheltier ins Bett geschmissen. Sie hatte die ganze Zeit, die wir im Wohnzimmer gesessen hatten, kein Wort gesagt, und ich dachte, sie würde jetzt ihr Schweigen brechen. Aber ihr Lockenkopf bürstete nur über mein Gesicht, während sie sich drehte, und Sekunden später schlief sie. Angesteckt von ihrer Erschöpfung ließ auch ich mich ins Nichts fallen.

Als ich erwachte, lag ich auf dem Boden und alles schmerzte. Ich schaute auf, sah meine Schwester, alle Viere von sich gestreckt, in meinem zerknüllten Bett liegen. Selig schlafend.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachmittags. Ich schlich in die Küche, um etwas Sinnvolles zu tun. Meine Mutter war nicht da und auch der Fremde auf dem Sofa war verschwunden. Ich schaute im Wohnzimmer umher, misstrauisch, und ein Wurstbrot balancierend. Die Katze lauerte. Der Fremde hatte seinen Rucksack dagelassen. Wie selbstverständlich wanderte meine Hand hinein und wühlte. Ich zog ein Buch hervor, in Leder geschlagen. Von goldenen Eulen auf roten Dächern hieß es.

Vielleicht wäre hier der richtige Zeitpunkt zu erzählen, was ich die vorherige Nacht erfahren hatte.
Die Verletzungen des Fremden waren weniger groß als die unendliche Erschöpfung, mit der uns begrüßt hatte. Er schlief erschöpft ein auf dem Sofa, während meine Mutter Tee und ich Nudeln kochte. Ich bereitete uns instinktiv auf eine lange Nacht vor.
„Mama“, sagte ich irgendwann, als wir wieder nur da saßen, über unserem Tee brüteten und schwiegen, „erzähl.“
Meine Mutter blickte in ihre Tasse, Dampf stieg ihr ins Gesicht. Sie lächelte, sah uns an. Ihr Lächeln war warm und breit.
„Wisst ihr, Kinder, es ist sehr schön, dass er endlich gekommen ist.“ Sie nahm meine Schwester in den Arm, die den Fremden anstarrte und die Worte unserer Mutter gar nicht zu hören schien.
„Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Damals, als du noch nicht geboren warst, mein Sohn, waren wir gute Freunde. Ich lebte ganz woanders. Dein Vater war auch dabei und andere Leute, an die ich mich mit viel Liebe erinnere. Wir waren eine besondere Gruppe und wir haben Abenteuer erlebt.“ Sie lächelte diesmal nur mich an. „Solche Abenteuer, wie ich sie dir erzählte, als du klein warst.“
Mit Feen und sprechenden Tieren, dachte ich.
„Eines Tages fiel Raffael ein Buch in die Hände. Das ist Raffael“, sagte sie und drehte ihren Kopf zum Sofa. „Es hieß Von silbernen Katzen auf blauen Dächern. Er hatte es immer verstanden Kuriositäten aus aller Welt zu erstehen, keiner wusste, wie er es anstellte. Er war immer der seltsamste Vogel unserer Gruppe und wahrscheinlich der Kern, der uns zusammenhielt. Kurz gesagt, er las das Buch und etwas geschah danach mit ihm. Er sprach nur noch von den blauen Dächern und davon, dass er sie finden müsse, dass er nicht eher ruhen werde, bis er sie gefunden habe, koste es, was es wolle. Anfangs waren wir alle eifrig bei der Sache, wir forschten uns durch die Bücherwelt nach Anhaltspunkten, machten uns auf die Suche nach den verrücktesten Menschen in den verwinkeltesten Gegenden, nur weil wir eine winzige Information dort vermuteten. Oh, wir erlebten eine spannende Zeit. Aber nach einem Jahr der erfolglosen Suche, dachte jeder, was keiner auszusprechen wagte: dass die mysteriösen blauen Dächer nicht existierten. Es kam, wie es kommen musste. Ein Streit brach aus, und Raffael fühlte sich betrogen, weil keiner mehr hinter dem Projekt stand. Er verließ uns, und unsere Gruppe brach vollständig auseinander, denn nun hatten wir keine Mission mehr. Wir konnten nicht zurück in unser Leben, wie es vorher gewesen war. Ich hatte nur deinen Vater, mein Sohn, und unsere Liebe. Wir zogen in dieses Haus, das Haus deiner Großtante. Bald kamst du. Und bald darauf waren nur noch wir zwei hier.“
Den letzten Teil kannte ich schon. Und da meine Mutter näheren Erklärungen, was es mit meinem Vater auf sich hatte, immer wieder kunstvoll auswich, fragte ich nie. Mittlerweile war es mir egal.
„Es gab eine Zeit, da ich mich sehr einsam fühlte in dem großen Haus. Da begann ich Raffael lange Briefe zu schreiben und sie ins Nirgendwo zu schicken. Ich kannte ja weder eine Adresse, noch wusste ich in welcher Stadt er sich befand. Umso erstaunter war ich, als ich eines Tages Antwort bekam.“
Ich setzte mich gerader hin. Der Tonfall meiner Mutter hatte sich verändert.
„Der Umschlag und das Papier wirkten, als wären sie lange gereist. Der Poststempel und die Briefmarke waren verblichen, ich konnte nicht erkennen, woher er kam. Ein Absender stand natürlich nicht darauf. Aber an der Art, wie mein Name auf dem Umschlag stand, wusste ich sofort: Es war Raffael. Die Nachricht war sehr kurz. Wartet, ich suche sie.“ Meine Mutter schob meine Schwester zur Seite, die mit halb geschlossenen Augen in ihren Armen eingedöst war.

„Loreley hat etwas verschwiegen.“
Ich wandte den Kopf, ein Augenpaar glitzerte vom Sofa herüber. Ich hatte nicht gemerkt, dass Raffael aufgewacht war. „Kann ich welche von den Nudeln haben?“
„Was meinst du?“, fragte ich ihn, reichte ihm einen Teller mit dampfenden Nudeln in Soße.
„Unser Streit. Er ging nicht in harmlosen Wortgefechten zuende. Es kam zu Handgreiflichkeiten und einer von uns starb.“ Nudeln wurden geräuschvoll von der Gabel gezogen. Raffael schob sich eine Handvoll nach der anderen hinein, Soße tropfte ihm vom Kinn. Er hatte offensichtlich lange nichts mehr gegessen.
„Was geschah dann?“, unterbrach ich sein Mahl.
„Arthur kam durch Liliths Hand um. Lilith floh, erschreckt von dem, was sie getan hatte und die Rache von Arthurs Bruder fürchtend. Deinem Vater.“
„Wer war mein Vater?“
„Das reicht.“ Meine Mutter war dunkel im Türrahmen erschienen. „Du bist nicht hergekommen, um unsere Vergangenheit aufzuwühlen.“
Raffael ließ sich erschöpft zurück sinken. Ich nahm seinen Teller, bevor er zu Boden fiel. So nah dran war ich gewesen. Ich würde meine Chance noch bekommen, dachte ich. Aber ich unterschätzte die Wirkung, die ein Befehl meiner Mutter auf Raffael hatte.
„Hast du den Brief gefunden, Mama?“
Plötzlich wurde sie scheu. „Hier habe ich ihn. Aber... Ich wusste nicht, dass du wieder wach bist, Raffael. Vielleicht erklärst du endlich, unter welchen Umständen du diesen Brief geschrieben hast.“
Ich nahm meiner Mutter den Brief aus der Hand und zog andächtig das Papier heraus. Es war klein und verblichen, wellig, als wäre es einmal nass geworden, und auch die Tinte verschwommen. Meine Schwester kam näher gekrochen und ich las ihr vor:


52. 3. '87​
Loreley, Loreley –

ich trage jeden deiner Briefe an meinem Herzen. Und ich werde in dein Haus kommen, das verspreche ich, irgendwann. Dann hat hoffentlich alles ein Ende, was mich zur Zeit quält.

R.


„Das ist tatsächlich ein kurzer Brief. Und das Datum ist seltsam“, sagte ich.
„Ich glaube aber, es stimmt.“ Meine Mutter sah Raffael aus dem Augenwinkel an. Er nickte schwer. „Das Datum ist seltsam, weil es eine seltsame Zeit war. Ich war sechs Monate im Himalaya und eigentlich war es ein ganzes Jahr. Dort bin ich endlich, endlich auf eine brauchbare Spur der roten Dächer gekommen.“
„Seit wann waren die blauen Dächer aus dem Buch rote Dächer?“, fragte ich.
„Das habe ich im Himalaya gelernt. Das erste Buch war eine Fälschung. Dort fand ich das Original. Ich hatte die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt. Und dort im Himalaya erzählte man mir die Geschichte des Buches, dessen Fälschung fast genauso berühmt geworden war.“
Plötzlich sackte Raffael müde zusammen und stieß einen Seufzer aus. Er verzog das Gesicht und ich erinnerte mich, dass er ernsthaft verletzt war.
„Ich hätte nicht so viel essen sollen“, sagte er. „Ich muss schlafen.“ Er schloss die Augen. „Verzeiht mir, dass ich so reingeplatzt bin.“
Meine Mutter strich sanft über Raffaels Arm. „Du bist willkommen. Ich schlafe hier bei dir. Falls du etwas brauchst.“
Ich nahm meine Schwester, die eingerollt auf dem Teppich lag, huckepack und ging nach oben. Meine Glieder waren bleischwer, aber mein Kopf fand keine Ruhe. Ich wollte mehr erfahren, alles.

Später am Nachmittag, als ich wach geworden war, hatte ich also das Buch Von goldenen Eulen auf roten Dächern gefunden. Entweder war Raffael sehr leichtsinnig seinen Schatz so unbeaufsichtigt zu lassen oder er vertraute uns sehr. Ich vermutete das Letztere. Ein Mann, der so viel erlebt hatte, hatte mit Sicherheit auch ein gesundes Misstrauen gegen die Welt.
Das war also das Original. Ich leugne nicht, dass mein Puls schneller ging, als ich es aufschlug. Die Seiten waren hart und fast brüchig, aber die Worte leuchteten als wären sie erst gestern niedergeschrieben worden. Es hatte keine besondere Aufmachung, das Buch, dessen Autor sich Simon von Stroturing nannte. Alles war mit Hand geschrieben, schlicht und ordentlich gehalten. Keine Verschnörkelungen oder irgendein Hinweis, dass es sich bei dem Buch um eine Kostbarkeit handelte. Was mich stutzen ließ, waren die vielen Randbemerkungen, die von verschiedenen Personen stammten. Sie trugen immer eine andere Signatur, bezogen sich aufeinander und waren so zahlreich, dass sie fast den Wortgehalt des Buches verdoppelten. Es waren Zusatzinformationen und Korrekturen an dem eigentlichen Text. Nach und nach lernte ich, dass sich alle Personen auf den Weg gemacht hatten die roten Dächer zu finden. Sie hatten das Buch als Reiseführer genutzt und sich sowohl an dem Hauptautoren als auch an allen anderen Abenteurer vor ihnen orientiert. Ich entdeckte ein paar Randbemerkungen von Raffael, die er mit seinem verschlungenen R. unterzeichnet hatte. Sie waren sehr präzise und warfen teilweise Theorien über die roten Dächer um, die sich lange gehalten hatten. Während bei vielen Theorien die eine haarsträubender als die andere war, so legte Raffael Wert auf persönliche Erfahrungen und handfeste Belege.
Trotz der vielfältigen Berichtigungen des Haupttextes verlor dieser jedoch nicht seinen Zauber und seine Überzeugungskraft und seine Energie, die offensichtlich machten, dass die roten Dächer kein Hirngespinst waren. Die meisten Berichtigungen fanden sich in der Wegbeschreibung und der Historie der roten Dächer, doch als ich das Kapitel aufschlug, das von der Ankunft von Stroturings an jenen geheimen Ort sprach, fand ich keine einzige Randebemerkung. Scheinbar hatte keiner der Abenteurer die roten Dächer erreicht. Das stimmte mich etwas traurig, als ich das Buch zuschlug. Vielleicht waren sie umgekommen auf der Reise. Raffael war auch nicht im besten Zustand zurückgekehrt.
Ich ließ das Buch wieder im Rucksack verschwinden und aß mit seltsamem Gefühl im Bauch mein Wurstbrot ohne Wurst. Die Katze hatte es doch geschafft Beute zu machen. Ich glaube, sie war so dick wegen der vielen Wurstbrote, die ich überall vergaß.
Ich verspürte das Bedürfnis mit jemandem über das Buch zu sprechen, jemand Außenstehendem. Meine Schwester war zu jung, meine Mutter erzählte nur das, was sie wollte, und Raffael war mir unheimlich. Aber ich vermutete, dass ich nicht die Erlaubnis hatte irgendjemandem von dem Buch oder von Raffael zu erzählen. Es lag ein großes Geheimnis über allem.
Ich beschloss ein bisschen im Haus zu wühlen. Es musste doch mehr Erinnerungen auf die Jugend meiner Mutter geben, mehr Informationen zu Arthur und Lilith und meinem Vater. Bei einigen unserer Gesellschaften in früheren Jahren waren zwei Frauen anwesend gewesen, die mir im Gedächtnis geblieben waren, weil sie Französinnen waren. Sie hatten oft mit meiner Mutter gesprochen, als teilten sie alte und schöne Erinnerungen. Ich war damals zu jung, um genau hinzuhören und Schlüsse zu ziehen, aber ich erinnere mich, dass die drei Frauen oft stundenlang im Garten saßen und redeten, während im Haus die Feier weiterging.
Sophie und Amélie waren ihre Namen gewesen.
Ich holte die Fotoalben meiner Mutter. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, die schönen Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Und jedes unserer Feste war etwas Besonderes gewesen. Es war fast garantiert, dass Sophie und Amélie auf den Fotos erscheinen würden. Mit Adleraugen durchforstete ich die Alben, die meine Mutter mit getrockneten Blumen geschmückt hatte. Über jeder Fotoserie stand hübsch das Datum und der Anlass. In einem der älteren Alben entdeckte ich schließlich die Französinnen. Sie trugen große Hüte, ihre Gesichter blieben halb im Schatten. Ich entdeckte noch weitere Fotos von ihnen, jedes Mal mit großen Hüten oder die Köpfe so gedreht, dass man nur schwach die Gesichter erkennen konnte. Je mehr Fotos ich von ihnen fand, desto offensichtlicher wurde, dass sie hatten unerkannt bleiben wollen. Auf einem Bild überreichte Sophie oder Amélie meiner Mutter ein Kästchen. Es war ihr dreißigster Geburtstag. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mit Sophie in der Küche gestanden hatte und eine riesige Torte mit ihr gebacken hatte. Die Schwestern waren an diesem Tag früh gekommen, Amélie hatte meine Mutter mit zum Einkaufen genommen und ich war mit Sophie daheim geblieben.
Mein Herz schlug schneller. Sophie hatte mir ein Büchlein geschenkt, das sie selbst geschrieben hatte. Sie war Autorin.
Ich ließ alles stehen und liegen und überlegte fieberhaft, wo das Buch sich jetzt befand. Wenn ich ihren Nachnamen wüsste, wäre dies schon ein guter Anhaltspunkt.

Sophie Mirabeau. Ich hatte das Büchlein in der Truhe meiner Mutter gefunden. Ich hatte wirklich das ganze Haus auf den Kopf gestellt, bis ich mich an die privaten Sachen meiner Mutter wagte. Es war nicht meine Art, aber inzwischen verspürte ich das Recht etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Sie würde noch dankbar sein, wenn sie die Geheimnisse nicht mehr alleine mit sich herumtragen müsste.
Der schnellste Weg führt über das Internet. Es dauert auch nicht lange, da erschienen unzählige Einträge über Sophie Mirabeau und ihre Bücher. Philosophische Romane, melancholische Romane, historische Biographien, viele mit Preisen belegt. Und Kinderbücher. Etliche Kinderbücher. Ich fand Parallelen zu den Geschichten meiner Mutter, als ich mir verschiedene Rezensionen durchlas. Bestimmt waren Märchen eine Sache, die ihre Freundschaft gehalten hatte.
„Was machst du da, Jascha?“ Meine Schwester trat verschlafen hinter mich. Ihr Lockenkopf stand Sturm und ihr Mund war bereits marmeladenverschmiert.
„Ich recherchiere. Willst du gleich mitkommen in die Bücherei?“
Sie nickte und schaute mir zu. Ich recherchierte weiter.
Es gab einige Zeitungsartikel über Sophie Mirabeau, aber kaum etwas über ihre Biographie. Ich bemerkte, dass die meisten ihrer Bücher in einem Verlag namens Arcangeli erschienen waren. Wir waren eine Bücherfamilie, alle fanatisch nach Literatur, doch vom Arcangeli-Verlag hatte ich noch nie gehört. Sophie Mirabeau blieb mysteriös. Sie wurde es immer mehr, denn sie schien ihr Leben vor der Welt zu verstecken.

Ich traf Alva in der Stadtbücherei. Sie stand vor einem Regal, die Hände auf das Brett gestützt, und studierte die Bücher von Nahem.
Sie erkannte uns erst, als wir direkt vor ihr standen. „Jascha, Minou. Wir haben uns lange nicht gesehen. Geht es euch gut?“
„Blendend. Übermüdet, aber blendend. Das Leben schenkt uns ein Abenteuer.“
„Das freut mich. Und in einem Monat könnte es auch ein oder zwei Abenteuer geben. Da widmen wir uns jeglichen Freuden des Lebens. Ich hoffe, du hast es nicht vergessen.“
Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich unsere alljährliche Karnevalsfeier vergessen können? Maskenball nannten wir ihn und es war bisher immer ein glorreiches Fest über drei Tage gewesen, auf dem Landsitz von Charlottes Eltern. Zu dieser Zeit übergaben sie uns großzügig das Haus für die Festivitäten und gönnten sich selbst ein paar Tage Urlaub. Seit vier Jahren schon feierten wir den Karneval dort und jedes Mal wurde er besser.
„Möchte Minou dieses Mal dabei sein?“ Alva sah meine Schwester an. „Zumindest am Samstag, tagsüber?“
„Ja! Ich will immer, aber sonst lässt mich Mama nicht. Glaubst du, sie lässt mich dieses Mal, Jascha?“ Minou zog an meiner Hand.
„Ich bin mir sicher. Zumindest am Samstag, ja.“
„Ich suche heute einen Bildband. Von Kay Nielsen. In Powder and Crinoline. Kennst du ihn?“
„Wir haben den Band zuhause.“
„Ah, irgendwie dachte ich mir das. Ich wollte nur nicht schon wieder fragen. Aber falls ich ihn hier nicht finde...“
„Gebe ich ihn dir. Klar gebe ich ihn dir. Ich würde dir kein Buch ausschlagen.“
Sie lächelte. „Ich weiß. Wonach sucht ihr?“
„Sophie Mirabeau. Jegliche Information über sie. Oder Werke, die im Arcangeli-Verlag erschienen sind.“
Alva schüttelte den Kopf. „Such im Internet, geh zur Zeitung. Vielleicht gibt es im Archiv etwas oder jemand erinnert sich an ein Interview. Ist sie bekannt?“
„Doch, ich glaube schon. Ihre Bücher zumindest haben Preise gewonnen. Aber sie selbst bleibt im Dunkel.“
„Trinken wir am Samstag zusammen einen Tee? Dann erzählst du mir von Sophie Mirabeau und bringst mir In Powder and Crinoline mit.“
„Sehr gern. Sagen wir um fünf bei mir. Meine Mutter wird sich auch freuen dich wiederzusehen.“
Wir ließen Alva vertieft zwischen den Bücherregalen stehen.

Noch am gleichen Nachmittag schrieb ich an verschiedene Redaktionen, ob sie Informationen über die Schriftstellerin Sophie Mirabeau hätten. Ich rechnete nicht damit, dass mir überhaupt jemand antworten würde. Zeitungsmenschen hatten nie Zeit.
Minou spielte mit der Katze im Garten, ließ sie eine Schnur jagen und lachte ihr unbändiges Kinderlachen.
„Jaschaaa!“, rief sie gegen mein Fenster. Ich öffnete es und sah zu ihr nach unten.
„Ich will als Teufel zu eurem Fasching gehen! Kann Mama so eine Verkleidung machen?“, schrie sie.
„Klar kann sie das! Soll ich dann als Engel gehen?“, schrie ich zurück.
„Nein!“, schrie sie. „Du bist doch kein Mädchen! Du kannst als Pirat gehen, hab ich gedacht!“
„Nein, wie langweilig! Das war ich schon mal! Wie wäre es mit einem Fuchs?“
Minou überlegte kurz, den Kopf in den Nacken gelegt. „Okay! Das ist gut!“
Ich salutierte und zog mich wieder in das Zimmer zurück. Es war bitterkalt draußen.
Also würde ich als Fuchs gehen, mit der Erlaubnis meiner Schwester. Ich hatte es gesagt, weil ich auf unserem Dachboden eine Fuchsmaske mit echtem Fell gefunden hatte, die noch gut erhalten war.
Erst spät am Abend kamen meine Mutter und Raffael zurück. Ich sah wie gebückt er ging, sich auf den Arm meiner Mutter stützend als wäre er ein alter Mann. Aber sein Gesicht hatte deutlich mehr Farbe als am Abend zuvor und er war sauber und trug neue Kleidung.
„Was habt ihr den Tag über getrieben, Kinder?“, fragte meine Mutter. Und obwohl ich keinen Grund hatte, klopfte mir das Herz aus Angst sie könnte mir ansehen, dass ich nach Sophie Mirabeau geforscht hatte. Ich antwortete schnell, bevor meine Schwester etwas Unvernünftiges sagen konnte. „Wir waren in der Bibliothek mit Alva und haben uns Gedanken über unsere Karnevalskostüme gemacht.“
„Darf ich diesmal mit, Mama?“, rief Minou. Vor Aufregung vergaß sie sogar ihre Scheu vor Raffael. Ich sah, dass er sie musterte.
„Ach, Töchterchen. Das ist doch ein Fest für Große.“ Meine Mutter strich Minou über den Kopf. „Aber vielleicht am Samstag, tagsüber. Wenn mir Jascha verspricht, dass er auf dich aufpasst.“
Selbstverständlich würde ich auf meine Schwester aufpassen. Wie auf meinen Augapfel. Das wusste meine Mutter sehr gut. Ich war froh, dass sie es Minou erlaubte, den Samstag mit uns zu verbringen. Meine Schwester gehörte irgendwie immer dazu. Einfach, weil ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte.
„Und wo wart ihr, Mama?“, fragte ich.
„Einkaufen, über alte Zeiten reden, Pläne schmieden. Habt ihr etwas gegessen? Denn heute Abend gehen wir alle weg und ich will nicht, dass ihr anfangt über Hunger zu klagen.“
„Wohin?“, rief Minou.
„Welche Art von Plänen?“, fragte ich.
„Wir fahren gleich an den Ort, an dem die Pläne beginnen.“

Es schneite kleine nasse Flocken, als wir uns am Abend ins Auto setzten. Meine Schwester und Raffael knabberten Salzstangen auf dem Rücksitz und ich versuchte Näheres aus meiner Mutter zu quetschen. Doch sie blieb stur wie immer. Ich versuchte den Weg zu verfolgen, den wir fuhren, aber seit wir aus der Stadt waren, war es so dunkel und verschwommen draußen, dass ich nur wage Vermutungen aufstellen konnte. Wir fuhren nach Süden und die Landschaft, die Bepflanzung verdichtete sich. Plötzlich bog meine Mutter von der Straße ab, fuhr am Feld entlang und bog dann auf einen Pfad in den Wald.
„Das ist kein Weg für Autos, ich hoffe, du weißt das“, sagte ich besorgt.
„Wir sind genau richtig.“ Wenn meine Mutter entschlossen eine Sache verfolgte, konnte sie niemand davon abbringen.
Der Pfad war so schmal, dass wir ständig über Wurzeln holperten und Äste gegen die Windschutzscheibe schlugen. Aber meine Mutter fuhr die Strecke, als legte sie sie täglich zurück.
Ich wusste nicht, welcher Wald es war, den wir durchquerten, aber er wirkte riesig. Wir verbrachten bestimmt eine Stunde durch das Unterholz rumpelnd und ich fürchtete um unser Auto. Als ich auf die Uhr schaute, war es ein Uhr. Die Salzstangen waren gegessen, die CD mindestens dreimal durchgelaufen. Meine Schwester schlief den Kopf in Raffaels Schoß gelegt, der wiederum gebannt durch die Windschutzscheibe blickte, als erwarte er jeden Moment eine Überraschung.
Auf einmal ruckte es und der Wagen hielt an. Ohne ein Wort stieg meine Mutter aus, ich tat es ihr nach. Raffael weckte Minou und half ihr nach draußen.
„Was nun?“
„Wir müssen auf jemanden warten.“ Meine Mutter sah mich lange an. Sie wollte etwas sagen, ich merkte es, aber nichts kam heraus. Sie sah mich so durchdringend an, als wollte sie, dass ich ihre Gedanken las. Es beunruhigte mich und ich bekam Angst bei dem Gedanken, was weiter geschehen würde.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Licht erschien in der Dunkelheit, das sich durch die Bäume bahnte. Der Schein wurde größer, leckte an den Stämmen und verzerrte die Pflanzenwelt mit den Schatten, die er warf.
Ein hochgewachsener Mann folgte dem Licht. Er trug etwas Großes auf dem Rücken, dennoch bewegte er sich leichtfüßig und schnell.
„Uriel! Hier sind wir“, rief meine Mutter.
Uriel warf den Strahl der Taschenlampe in unsere Richtung. Dann sahen wir ihn.
„Jascha, ein Engel“, sagte meine Schwester. Und es war keine kindliche Einbildungskraft, die aus ihr sprach.
Was er auf dem Rücken trug, waren Flügel. Riesige, kraftvolle, an den Körper geschmiegte Flügel.
Ich staunte. Meine Mutter hatte mir nie von Bekanntschaften mit Engeln erzählt. Ein bisschen beleidigt war ich. Dass sie es mir vorenthalten hatte.
Uriel leuchtete Raffael an. Er trat an ihn heran, als wären wir anderen nicht da. Er war viel größer als Raffael und muskulöser. Einen Moment dachte ich, Uriel würde ihn angreifen, so brüsk, wie er sich an ihn wandte. Doch stattdessen sprach er.
„Mutig von dir hier einfach so aufzutauchen.“
„Das Gleiche könnte ich dir auch sagen. Allen anderen könnte ich es sagen!“
„Du weißt vielleicht nicht, dass mir die Geschichte von Venedig zu Ohren gekommen ist. Das ist etwas ganz Anderes.“
Raffael erbleichte, sein Körper spannte sich sichtbar. Auch meine Mutter zuckte zusammen.
„Uriel, wir haben doch entschieden, die Vergangenheit heute ruhen zu lassen. Bitte. Beherrsch dich.“
Ich merkte plötzlich, dass Minou meine Hand ergriffen hatte. Ihre kleinen Nägel stachen mich.
Uriel seufzte tief und entspannte sich, schaltete die Taschenlampe aus. „Also gut. Du hast Recht. Es gibt jetzt Dinge, die Vorrang haben. Kommt mit.“
Wir setzten uns in Bewegung. Ich hielt noch immer Minous Hand.
Schweigend durchwanderten wir den nächtlichen Wald. Es war nichts zu hören außer des gelegentlichen Knackens von Zweigen unter unseren Füßen oder irgendwo in der Dunkelheit. Nicht einmal der Wind rauschte durch die Wipfel und auch der Schnee hatte aufgehört.
Uriel machte vor einer Steinwand Halt. Ich sah mich um, so gut es in der Nacht möglich war, und staunte, wie bergig es vor uns wurde. Ich hatte wirklich nicht den blassesten Schimmer, wo wir waren. Ich wusste von keinem Gebirge in der Nähe.
Uriel fuhr mit der Hand am Fels entlang. Er verschwamm, wo Uriels Hand ihn berührte, wurde durchsichtig und löste sich schließlich ganz auf. Dahinter lag ein finsterer Tunnel. Uriel machte uns ein Zeichen, dass wir ihm hindurch folgen sollten. Meine Angst war purer Neugier und Aufregung gewichen. Ich zögerte nicht. Auch die Anderen folgten eilig.

Wir befanden uns noch innerhalb des Berges, um uns herum streckten sich zerklüftete Felswände in die Höhe. Aber der Ort glich eher einem Kessel, denn zum Himmel hin war er geöffnet und ließ einer herrlichen Sternendecke Einblick. Lichte Baumbewachsung umgab uns und in der Mitte des Kessels konnte ich die Umrisse eines großen Holzhauses mit mehreren Stockwerken ausmachen.
Uriel marschierte direkt darauf zu, und wir hintendrein.
„Seit zwei Monaten ungefähr wohne ich wieder hier. Schert euch nicht um die Unordnung und den Dreck. Ich komme nicht dazu, das Haus auf Vordermann zu bringen.“
In der Dunkelheit bekamen wir sowieso nicht viel mit vom Dreck.
„Willst du nicht den Kamin anmachen, damit wir es etwas gemütlicher und wärmer haben?“
Ich war dankbar für Raffaels Vorschlag. Uriel schien die Kälte nicht zu spüren, aber wir Anderen zitterten. Statt zur Tat zu schreiten, sah Uriel Raffael lange und forschend an. Ich weiß, er sagte nichts, weil wir da waren. Dann schichtete er das Holz im Kamin und ließ ein Feuer auflodern.
Es gab warme Decken im Haus, die Böden waren mit Teppichen und Fellen ausgelegt und die Fenster gut isoliert. Es dauerte nicht lange, bis wir es wohlig warm hatten. Jetzt war ich gespannt zu hören, welche Rolle Uriel in der Geschicht spielte.
Er sah nicht unbedingt aus, wie die Engel, die meine Mutter in ihren Geschichten beschrieben hatte. Zwar war er groß und athletisch, hellhaarig und hellhäutig, aber die ganze Zeit über trug er einen grimmigen, verschlossenen Gesichtsausdruck. Er war wohl auch nur ein Mensch, mit seinem Groll, seiner Verletzbarkeit und seinem Stolz.
Während wir uns am Feuer wärmten, saß er da und starrte aus dem Fenster, als wüsste er nicht, dass wir Erklärungen von ihm erwarteten.
„Was hast du die zwei Monate gemacht, die du schon hier bist?“, fragte meine Mutter. „Erst taucht aus dem Nichts Raffael auf, dann kommt eine völlig unerwartete Nachricht von dir... Das kann doch kein Zufall sein.“
„Nein“, sagte Uriel. Er sah Raffael misstrauisch an. „Ich vermute, wir haben den gleichen Grund dich aufzusuchen, Loreley.“
„Dann weißt du auch von dem fehlenden Blatt? Woher? Jetzt bezweifelst du wohl nicht länger die Existenz des Buches!“
Uriel schüttelte den Kopf. „Ich habe seine Existenz nie bezweifelt. Nur war ich immer der Überzeugung, dass man sich besser alleine nach ihm auf die Suche machen sollte.“
„So ist das also. Davon hast du aber nie etwas verlauten lassen.“ Raffael blitzte Uriel an. Ich spürte, wie alte Wunden aufrissen.
„Wir waren jung. Ich habe mich nicht getraut gegen dich zu sprechen. Bis jetzt.“
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?“
„Du hast falsch gegen Lilith geurteilt.“
„Möglich! Aber wie du sagst: Wir waren jung und haben Fehler gemacht.“

„Hast du nun das fehlende Blatt, Loreley?“ Uriel wandte sich an meine Mutter und ignorierte Raffael.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber es muss einen Grund geben, weshalb eure beiden Spuren zu mir führen.“
„Oder in dein Haus“, korrigierte Raffael. „Das ist, was ich vermute.“
Die Rede von dem fehlenden Blatt, das sich möglicherweise in unserem Haus befand, ließ mich an unsere Bibliothek denken. Ich hatte im Laufe meines Lebens fast alle Bücher mindestens einmal in der Hand gehabt. Mir schien, ein Blatt ließe sich am besten in einem anderen Buch verstecken. Vermutlich waren dies auch die Gedanken von Raffael und Uriel gewesen.
„Aber weshalb, Raffael, suchst du so dringend nach dem Blatt, wenn du die roten Dächer doch schon gefunden hast?“
Raffael seufzte. „Ja, ich war da. Aber ich bin nicht bewusst dorthin gelangt. Mir ist es ähnlich wie Simon von Stroturing, dem Autor des Buches, bei seinem ersten Besuch ergangen. Mir fehlt ein Stück Erinnerung, beziehungsweise ist die Erinnerung sehr verschwommen und bizarr. Mir ist als erinnerte ich mich an einen Traum, wenn ich versuche den Weg zu den Dächern zurückzuverfolgen.
Aber Simon von Stroturing ist ein zweites Mal den Weg zu den Dächern gegangen. Und bei diesem zweiten Mal war er vollkommen anwesend. Er hat den präzisen Weg oder den Zauber oder was auch immer das Geheimnis ist, auf diesem fehlenden Blatt niedergeschrieben und es lose in das Buch gelegt. Ich weiß nicht, ob absichtlicherweise oder törichterweise. Jedenfalls war vorauszusehen, dass es recht bald verschwindet.
Von Stroturing hatte keine sehr guten deskriptiven Fähigkeiten. Das ganze Buch wirkt mehr wie eine Erzählung, er hatte Spaß daran die Ereignisse und Fakten zu verzerren oder ganz wegzulassen, was ihm zu langweilig erschien. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Buch befasst, ich glaube mehr als alle anderen, die es bisher gelesen haben. Und mittlerweile bin ich der Meinung, dass von Stroturing absichtlich das Buch wie ein Märchen gehalten hat. Aber diese fehlende Seite. Ich habe gehört, dass sie sehr gegen von Stroturings Gewohnheit geschrieben ist. Er hat mehrere Monate gebraucht um diese wichtigen Informationen exakt und kurz auf dieses eine Blatt zu zwängen. Der Mann, der mir dies erzählte, ein tibetanischer Mönch, war in dem Besitz des Blattes gewesen und hatte aufgrund seines Informationsgehalts den Weg zu den Dächern eigenständig und ohne Umwege gefunden. Er wollte mir aber nicht sagen, was Blatt und Buch miteinander verbindet. Denn man benötigt beide um den Weg tatsächlich zu finden.“
Uriel nickte. „So habe ich es auch erfahren. Durch Zufall, ich hatte die Suche nach dem Buch längst aufgegeben, kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ebenfalls im Besitz des Blattes gewesen war. Sie allerdings hatte es nicht zu den Dächern geschafft, da ihr das Buch fehlte. Sie bereute es tagtäglich keine Kopie von dem Blatt gemacht zu haben. Dieses Phänomen ist bisher immer aufgetreten: Diejenigen, die im Besitz des Buches oder des fehlenden Blattes gewesen waren, haben seine Bedeutung unterschätzt oder nicht damit gerechnet es jemals wieder zu verlieren. Aber jeder bereute bitterlich, wenn es erst einmal weg war, kein Duplikat davon gefertigt zu haben.“ Uriel wandte sich an Raffael. „Was ist mit dir? Hast du eine Kopie?“
Raffael schüttelte den Kopf.
„Zurück zum Thema“, sagte meine Mutter. „Denn es beunruhigt mich immer mehr, dass die Fäden in mein Haus laufen und ich nicht weiß, weshalb. Könnt ihr endlich sagen, was euch auf meine Spur gebracht hat?“
„Im Grunde war es jemand von unserer alten Gruppe.“ Raffael lächelte gequält. Vieles wirkte gequält an ihm. Nicht seiner Verletzung wegen. Er wirkte seelisch gequält. Und es lag nicht an dem Blatt, das er suchte. Er suchte noch etwas Anderes, etwas viel Geheimeres.
Ich hatte ein Gespür für die Dinge, welche die Seelen der Menschen um mich herum bewegten.
„Jemand, der dich in der Anfangszeit sehr oft besucht hat. Jemand, der oft auf deinen Festen war. Dieser Jemand hat gesagt, das Blatt befinde sich in deinem Besitz.“
„Das muss ein Irrtum sein. Kannst du nicht konkreter werden?“
„Ich weiß nicht, ob du willst, dass deine Kinder den Namen hören.“
„Nein, das will ich nicht.“ Meine Mutter sah uns an. „Ich möchte nicht, dass ihr noch tiefer hineingezogen werdet. Diese Querelen hätten längst vorbei sein müssen. Ich habe Angst, dass euch zu viel Wissen schadet.“
Ich nickte stumm, nahm Minou bei der Hand und verschwand ohne ein Wort. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schlafzimmer. In mir brodelte es, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter. Ich war fest entschlossen meine Nachforschungen auf eigene Faust weiterzuführen. Sollte meine Mutter doch glauben, mich interessiere das alles nicht.

Mitten aus dem Schlaf wurde ich gerissen. Es dauerte, bis ich wusste, wo ich war. Dann lauschte ich nach der Ursache, die mich geweckt hatte. Uriel und Raffael stritten vor dem Haus, direkt unter meinem Fenster.
„Du hast nicht nur die Gruppe auseinander gebracht, sondern auch meine Freundschaft skrupellos verraten.“
„Ich war dir nie zu etwas verpflichtet, Uriel. Es war Liliths freie Entscheidung. Wäre ich es nicht gewesen, wäre es ein Anderer gewesen. Du kennst Lilith und eigentlich solltest du wissen, dass sie nie so zu dir gestanden hat wie du zu ihr.“
„Was maßt du dich an über Liliths und meine Beziehung zu urteilen? Wie kannst du ohne Scham ihren Namen in den Mund nehmen, nachdem du sie erst verstoßen und dann verführt hast?“
Raffael lachte bitter auf. „Wir beide wissen sehr genau, dass Lilith nicht die Person ist, die sich verführen lässt.“
„Du hast sie mit Worten umschmeichelt, wie du es immer getan hast. Wie du es bei uns getan hast. Wir sind dir gefolgt, geblendet von deiner Begeisterung für das Buch, das du eifersüchtig vor uns versteckt hast, auf das wir kaum einen Blick werfen durften. Und trotzdem sollten wir deine Leidenschaft teilen, den Schlüssel zum Ruhm darin sehen. Zu deinem Ruhm. Konntest du Lilith damit verführen? Hast du dich mit deinem Erfolg gebrüstet die Dächer gefunden zu haben?“
„Sie wollte alles erfahren, alle Geheimnisse, die der Ort birgt. Sie sagte, sie würde alles dafür tun...“
Ich hörte ein kräftiges Rauschen und Schlagen. Einen Moment dachte ich, Uriel wäre auf Raffael losgegangen, aber dann sah ich etwas Weißes in den Himmel steigen. Uriel flog davon.

***​

„Damit du endlich weiterkommst, werde ich dir verraten, wo sich das fehlende Blatt befindet“, schnurrte die Katze. Sie hockte auf dem Fensterbrett und beobachtete mein Treiben. „Es befindet sich tatsächlich in diesem Haus. Zumindest eine Abschrift davon.“
„Warum bist du nicht schon vorher damit rausgerückt?“, fragte ich verärgert.
„Ich musste dir doch eine Chance lassen. Und bisher hast du dich wacker geschlagen. Aber wir wollen die Dinge ein wenig beschleunigen, nicht wahr?“ Sie blinzelte.
Sie hatte meine volle Aufmerksamkeit.
„Suche wieder in der Truhe deiner Mutter. Dort wirst du ein handgebundenes Manuskript finden, das nie veröffentlicht wurde. Der Autor hat die fehlende Seite, eitel wie er war, in seine Geschichte integriert. Deine Mutter sollte das Manuskript lesen und lektorieren. Und dann wieder zurückschicken. Sie hat es aber nie getan. Die Götter wissen, wieso.“ Sie blinzelte wieder. Die Katze hatte eine angenehm schnurrende Stimme. Fast lullte sie mich ein in ihre Erzählung.
„Nun lauf schon, Jascha. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Ich lief. Doch vor der Schlafzimmertür meiner Mutter kam ich zu einem abrupten Halt. Sie war verschlossen. Vorsichtig legte ich ein Ohr an die Tür. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt ein Spion im eigenen Hause zu sein. Nichts war zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter und Raffael weggegangen waren.
Kurz entschlossen klopfte ich. Als nichts geschah, drückte ich die Klinke herunter. Das Zimmer war leer. Mein Herz klopfte und nun überkam mich doch das schlechte Gewissen. Das Schlafzimmer trug den unverkennbaren Duft meiner Mutter. Der Duft, der mich durch die Kindheit begleitet hatte, in dem ich mich geborgen fühlte, der mir so viel Liebe entgegen brachte.
Ich schluckte und versprach mir, meiner Mutter alles zu erzählen, wenn der Zeitpunkt kam.
Dann flitzte ich zur Truhe und wühlte bis in die Tiefe, bis ich das Manuskript fühlte. Es war provisorisch gelocht und mit einer Schnur zusammen gebunden und handgeschrieben. Nicht die Arbeit eines professionellen Schriftstellers.
Ich machte, dass ich aus dem Zimmer kam, nicht ohne vorher die Spuren meines Eindringens zu verwischen.
Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa und die Katze kam an meine Seite gesprungen. Ich betrachtete das Manuskript und mein Herz sank. Es war auf Italienisch geschrieben. Von einer Sofia Arcangiolo.
Ich stutzte. Und überlegte, warum ich stutzte. Dann traf es mich wie der Blitz. Sophie Mirabeau im Arcangeli-Verlag und Sofia Arcangiolo.
„Es sind dieselben, nicht wahr, Katze? Nur welche ist die Echte?“
„Sieh sich einer den Titel an“, sagte die Katze. „Wie anmaßend ihr Menschen doch sein könnt.“
„Du kannst es verstehen?“
„Angeli argenti in cieli azzurri. Silberne Engel in blauen Himmeln.“
Ich lachte. „Die Anspielung ist offensichtlich. Aber wie soll ich diese bestimmte Seite finden, wenn ich kein Wort verstehe?“ Meine Stimmung verdüsterte sich schlagartig.
„Lass es mich lesen.“
Ich zögerte. Dann kam mir eine bessere Idee. „Nichts für ungut, Katze, aber ich kenne jemanden, der Italienisch kann. Wenn ich das Manuskript irgendwo hier liegen lasse, muss ich befürchten, dass Raffael oder meine Mutter es finden.“
„Dann will ich dir dennoch mehr zu der Autorin sagen. Schließlich war ich immer in der Nähe, wenn Sofia zu Besuch kam. Und da niemand einer Katze Beachtung schenkt, auch wenn es um intime Gespräche geht, habe ich interessante Dinge erfahren. Hör zu, Jascha.“
Ich hörte gierig zu. Und machte eine mentale Notiz, der Katze ein prächtiges Wurstbrot zu geben.
„Sofia Arcangiolo ist ihr richtiger Name. Sie hat sich als Autorin das Pseudonym Sophie Mirabeau zugelegt, weil sie Angst hatte von Gestalten ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden.“
„So wie alle Personen um meine Mutter herum Angst vor der Vergangenheit haben“, sagte ich.
„Und mit Recht. Diese Gruppe von Freunden hat eine Menge angerichtet in jungen Jahren und viel entdeckt, was hätte unentdeckt bleiben müssen.
Aber nun zu Sofia. Ihre Schwester, Aemilia, lebt unter dem Decknamen Amélie Mirabeau. Sie kennst du auch. Die wichtigere Person ist aber Sofia. Seit jeher hat sie geschrieben und Geschichten erzählt. Deine Mutter hat viel über Märchen von Sofia gelernt, sie war immer ihre begeistertste Zuhörerin.
Nun, eines Tages kamen Sofia und Aemilia zu einem unserer Feste mit Sorgen auf der Seele. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und hielt meine Ohren den Tag über in Hörweite der Schwestern. Irgendwann setzten sie sich mit deiner Mutter in den Garten und ich folgte ihnen. Was ich hörte, war haarsträubend, aber soweit ich es beurteilen kann, die Wahrheit. Sofia sagte, seit einiger Zeit bewahrheiteten sich ihre Geschichten. Sie hatte einen Roman geschrieben, der in Nîmes spielte. Der Stadt, in der sie mit Aemilia lebt. Aemilia hatte das Buch ebenfalls gelesen und konnte bestätigen, was Sofia so eigenartig aufgefallen war: In Nîmes lief jede einzelne Gestalt aus Sofias Romanen herum. Zunächst waren es äußerliche Übereinstimmungen, die sie stutzen ließen. Beispielsweise lief ihnen eines Tages ein Ehepaar über den Weg, das exakt der Beschreibung in Sofias Roman entsprach. Am selben Tag, erzählten sie, speisten sie in einem Restaurant, in dem sie auf einen jungen Mann aufmerksam wurden, der auffällig gekleidet war und ein erregtes Gespräch am Handy führte. Nicht nur die Tatsache, dass ein exzentrischer junger Mann eines Abends in einem Restaurant am Handy mit seinem Bruder stritt, wirkte wie die ins Leben gerufene Restaurantszene aus Sofias Roman, auch die Worte am Telefon waren die gleichen. Sofia konnte sie mitsprechen.
Nach dieser erschreckenden Erfahrung fassten die Schwestern den Entschluss in ein portugiesisches Städtchen zu fahren, in dem ein weiterer, kürzlich erschienener Roman Sofias spielte. Dort erlebten sie das gleiche schauerliche Schauspiel. Sie lasen in der Zeitung von dem Mord an einer gewissen Filipa Peres. Sowohl der Name der Toten als auch Ort, Zeit und Hergang des Mordes stimmten überein. Sofia gab der Polizei einen anonymen Hinweis auf den Mörder. Überflüssig zu sagen, dass sie ins Schwarze traf. Der springende Punkt ist allerdings, dass Sofia später auffiel, dass in ihrem Roman die Polizei ebenfalls den Hinweis auf den Mörder von einer anonymen Person erhalten hatte. Und dass Sofia, als sie den Roman geschrieben hatte, sich nie Gedanken gemacht hatte, wer diese Person war.“ Die Katze machte eine Pause.
Ich spürte, wie käseweiß ich war. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Meine Stimme war heiser.
„Keineswegs. Und dein Schreck ist nichts gegen den Schreck, den Sofia und Aemilia davontrugen, mein Lieber. Sie erzählten die Entdeckung deiner Mutter, weil sie niemand Anderem vertrauen konnten. Aber wie hätte deine Mutter ihnen helfen sollen? Den einzigen Rat, den sie Sofia geben konnte, war aufhören zu schreiben. Ein weiser Rat. Aber das wäre so, als wollte man Sofia den Sinn ihres Leben rauben.“
„Und dann fiel Sofia das fehlende Blatt in die Hände. Und sie schrieb dieses Buch, das meine Mutter nie gelesen hat, weil sie Angst vor dem Inhalt hatte. Das habe ich jetzt auch! Meine Herren, ganz schön makaber von Sofia so etwas zu tun! Warum hat sie es meiner Mutter gegeben?“
Die Katze zuckte mit den Ohren. „Das weiß ich nicht. Es fehlt ein Stück in dieser Geschichte. Jetzt liegt es an dir, weiterzuforschen.“
Ich schwieg beklommen.
„Sag nicht, dass du kalte Füße bekommen hast. Jemand muss das Gewirr auflösen.“
„Warum bist eigentlich du so erpicht darauf die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. „Das wiederum ist mein Geheimnis.“
 

Greenlia

Mitglied
Dies ist der Anfang einer Geschichte. Mit einigen Stellen bin ich noch nicht ganz zufrieden, aber bisher, im Ganzen gesehen, enttäuscht sie micht nicht:


Ich saß am Fenster und es regnete. Es war Januar und obwohl erst früh am Nachmittag schon stockdunkel. Die Regenwolken verdunkelten das Wenige an hellem Himmel und schafften eine triste Stimmung. Noch trister als sie ohnehin war.
Ich gähnte und stierte in die Dunkelheit. Meine Langweile grenzte schon an Depression.
Die Fensterbank war groß und breit, es lagen Kissen darauf und die Katze. Das einzige Lebewesen, das der Jahreszeit wohliges Schnurren entgegnete. Ich kraulte das getigerte Fell, packte ihren Kopf und sprach zu ihr. Ich hatte mich immer schon als Katzenversteher gesehen, keine Ahnung, ob es stimmte, aber die Katzen mochten mich. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Mühe gab mit ihnen, dass ich mit ihnen redete, wie mit Menschen. Oder wahrscheinlich besser als mit Menschen.

Nun, der Tag hätte keine weitere Bedeutung und ich würde ihn auch nicht erwähnen, wenn er nicht der Auftakt zu einer merkwürdigen Reihe von Ereignissen und Abenteuern geworden wäre.
Er ließ sich Zeit der Tag, kroch dumpf durch den eisernen Morgen, den feuchten Mittag, den Regen am Nachmittag, um dann am Abend aus der Lethargie zu brechen. Und das in einem gewaltigen Szenario.
Ich saß da, kraulte die Katze, dachte an den vergangenen Sommer und den kommenden. Meine Gedanken verketteten sich, blieben an Erinnerungen hängen, Bier und Bücher, Mädchen und warme Nächte.
Es war nach zehn, als es klingelte.
Der Ton war lange vorbei. Ich suchte nach der Erklärung, die mich aus den Gedanken gerissen hatte, als es wieder klingelte, diesmal eindringlicher.
Das Einzige, was mich trieb, nach der Tür zu sehen, war Neugier. Ich hatte nicht die geringste Lust auf Menschen. Vor allem nicht um diese Uhrzeit.
Die Katze kam wie selbstverständlich hinter mir her marschiert. Ich kannte keine Katze, die ihr Heim besser hütete als unsere. Sie scharwenzelte um meine Beine, als ich die Tür aufzog, und machte Geräusche.
Eine triefnasse, stinkende Gestalt stolperte in den Flur, keuchte etwas und stürzte fast zu Boden. Gegen meinen Willen packte ich sie im letzten Moment und sie fiel mir schwer in die Arme.
Die Katze maunzte und freute sich über das Spektakel, ich rief: „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ und wusste weder ein noch aus. Warum hörte meine Mutter nicht?
Da bemerkte ich, dass meine Hände warm wurden und rot. Die Person blutete, und nicht wenig. Und plötzlich war mein Hirn wieder klar. Ich wusste, was zu tun war. Binnen kürzester Zeit hatte ich die Person ihrer nassen Kleidung entledigt, die Wunde ausfindig gemacht und so gut es ging, versorgt. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so etwas konnte. Das Leben ist zu voll von tristen Januartagen, die einem die eigenen Fähigkeiten lähmen.
Die Gestalt wand sich und zitterte. Mit einiger Anstrengung hievte ich sie auf das Sofa. Meine Frage, wer sie war und was sie hier wollte, blieben noch nach mehrmaligem Fragen unbeantwortet.
Ich schickte die Katze nach oben, um meine Mutter und meine Schwester zu holen.
Meine Schwester kam heruntergetrampelt, die Haare zerzaust und die Augen klein von Schlaf. Aber glitzernd vor Neugier. Meine Mutter kam langsamer und würdevoller nach. Ich glaube aber heute, sie hatte Angst. Denn als sie die geschlagene Gestalt sah, verdüsterte sie sich kurz, als hätte sie eine Vorahnung gehabt.
Niemand sprach. Meine Mutter stand wie vom Donner gerührt. Erst als meine Schwester laut fragte: „Wer sind Sie?“, fand sie zu sich. Als wären wir nicht da, kniete sie sich vor das Sofa und griff nach der Hand des Fremden. Leicht schüttelte sie den Kopf, immer wieder, und ich glaube, sie weinte.
„Ich habe sie gefunden, die roten Dächer“, sagte der Fremde.
Ich wusste nicht, worum es hier ging, was für verdammte Dächer er meinte. Aber es sprach ein Triumph aus seinen Worten, dass seine Verletzungen es wohl wert gewesen waren.
„Die roten Dächer, Loreley. Ich habe sie gefunden!“
Also kannten sich meine Mutter und er. Soweit dazu.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir noch saßen und langsam der Geschichte auf die Schliche kamen, die der Fremde mit sich brachte. Ich kann nur sagen, dass ich mich auf eine Weise unwohl fühlte, als ahnte ich Schwierigkeiten. Aber der Abend und der Fremde waren zu bizarr und fantastisch, als dass ich mich ihnen hätte entziehen können. Wann wir endlich schlafen gingen oder ob wir saßen und lauschten, bis der graue Morgen graute, kann ich nicht sagen. Die nächsten Tage verliefen ohne Anfang und Ende, Tag und Nacht verschwammen unter der Präsenz des Fremden und seiner Geschichte. Die bald auch die unsere werden würde.

Seit ich mich erinnern kann und noch früher, hatten meine Mutter und ich immer in dem Haus mit dem großen, überwuchernden Garten gelebt. Die Katze war auch immer da gewesen. Sie erschien auch auf verblichenen Kinderfotos meiner Mutter. Irgendwann lernte ich, dass Katzen nicht wirklich sieben Leben haben. Aber mit den Jahren hörte ich auf, mich zu fragen, warum unsere Katze eine Ausnahme war.
Wir hatten oft Besuch von verschiedenen Leuten, die alle von weit her zu kommen schienen. Sie alle kannten meine Mutter gut und es war immer eine Freude, denn sie brachten mir Geschenke, und ich sah, dass meine Mutter mit ihnen glücklich war. Sie kamen immer in Scharen. Dann wurde es laut im Haus und es gab reichlich zu essen und zu trinken. Wenn eine solche Gesellschaft bevorstand, machten meine Mutter und ich einen großen Einkaufszettel und sammelten Ideen, wie wir das Haus dekorieren und uns verkleiden wollten. Dann verkleideten wir uns und gingen als Seeräuber die große Einkaufsliste erledigen.
Mit den Leuten aus der Umgebung hatte meine Mutter nie zu tun. Wir waren die Einzigen im Viertel, die ein solches Haus mit einem solchen Garten inmitten der Ansammlung von Hoch- und Mehrfamilienhäusern besaßen. Ich vermutete, dass die Nachbarn einfach neidisch waren. Ich hingegen hatte viele Freunde in der Schule. Viele waren mit mir befreundet, weil sie gerne in unser Haus kamen. Aber das machte nichts. Es war ein besonderes Haus, man konnte herrlich darin spielen, und ich war stolz darauf.
Eines Tages, als ich noch ein Kind war, kam meine Mutter zu mir in den Garten, setzte mich auf ihren Schoß und erzählte mir ein Märchen. Meine Schwester war damals noch nicht geboren und ich liebte meine Mutter, dass es schmerzte. Ich war überzeugt, dass sie ich war und ich sie. Dass wir eine aufgesplitterte Seele waren. Ich brauchte keine Miene zu verziehen, sie wusste immer, was mit mir los war. Sie war ein Engel, dachte ich, eine Fee oder eine Prinzessin. Ich wusste keinen Unterschied, denn die Engel und Feen und Prinzessinnen in den Märchen, die meine Mutter mir erzählte, spiegelten sich alle in ihr.
Dieses Märchen war das letzte, das sie mir je erzählte, und entgegen aller anderen Märchen hatte es ein trauriges Ende. Ich war nicht zufrieden damit und sagte es meiner Mutter.
Sie strich mir über den Kopf und meinte, ich solle mich daran gewöhnen. „Außerdem ist nicht gesagt, ob dies das Ende ist. Auch wenn meine Märchen ein Ende haben, die Personen darin leben doch weiter, oder? Und sie erleben noch mehr Abenteuer. Und vielleicht sterben sie im nächsten oder übernächsten.“
Ich war irritiert, dass sie mein Konzept der Märchenwelt so aus den Fugen riss, und beleidigt. Ich war ein verwöhntes Kind und vermutlich war es der Versuch meiner Mutter gewesen, mich an die Realität heranzuführen.
Ein paar Monate später kam meine Schwester zur Welt und mit ihr ging eine zweite Sonne in meinem Leben auf. Ich merkte, wie es meiner Mutter eine unendliche Erleichterung war, dass ich meine Schwester so sehr liebte. Und für sie brach ein zweiter Frühling an. Es war die schönste Zeit, die wir zu dritt hatten.

Das ging mir durch den Kopf, als ich voller Gedanken in mein Bett kroch. Vor meinem Fenster fuhren bereits die ersten Leute zur Arbeit. Ich war gerädert und hatte keine Lust zu denken. Nicht jetzt, da ich die ganze Nacht damit verbracht hatte, mein Hirn arbeiten zu lassen, Bruchstücke von Erinnerungen aufblitzen zu sehen, Verbindungen zu erkennen und neue Fragen zu finden.
Meine Schwester kam zu mir und kroch zu mir ins Bett. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Irgendwann hatte sie gesagt: „Ich bin zu groß dafür!“ und hatte sich mit ihrem Kuscheltier ins Bett geschmissen. Sie hatte die ganze Zeit, die wir im Wohnzimmer gesessen hatten, kein Wort gesagt, und ich dachte, sie würde jetzt ihr Schweigen brechen. Aber ihr Lockenkopf bürstete nur über mein Gesicht, während sie sich drehte, und Sekunden später schlief sie. Angesteckt von ihrer Erschöpfung ließ auch ich mich ins Nichts fallen.

Als ich erwachte, lag ich auf dem Boden und alles schmerzte. Ich schaute auf, sah meine Schwester, alle Viere von sich gestreckt, in meinem zerknüllten Bett liegen. Selig schlafend.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachmittags. Ich schlich in die Küche, um etwas Sinnvolles zu tun. Meine Mutter war nicht da und auch der Fremde auf dem Sofa war verschwunden. Ich schaute im Wohnzimmer umher, misstrauisch, und ein Wurstbrot balancierend. Die Katze lauerte. Der Fremde hatte seinen Rucksack dagelassen. Wie selbstverständlich wanderte meine Hand hinein und wühlte. Ich zog ein Buch hervor, in Leder geschlagen. Von goldenen Eulen auf roten Dächern hieß es.

Vielleicht wäre hier der richtige Zeitpunkt zu erzählen, was ich die vorherige Nacht erfahren hatte.
Die Verletzungen des Fremden waren weniger groß als die unendliche Erschöpfung, mit der uns begrüßt hatte. Er schlief erschöpft ein auf dem Sofa, während meine Mutter Tee und ich Nudeln kochte. Ich bereitete uns instinktiv auf eine lange Nacht vor.
„Mama“, sagte ich irgendwann, als wir wieder nur da saßen, über unserem Tee brüteten und schwiegen, „erzähl.“
Meine Mutter blickte in ihre Tasse, Dampf stieg ihr ins Gesicht. Sie lächelte, sah uns an. Ihr Lächeln war warm und breit.
„Wisst ihr, Kinder, es ist sehr schön, dass er endlich gekommen ist.“ Sie nahm meine Schwester in den Arm, die den Fremden anstarrte und die Worte unserer Mutter gar nicht zu hören schien.
„Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Damals, als du noch nicht geboren warst, mein Sohn, waren wir gute Freunde. Ich lebte ganz woanders. Dein Vater war auch dabei und andere Leute, an die ich mich mit viel Liebe erinnere. Wir waren eine besondere Gruppe und wir haben Abenteuer erlebt.“ Sie lächelte diesmal nur mich an. „Solche Abenteuer, wie ich sie dir erzählte, als du klein warst.“
Mit Feen und sprechenden Tieren, dachte ich.
„Eines Tages fiel Raffael ein Buch in die Hände. Das ist Raffael“, sagte sie und drehte ihren Kopf zum Sofa. „Es hieß Von silbernen Katzen auf blauen Dächern. Er hatte es immer verstanden Kuriositäten aus aller Welt zu erstehen, keiner wusste, wie er es anstellte. Er war immer der seltsamste Vogel unserer Gruppe und wahrscheinlich der Kern, der uns zusammenhielt. Kurz gesagt, er las das Buch und etwas geschah danach mit ihm. Er sprach nur noch von den blauen Dächern und davon, dass er sie finden müsse, dass er nicht eher ruhen werde, bis er sie gefunden habe, koste es, was es wolle. Anfangs waren wir alle eifrig bei der Sache, wir forschten uns durch die Bücherwelt nach Anhaltspunkten, machten uns auf die Suche nach den verrücktesten Menschen in den verwinkeltesten Gegenden, nur weil wir eine winzige Information dort vermuteten. Oh, wir erlebten eine spannende Zeit. Aber nach einem Jahr der erfolglosen Suche, dachte jeder, was keiner auszusprechen wagte: dass die mysteriösen blauen Dächer nicht existierten. Es kam, wie es kommen musste. Ein Streit brach aus, und Raffael fühlte sich betrogen, weil keiner mehr hinter dem Projekt stand. Er verließ uns, und unsere Gruppe brach vollständig auseinander, denn nun hatten wir keine Mission mehr. Wir konnten nicht zurück in unser Leben, wie es vorher gewesen war. Ich hatte nur deinen Vater, mein Sohn, und unsere Liebe. Wir zogen in dieses Haus, das Haus deiner Großtante. Bald kamst du. Und bald darauf waren nur noch wir zwei hier.“
Den letzten Teil kannte ich schon. Und da meine Mutter näheren Erklärungen, was es mit meinem Vater auf sich hatte, immer wieder kunstvoll auswich, fragte ich nie. Mittlerweile war es mir egal.
„Es gab eine Zeit, da ich mich sehr einsam fühlte in dem großen Haus. Da begann ich Raffael lange Briefe zu schreiben und sie ins Nirgendwo zu schicken. Ich kannte ja weder eine Adresse, noch wusste ich in welcher Stadt er sich befand. Umso erstaunter war ich, als ich eines Tages Antwort bekam.“
Ich setzte mich gerader hin. Der Tonfall meiner Mutter hatte sich verändert.
„Der Umschlag und das Papier wirkten, als wären sie lange gereist. Der Poststempel und die Briefmarke waren verblichen, ich konnte nicht erkennen, woher er kam. Ein Absender stand natürlich nicht darauf. Aber an der Art, wie mein Name auf dem Umschlag stand, wusste ich sofort: Es war Raffael. Die Nachricht war sehr kurz. Wartet, ich suche sie.“ Meine Mutter schob meine Schwester zur Seite, die mit halb geschlossenen Augen in ihren Armen eingedöst war.

„Loreley hat etwas verschwiegen.“
Ich wandte den Kopf, ein Augenpaar glitzerte vom Sofa herüber. Ich hatte nicht gemerkt, dass Raffael aufgewacht war. „Kann ich welche von den Nudeln haben?“
„Was meinst du?“, fragte ich ihn, reichte ihm einen Teller mit dampfenden Nudeln in Soße.
„Unser Streit. Er ging nicht in harmlosen Wortgefechten zuende. Es kam zu Handgreiflichkeiten und einer von uns starb.“ Nudeln wurden geräuschvoll von der Gabel gezogen. Raffael schob sich eine Handvoll nach der anderen hinein, Soße tropfte ihm vom Kinn. Er hatte offensichtlich lange nichts mehr gegessen.
„Was geschah dann?“, unterbrach ich sein Mahl.
„Arthur kam durch Liliths Hand um. Lilith floh, erschreckt von dem, was sie getan hatte und die Rache von Arthurs Bruder fürchtend. Deinem Vater.“
„Wer war mein Vater?“
„Das reicht.“ Meine Mutter war dunkel im Türrahmen erschienen. „Du bist nicht hergekommen, um unsere Vergangenheit aufzuwühlen.“
Raffael ließ sich erschöpft zurück sinken. Ich nahm seinen Teller, bevor er zu Boden fiel. So nah dran war ich gewesen. Ich würde meine Chance noch bekommen, dachte ich. Aber ich unterschätzte die Wirkung, die ein Befehl meiner Mutter auf Raffael hatte.
„Hast du den Brief gefunden, Mama?“
Plötzlich wurde sie scheu. „Hier habe ich ihn. Aber... Ich wusste nicht, dass du wieder wach bist, Raffael. Vielleicht erklärst du endlich, unter welchen Umständen du diesen Brief geschrieben hast.“
Ich nahm meiner Mutter den Brief aus der Hand und zog andächtig das Papier heraus. Es war klein und verblichen, wellig, als wäre es einmal nass geworden, und auch die Tinte verschwommen. Meine Schwester kam näher gekrochen und ich las ihr vor:


52. 3. '87​
Loreley, Loreley –

ich trage jeden deiner Briefe an meinem Herzen. Und ich werde in dein Haus kommen, das verspreche ich, irgendwann. Dann hat hoffentlich alles ein Ende, was mich zur Zeit quält.

R.


„Das ist tatsächlich ein kurzer Brief. Und das Datum ist seltsam“, sagte ich.
„Ich glaube aber, es stimmt.“ Meine Mutter sah Raffael aus dem Augenwinkel an. Er nickte schwer. „Das Datum ist seltsam, weil es eine seltsame Zeit war. Ich war sechs Monate im Himalaya und eigentlich war es ein ganzes Jahr. Dort bin ich endlich, endlich auf eine brauchbare Spur der roten Dächer gekommen.“
„Seit wann waren die blauen Dächer aus dem Buch rote Dächer?“, fragte ich.
„Das habe ich im Himalaya gelernt. Das erste Buch war eine Fälschung. Dort fand ich das Original. Ich hatte die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt. Und dort im Himalaya erzählte man mir die Geschichte des Buches, dessen Fälschung fast genauso berühmt geworden war.“
Plötzlich sackte Raffael müde zusammen und stieß einen Seufzer aus. Er verzog das Gesicht und ich erinnerte mich, dass er ernsthaft verletzt war.
„Ich hätte nicht so viel essen sollen“, sagte er. „Ich muss schlafen.“ Er schloss die Augen. „Verzeiht mir, dass ich so reingeplatzt bin.“
Meine Mutter strich sanft über Raffaels Arm. „Du bist willkommen. Ich schlafe hier bei dir. Falls du etwas brauchst.“
Ich nahm meine Schwester, die eingerollt auf dem Teppich lag, huckepack und ging nach oben. Meine Glieder waren bleischwer, aber mein Kopf fand keine Ruhe. Ich wollte mehr erfahren, alles.

Später am Nachmittag, als ich wach geworden war, hatte ich also das Buch Von goldenen Eulen auf roten Dächern gefunden. Entweder war Raffael sehr leichtsinnig seinen Schatz so unbeaufsichtigt zu lassen oder er vertraute uns sehr. Ich vermutete das Letztere. Ein Mann, der so viel erlebt hatte, hatte mit Sicherheit auch ein gesundes Misstrauen gegen die Welt.
Das war also das Original. Ich leugne nicht, dass mein Puls schneller ging, als ich es aufschlug. Die Seiten waren hart und fast brüchig, aber die Worte leuchteten als wären sie erst gestern niedergeschrieben worden. Es hatte keine besondere Aufmachung, das Buch, dessen Autor sich Simon von Stroturing nannte. Alles war mit Hand geschrieben, schlicht und ordentlich gehalten. Keine Verschnörkelungen oder irgendein Hinweis, dass es sich bei dem Buch um eine Kostbarkeit handelte. Was mich stutzen ließ, waren die vielen Randbemerkungen, die von verschiedenen Personen stammten. Sie trugen immer eine andere Signatur, bezogen sich aufeinander und waren so zahlreich, dass sie fast den Wortgehalt des Buches verdoppelten. Es waren Zusatzinformationen und Korrekturen an dem eigentlichen Text. Nach und nach lernte ich, dass sich alle Personen auf den Weg gemacht hatten die roten Dächer zu finden. Sie hatten das Buch als Reiseführer genutzt und sich sowohl an dem Hauptautoren als auch an allen anderen Abenteurer vor ihnen orientiert. Ich entdeckte ein paar Randbemerkungen von Raffael, die er mit seinem verschlungenen R. unterzeichnet hatte. Sie waren sehr präzise und warfen teilweise Theorien über die roten Dächer um, die sich lange gehalten hatten. Während bei vielen Theorien die eine haarsträubender als die andere war, so legte Raffael Wert auf persönliche Erfahrungen und handfeste Belege.
Trotz der vielfältigen Berichtigungen des Haupttextes verlor dieser jedoch nicht seinen Zauber und seine Überzeugungskraft und seine Energie, die offensichtlich machten, dass die roten Dächer kein Hirngespinst waren. Die meisten Berichtigungen fanden sich in der Wegbeschreibung und der Historie der roten Dächer, doch als ich das Kapitel aufschlug, das von der Ankunft von Stroturings an jenen geheimen Ort sprach, fand ich keine einzige Randebemerkung. Scheinbar hatte keiner der Abenteurer die roten Dächer erreicht. Das stimmte mich etwas traurig, als ich das Buch zuschlug. Vielleicht waren sie umgekommen auf der Reise. Raffael war auch nicht im besten Zustand zurückgekehrt.
Ich ließ das Buch wieder im Rucksack verschwinden und aß mit seltsamem Gefühl im Bauch mein Wurstbrot ohne Wurst. Die Katze hatte es doch geschafft Beute zu machen. Ich glaube, sie war so dick wegen der vielen Wurstbrote, die ich überall vergaß.
Ich verspürte das Bedürfnis mit jemandem über das Buch zu sprechen, jemand Außenstehendem. Meine Schwester war zu jung, meine Mutter erzählte nur das, was sie wollte, und Raffael war mir unheimlich. Aber ich vermutete, dass ich nicht die Erlaubnis hatte irgendjemandem von dem Buch oder von Raffael zu erzählen. Es lag ein großes Geheimnis über allem.
Ich beschloss ein bisschen im Haus zu wühlen. Es musste doch mehr Erinnerungen auf die Jugend meiner Mutter geben, mehr Informationen zu Arthur und Lilith und meinem Vater. Bei einigen unserer Gesellschaften in früheren Jahren waren zwei Frauen anwesend gewesen, die mir im Gedächtnis geblieben waren, weil sie Französinnen waren. Sie hatten oft mit meiner Mutter gesprochen, als teilten sie alte und schöne Erinnerungen. Ich war damals zu jung, um genau hinzuhören und Schlüsse zu ziehen, aber ich erinnere mich, dass die drei Frauen oft stundenlang im Garten saßen und redeten, während im Haus die Feier weiterging.
Sophie und Amélie waren ihre Namen gewesen.
Ich holte die Fotoalben meiner Mutter. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, die schönen Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Und jedes unserer Feste war etwas Besonderes gewesen. Es war fast garantiert, dass Sophie und Amélie auf den Fotos erscheinen würden. Mit Adleraugen durchforstete ich die Alben, die meine Mutter mit getrockneten Blumen geschmückt hatte. Über jeder Fotoserie stand hübsch das Datum und der Anlass. In einem der älteren Alben entdeckte ich schließlich die Französinnen. Sie trugen große Hüte, ihre Gesichter blieben halb im Schatten. Ich entdeckte noch weitere Fotos von ihnen, jedes Mal mit großen Hüten oder die Köpfe so gedreht, dass man nur schwach die Gesichter erkennen konnte. Je mehr Fotos ich von ihnen fand, desto offensichtlicher wurde, dass sie hatten unerkannt bleiben wollen. Auf einem Bild überreichte Sophie oder Amélie meiner Mutter ein Kästchen. Es war ihr dreißigster Geburtstag. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mit Sophie in der Küche gestanden hatte und eine riesige Torte mit ihr gebacken hatte. Die Schwestern waren an diesem Tag früh gekommen, Amélie hatte meine Mutter mit zum Einkaufen genommen und ich war mit Sophie daheim geblieben.
Mein Herz schlug schneller. Sophie hatte mir ein Büchlein geschenkt, das sie selbst geschrieben hatte. Sie war Autorin.
Ich ließ alles stehen und liegen und überlegte fieberhaft, wo das Buch sich jetzt befand. Wenn ich ihren Nachnamen wüsste, wäre dies schon ein guter Anhaltspunkt.

Sophie Mirabeau. Ich hatte das Büchlein in der Truhe meiner Mutter gefunden. Ich hatte wirklich das ganze Haus auf den Kopf gestellt, bis ich mich an die privaten Sachen meiner Mutter wagte. Es war nicht meine Art, aber inzwischen verspürte ich das Recht etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Sie würde noch dankbar sein, wenn sie die Geheimnisse nicht mehr alleine mit sich herumtragen müsste.
Der schnellste Weg führt über das Internet. Es dauert auch nicht lange, da erschienen unzählige Einträge über Sophie Mirabeau und ihre Bücher. Philosophische Romane, melancholische Romane, historische Biographien, viele mit Preisen belegt. Und Kinderbücher. Etliche Kinderbücher. Ich fand Parallelen zu den Geschichten meiner Mutter, als ich mir verschiedene Rezensionen durchlas. Bestimmt waren Märchen eine Sache, die ihre Freundschaft gehalten hatte.
„Was machst du da, Jascha?“ Meine Schwester trat verschlafen hinter mich. Ihr Lockenkopf stand Sturm und ihr Mund war bereits marmeladenverschmiert.
„Ich recherchiere. Willst du gleich mitkommen in die Bücherei?“
Sie nickte und schaute mir zu. Ich recherchierte weiter.
Es gab einige Zeitungsartikel über Sophie Mirabeau, aber kaum etwas über ihre Biographie. Ich bemerkte, dass die meisten ihrer Bücher in einem Verlag namens Arcangeli erschienen waren. Wir waren eine Bücherfamilie, alle fanatisch nach Literatur, doch vom Arcangeli-Verlag hatte ich noch nie gehört. Sophie Mirabeau blieb mysteriös. Sie wurde es immer mehr, denn sie schien ihr Leben vor der Welt zu verstecken.

Ich traf Alva in der Stadtbücherei. Sie stand vor einem Regal, die Hände auf das Brett gestützt, und studierte die Bücher von Nahem.
Sie erkannte uns erst, als wir direkt vor ihr standen. „Jascha, Minou. Wir haben uns lange nicht gesehen. Geht es euch gut?“
„Blendend. Übermüdet, aber blendend. Das Leben schenkt uns ein Abenteuer.“
„Das freut mich. Und in einem Monat könnte es auch ein oder zwei Abenteuer geben. Da widmen wir uns jeglichen Freuden des Lebens. Ich hoffe, du hast es nicht vergessen.“
Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich unsere alljährliche Karnevalsfeier vergessen können? Maskenball nannten wir ihn und es war bisher immer ein glorreiches Fest über drei Tage gewesen, auf dem Landsitz von Charlottes Eltern. Zu dieser Zeit übergaben sie uns großzügig das Haus für die Festivitäten und gönnten sich selbst ein paar Tage Urlaub. Seit vier Jahren schon feierten wir den Karneval dort und jedes Mal wurde er besser.
„Möchte Minou dieses Mal dabei sein?“ Alva sah meine Schwester an. „Zumindest am Samstag, tagsüber?“
„Ja! Ich will immer, aber sonst lässt mich Mama nicht. Glaubst du, sie lässt mich dieses Mal, Jascha?“ Minou zog an meiner Hand.
„Ich bin mir sicher. Zumindest am Samstag, ja.“
„Ich suche heute einen Bildband. Von Kay Nielsen. In Powder and Crinoline. Kennst du ihn?“
„Wir haben den Band zuhause.“
„Ah, irgendwie dachte ich mir das. Ich wollte nur nicht schon wieder fragen. Aber falls ich ihn hier nicht finde...“
„Gebe ich ihn dir. Klar gebe ich ihn dir. Ich würde dir kein Buch ausschlagen.“
Sie lächelte. „Ich weiß. Wonach sucht ihr?“
„Sophie Mirabeau. Jegliche Information über sie. Oder Werke, die im Arcangeli-Verlag erschienen sind.“
Alva schüttelte den Kopf. „Such im Internet, geh zur Zeitung. Vielleicht gibt es im Archiv etwas oder jemand erinnert sich an ein Interview. Ist sie bekannt?“
„Doch, ich glaube schon. Ihre Bücher zumindest haben Preise gewonnen. Aber sie selbst bleibt im Dunkel.“
„Trinken wir am Samstag zusammen einen Tee? Dann erzählst du mir von Sophie Mirabeau und bringst mir In Powder and Crinoline mit.“
„Sehr gern. Sagen wir um fünf bei mir. Meine Mutter wird sich auch freuen dich wiederzusehen.“
Wir ließen Alva vertieft zwischen den Bücherregalen stehen.

Noch am gleichen Nachmittag schrieb ich an verschiedene Redaktionen, ob sie Informationen über die Schriftstellerin Sophie Mirabeau hätten. Ich rechnete nicht damit, dass mir überhaupt jemand antworten würde. Zeitungsmenschen hatten nie Zeit.
Minou spielte mit der Katze im Garten, ließ sie eine Schnur jagen und lachte ihr unbändiges Kinderlachen.
„Jaschaaa!“, rief sie gegen mein Fenster. Ich öffnete es und sah zu ihr nach unten.
„Ich will als Teufel zu eurem Fasching gehen! Kann Mama so eine Verkleidung machen?“, schrie sie.
„Klar kann sie das! Soll ich dann als Engel gehen?“, schrie ich zurück.
„Nein!“, schrie sie. „Du bist doch kein Mädchen! Du kannst als Pirat gehen, hab ich gedacht!“
„Nein, wie langweilig! Das war ich schon mal! Wie wäre es mit einem Fuchs?“
Minou überlegte kurz, den Kopf in den Nacken gelegt. „Okay! Das ist gut!“
Ich salutierte und zog mich wieder in das Zimmer zurück. Es war bitterkalt draußen.
Also würde ich als Fuchs gehen, mit der Erlaubnis meiner Schwester. Ich hatte es gesagt, weil ich auf unserem Dachboden eine Fuchsmaske mit echtem Fell gefunden hatte, die noch gut erhalten war.
Erst spät am Abend kamen meine Mutter und Raffael zurück. Ich sah wie gebückt er ging, sich auf den Arm meiner Mutter stützend als wäre er ein alter Mann. Aber sein Gesicht hatte deutlich mehr Farbe als am Abend zuvor und er war sauber und trug neue Kleidung.
„Was habt ihr den Tag über getrieben, Kinder?“, fragte meine Mutter. Und obwohl ich keinen Grund hatte, klopfte mir das Herz aus Angst sie könnte mir ansehen, dass ich nach Sophie Mirabeau geforscht hatte. Ich antwortete schnell, bevor meine Schwester etwas Unvernünftiges sagen konnte. „Wir waren in der Bibliothek mit Alva und haben uns Gedanken über unsere Karnevalskostüme gemacht.“
„Darf ich diesmal mit, Mama?“, rief Minou. Vor Aufregung vergaß sie sogar ihre Scheu vor Raffael. Ich sah, dass er sie musterte.
„Ach, Töchterchen. Das ist doch ein Fest für Große.“ Meine Mutter strich Minou über den Kopf. „Aber vielleicht am Samstag, tagsüber. Wenn mir Jascha verspricht, dass er auf dich aufpasst.“
Selbstverständlich würde ich auf meine Schwester aufpassen. Wie auf meinen Augapfel. Das wusste meine Mutter sehr gut. Ich war froh, dass sie es Minou erlaubte, den Samstag mit uns zu verbringen. Meine Schwester gehörte irgendwie immer dazu. Einfach, weil ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte.
„Und wo wart ihr, Mama?“, fragte ich.
„Einkaufen, über alte Zeiten reden, Pläne schmieden. Habt ihr etwas gegessen? Denn heute Abend gehen wir alle weg und ich will nicht, dass ihr anfangt über Hunger zu klagen.“
„Wohin?“, rief Minou.
„Welche Art von Plänen?“, fragte ich.
„Wir fahren gleich an den Ort, an dem die Pläne beginnen.“

Es schneite kleine nasse Flocken, als wir uns am Abend ins Auto setzten. Meine Schwester und Raffael knabberten Salzstangen auf dem Rücksitz und ich versuchte Näheres aus meiner Mutter zu quetschen. Doch sie blieb stur wie immer. Ich versuchte den Weg zu verfolgen, den wir fuhren, aber seit wir aus der Stadt waren, war es so dunkel und verschwommen draußen, dass ich nur wage Vermutungen aufstellen konnte. Wir fuhren nach Süden und die Landschaft, die Bepflanzung verdichtete sich. Plötzlich bog meine Mutter von der Straße ab, fuhr am Feld entlang und bog dann auf einen Pfad in den Wald.
„Das ist kein Weg für Autos, ich hoffe, du weißt das“, sagte ich besorgt.
„Wir sind genau richtig.“ Wenn meine Mutter entschlossen eine Sache verfolgte, konnte sie niemand davon abbringen.
Der Pfad war so schmal, dass wir ständig über Wurzeln holperten und Äste gegen die Windschutzscheibe schlugen. Aber meine Mutter fuhr die Strecke, als legte sie sie täglich zurück.
Ich wusste nicht, welcher Wald es war, den wir durchquerten, aber er wirkte riesig. Wir verbrachten bestimmt eine Stunde durch das Unterholz rumpelnd und ich fürchtete um unser Auto. Als ich auf die Uhr schaute, war es ein Uhr. Die Salzstangen waren gegessen, die CD mindestens dreimal durchgelaufen. Meine Schwester schlief den Kopf in Raffaels Schoß gelegt, der wiederum gebannt durch die Windschutzscheibe blickte, als erwarte er jeden Moment eine Überraschung.
Auf einmal ruckte es und der Wagen hielt an. Ohne ein Wort stieg meine Mutter aus, ich tat es ihr nach. Raffael weckte Minou und half ihr nach draußen.
„Was nun?“
„Wir müssen auf jemanden warten.“ Meine Mutter sah mich lange an. Sie wollte etwas sagen, ich merkte es, aber nichts kam heraus. Sie sah mich so durchdringend an, als wollte sie, dass ich ihre Gedanken las. Es beunruhigte mich und ich bekam Angst bei dem Gedanken, was weiter geschehen würde.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Licht erschien in der Dunkelheit, das sich durch die Bäume bahnte. Der Schein wurde größer, leckte an den Stämmen und verzerrte die Pflanzenwelt mit den Schatten, die er warf.
Ein hochgewachsener Mann folgte dem Licht. Er trug etwas Großes auf dem Rücken, dennoch bewegte er sich leichtfüßig und schnell.
„Uriel! Hier sind wir“, rief meine Mutter.
Uriel warf den Strahl der Taschenlampe in unsere Richtung. Dann sahen wir ihn.
„Jascha, ein Engel“, sagte meine Schwester. Und es war keine kindliche Einbildungskraft, die aus ihr sprach.
Was er auf dem Rücken trug, waren Flügel. Riesige, kraftvolle, an den Körper geschmiegte Flügel.
Ich staunte. Meine Mutter hatte mir nie von Bekanntschaften mit Engeln erzählt. Ein bisschen beleidigt war ich. Dass sie es mir vorenthalten hatte.
Uriel leuchtete Raffael an. Er trat an ihn heran, als wären wir anderen nicht da. Er war viel größer als Raffael und muskulöser. Einen Moment dachte ich, Uriel würde ihn angreifen, so brüsk, wie er sich an ihn wandte. Doch stattdessen sprach er.
„Mutig von dir hier einfach so aufzutauchen.“
„Das Gleiche könnte ich dir auch sagen. Allen anderen könnte ich es sagen!“
„Du weißt vielleicht nicht, dass mir die Geschichte von Venedig zu Ohren gekommen ist. Das ist etwas ganz Anderes.“
Raffael erbleichte, sein Körper spannte sich sichtbar. Auch meine Mutter zuckte zusammen.
„Uriel, wir haben doch entschieden, die Vergangenheit heute ruhen zu lassen. Bitte. Beherrsch dich.“
Ich merkte plötzlich, dass Minou meine Hand ergriffen hatte. Ihre kleinen Nägel stachen mich.
Uriel seufzte tief und entspannte sich, schaltete die Taschenlampe aus. „Also gut. Du hast Recht. Es gibt jetzt Dinge, die Vorrang haben. Kommt mit.“
Wir setzten uns in Bewegung. Ich hielt noch immer Minous Hand.
Schweigend durchwanderten wir den nächtlichen Wald. Es war nichts zu hören außer des gelegentlichen Knackens von Zweigen unter unseren Füßen oder irgendwo in der Dunkelheit. Nicht einmal der Wind rauschte durch die Wipfel und auch der Schnee hatte aufgehört.
Uriel machte vor einer Steinwand Halt. Ich sah mich um, so gut es in der Nacht möglich war, und staunte, wie bergig es vor uns wurde. Ich hatte wirklich nicht den blassesten Schimmer, wo wir waren. Ich wusste von keinem Gebirge in der Nähe.
Uriel fuhr mit der Hand am Fels entlang. Er verschwamm, wo Uriels Hand ihn berührte, wurde durchsichtig und löste sich schließlich ganz auf. Dahinter lag ein finsterer Tunnel. Uriel machte uns ein Zeichen, dass wir ihm hindurch folgen sollten. Meine Angst war purer Neugier und Aufregung gewichen. Ich zögerte nicht. Auch die Anderen folgten eilig.

Wir befanden uns noch innerhalb des Berges, um uns herum streckten sich zerklüftete Felswände in die Höhe. Aber der Ort glich eher einem Kessel, denn zum Himmel hin war er geöffnet und ließ einer herrlichen Sternendecke Einblick. Lichte Baumbewachsung umgab uns und in der Mitte des Kessels konnte ich die Umrisse eines großen Holzhauses mit mehreren Stockwerken ausmachen.
Uriel marschierte direkt darauf zu, und wir hintendrein.
„Seit zwei Monaten ungefähr wohne ich wieder hier. Schert euch nicht um die Unordnung und den Dreck. Ich komme nicht dazu, das Haus auf Vordermann zu bringen.“
In der Dunkelheit bekamen wir sowieso nicht viel mit vom Dreck.
„Willst du nicht den Kamin anmachen, damit wir es etwas gemütlicher und wärmer haben?“
Ich war dankbar für Raffaels Vorschlag. Uriel schien die Kälte nicht zu spüren, aber wir Anderen zitterten. Statt zur Tat zu schreiten, sah Uriel Raffael lange und forschend an. Ich weiß, er sagte nichts, weil wir da waren. Dann schichtete er das Holz im Kamin und ließ ein Feuer auflodern.
Es gab warme Decken im Haus, die Böden waren mit Teppichen und Fellen ausgelegt und die Fenster gut isoliert. Es dauerte nicht lange, bis wir es wohlig warm hatten. Jetzt war ich gespannt zu hören, welche Rolle Uriel in der Geschicht spielte.
Er sah nicht unbedingt aus, wie die Engel, die meine Mutter in ihren Geschichten beschrieben hatte. Zwar war er groß und athletisch, hellhaarig und hellhäutig, aber die ganze Zeit über trug er einen grimmigen, verschlossenen Gesichtsausdruck. Er war wohl auch nur ein Mensch, mit seinem Groll, seiner Verletzbarkeit und seinem Stolz.
Während wir uns am Feuer wärmten, saß er da und starrte aus dem Fenster, als wüsste er nicht, dass wir Erklärungen von ihm erwarteten.
„Was hast du die zwei Monate gemacht, die du schon hier bist?“, fragte meine Mutter. „Erst taucht aus dem Nichts Raffael auf, dann kommt eine völlig unerwartete Nachricht von dir... Das kann doch kein Zufall sein.“
„Nein“, sagte Uriel. Er sah Raffael misstrauisch an. „Ich vermute, wir haben den gleichen Grund dich aufzusuchen, Loreley.“
„Dann weißt du auch von dem fehlenden Blatt? Woher? Jetzt bezweifelst du wohl nicht länger die Existenz des Buches!“
Uriel schüttelte den Kopf. „Ich habe seine Existenz nie bezweifelt. Nur war ich immer der Überzeugung, dass man sich besser alleine nach ihm auf die Suche machen sollte.“
„So ist das also. Davon hast du aber nie etwas verlauten lassen.“ Raffael blitzte Uriel an. Ich spürte, wie alte Wunden aufrissen.
„Wir waren jung. Ich habe mich nicht getraut gegen dich zu sprechen. Bis jetzt.“
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?“
„Du hast falsch gegen Lilith geurteilt.“
„Möglich! Aber wie du sagst: Wir waren jung und haben Fehler gemacht.“

„Hast du nun das fehlende Blatt, Loreley?“ Uriel wandte sich an meine Mutter und ignorierte Raffael.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber es muss einen Grund geben, weshalb eure beiden Spuren zu mir führen.“
„Oder in dein Haus“, korrigierte Raffael. „Das ist, was ich vermute.“
Die Rede von dem fehlenden Blatt, das sich möglicherweise in unserem Haus befand, ließ mich an unsere Bibliothek denken. Ich hatte im Laufe meines Lebens fast alle Bücher mindestens einmal in der Hand gehabt. Mir schien, ein Blatt ließe sich am besten in einem anderen Buch verstecken. Vermutlich waren dies auch die Gedanken von Raffael und Uriel gewesen.
„Aber weshalb, Raffael, suchst du so dringend nach dem Blatt, wenn du die roten Dächer doch schon gefunden hast?“
Raffael seufzte. „Ja, ich war da. Aber ich bin nicht bewusst dorthin gelangt. Mir ist es ähnlich wie Simon von Stroturing, dem Autor des Buches, bei seinem ersten Besuch ergangen. Mir fehlt ein Stück Erinnerung, beziehungsweise ist die Erinnerung sehr verschwommen und bizarr. Mir ist als erinnerte ich mich an einen Traum, wenn ich versuche den Weg zu den Dächern zurückzuverfolgen.
Aber Simon von Stroturing ist ein zweites Mal den Weg zu den Dächern gegangen. Und bei diesem zweiten Mal war er vollkommen anwesend. Er hat den präzisen Weg oder den Zauber oder was auch immer das Geheimnis ist, auf diesem fehlenden Blatt niedergeschrieben und es lose in das Buch gelegt. Ich weiß nicht, ob absichtlicherweise oder törichterweise. Jedenfalls war vorauszusehen, dass es recht bald verschwindet.
Von Stroturing hatte keine sehr guten deskriptiven Fähigkeiten. Das ganze Buch wirkt mehr wie eine Erzählung, er hatte Spaß daran die Ereignisse und Fakten zu verzerren oder ganz wegzulassen, was ihm zu langweilig erschien. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Buch befasst, ich glaube mehr als alle anderen, die es bisher gelesen haben. Und mittlerweile bin ich der Meinung, dass von Stroturing absichtlich das Buch wie ein Märchen gehalten hat. Aber diese fehlende Seite. Ich habe gehört, dass sie sehr gegen von Stroturings Gewohnheit geschrieben ist. Er hat mehrere Monate gebraucht um diese wichtigen Informationen exakt und kurz auf dieses eine Blatt zu zwängen. Der Mann, der mir dies erzählte, ein tibetanischer Mönch, war in dem Besitz des Blattes gewesen und hatte aufgrund seines Informationsgehalts den Weg zu den Dächern eigenständig und ohne Umwege gefunden. Er wollte mir aber nicht sagen, was Blatt und Buch miteinander verbindet. Denn man benötigt beide um den Weg tatsächlich zu finden.“
Uriel nickte. „So habe ich es auch erfahren. Durch Zufall, ich hatte die Suche nach dem Buch längst aufgegeben, kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ebenfalls im Besitz des Blattes gewesen war. Sie allerdings hatte es nicht zu den Dächern geschafft, da ihr das Buch fehlte. Sie bereute es tagtäglich keine Kopie von dem Blatt gemacht zu haben. Dieses Phänomen ist bisher immer aufgetreten: Diejenigen, die im Besitz des Buches oder des fehlenden Blattes gewesen waren, haben seine Bedeutung unterschätzt oder nicht damit gerechnet es jemals wieder zu verlieren. Aber jeder bereute bitterlich, wenn es erst einmal weg war, kein Duplikat davon gefertigt zu haben.“ Uriel wandte sich an Raffael. „Was ist mit dir? Hast du eine Kopie?“
Raffael schüttelte den Kopf.
„Zurück zum Thema“, sagte meine Mutter. „Denn es beunruhigt mich immer mehr, dass die Fäden in mein Haus laufen und ich nicht weiß, weshalb. Könnt ihr endlich sagen, was euch auf meine Spur gebracht hat?“
„Im Grunde war es jemand von unserer alten Gruppe.“ Raffael lächelte gequält. Vieles wirkte gequält an ihm. Nicht seiner Verletzung wegen. Er wirkte seelisch gequält. Und es lag nicht an dem Blatt, das er suchte. Er suchte noch etwas Anderes, etwas viel Geheimeres.
Ich hatte ein Gespür für die Dinge, welche die Seelen der Menschen um mich herum bewegten.
„Jemand, der dich in der Anfangszeit sehr oft besucht hat. Jemand, der oft auf deinen Festen war. Dieser Jemand hat gesagt, das Blatt befinde sich in deinem Besitz.“
„Das muss ein Irrtum sein. Kannst du nicht konkreter werden?“
„Ich weiß nicht, ob du willst, dass deine Kinder den Namen hören.“
„Nein, das will ich nicht.“ Meine Mutter sah uns an. „Ich möchte nicht, dass ihr noch tiefer hineingezogen werdet. Diese Querelen hätten längst vorbei sein müssen. Ich habe Angst, dass euch zu viel Wissen schadet.“
Ich nickte stumm, nahm Minou bei der Hand und verschwand ohne ein Wort. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schlafzimmer. In mir brodelte es, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter. Ich war fest entschlossen meine Nachforschungen auf eigene Faust weiterzuführen. Sollte meine Mutter doch glauben, mich interessiere das alles nicht.

Mitten aus dem Schlaf wurde ich gerissen. Es dauerte, bis ich wusste, wo ich war. Dann lauschte ich nach der Ursache, die mich geweckt hatte. Uriel und Raffael stritten vor dem Haus, direkt unter meinem Fenster.
„Du hast nicht nur die Gruppe auseinander gebracht, sondern auch meine Freundschaft skrupellos verraten.“
„Ich war dir nie zu etwas verpflichtet, Uriel. Es war Liliths freie Entscheidung. Wäre ich es nicht gewesen, wäre es ein Anderer gewesen. Du kennst Lilith und eigentlich solltest du wissen, dass sie nie so zu dir gestanden hat wie du zu ihr.“
„Was maßt du dich an über Liliths und meine Beziehung zu urteilen? Wie kannst du ohne Scham ihren Namen in den Mund nehmen, nachdem du sie erst verstoßen und dann verführt hast?“
Raffael lachte bitter auf. „Wir beide wissen sehr genau, dass Lilith nicht die Person ist, die sich verführen lässt.“
„Du hast sie mit Worten umschmeichelt, wie du es immer getan hast. Wie du es bei uns getan hast. Wir sind dir gefolgt, geblendet von deiner Begeisterung für das Buch, das du eifersüchtig vor uns versteckt hast, auf das wir kaum einen Blick werfen durften. Und trotzdem sollten wir deine Leidenschaft teilen, den Schlüssel zum Ruhm darin sehen. Zu deinem Ruhm. Konntest du Lilith damit verführen? Hast du dich mit deinem Erfolg gebrüstet die Dächer gefunden zu haben?“
„Sie wollte alles erfahren, alle Geheimnisse, die der Ort birgt. Sie sagte, sie würde alles dafür tun...“
Ich hörte ein kräftiges Rauschen und Schlagen. Einen Moment dachte ich, Uriel wäre auf Raffael losgegangen, aber dann sah ich etwas Weißes in den Himmel steigen. Uriel flog davon.

***​

„Damit du endlich weiterkommst, werde ich dir verraten, wo sich das fehlende Blatt befindet“, schnurrte die Katze. Sie hockte auf dem Fensterbrett und beobachtete mein Treiben. „Es befindet sich tatsächlich in diesem Haus. Zumindest eine Abschrift davon.“
„Warum bist du nicht schon vorher damit rausgerückt?“, fragte ich verärgert.
„Ich musste dir doch eine Chance lassen. Und bisher hast du dich wacker geschlagen. Aber wir wollen die Dinge ein wenig beschleunigen, nicht wahr?“ Sie blinzelte.
Sie hatte meine volle Aufmerksamkeit.
„Suche wieder in der Truhe deiner Mutter. Dort wirst du ein handgebundenes Manuskript finden, das nie veröffentlicht wurde. Der Autor hat die fehlende Seite, eitel wie er war, in seine Geschichte integriert. Deine Mutter sollte das Manuskript lesen und lektorieren. Und dann wieder zurückschicken. Sie hat es aber nie getan. Die Götter wissen, wieso.“ Sie blinzelte wieder. Die Katze hatte eine angenehm schnurrende Stimme. Fast lullte sie mich ein in ihre Erzählung.
„Nun lauf schon, Jascha. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Ich lief. Doch vor der Schlafzimmertür meiner Mutter kam ich zu einem abrupten Halt. Sie war verschlossen. Vorsichtig legte ich ein Ohr an die Tür. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt ein Spion im eigenen Hause zu sein. Nichts war zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter und Raffael weggegangen waren.
Kurz entschlossen klopfte ich. Als nichts geschah, drückte ich die Klinke herunter. Das Zimmer war leer. Mein Herz klopfte und nun überkam mich doch das schlechte Gewissen. Das Schlafzimmer trug den unverkennbaren Duft meiner Mutter. Der Duft, der mich durch die Kindheit begleitet hatte, in dem ich mich geborgen fühlte, der mir so viel Liebe entgegen brachte.
Ich schluckte und versprach mir, meiner Mutter alles zu erzählen, wenn der Zeitpunkt kam.
Dann flitzte ich zur Truhe und wühlte bis in die Tiefe, bis ich das Manuskript fühlte. Es war provisorisch gelocht und mit einer Schnur zusammen gebunden und handgeschrieben. Nicht die Arbeit eines professionellen Schriftstellers.
Ich machte, dass ich aus dem Zimmer kam, nicht ohne vorher die Spuren meines Eindringens zu verwischen.
Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa und die Katze kam an meine Seite gesprungen. Ich betrachtete das Manuskript und mein Herz sank. Es war auf Italienisch geschrieben. Von einer Sofia Arcangiolo.
Ich stutzte. Und überlegte, warum ich stutzte. Dann traf es mich wie der Blitz. Sophie Mirabeau im Arcangeli-Verlag und Sofia Arcangiolo.
„Es sind dieselben, nicht wahr, Katze? Nur welche ist die Echte?“
„Sieh sich einer den Titel an“, sagte die Katze. „Wie anmaßend ihr Menschen doch sein könnt.“
„Du kannst es verstehen?“
„Angeli argenti in cieli azzurri. Silberne Engel in blauen Himmeln.“
Ich lachte. „Die Anspielung ist offensichtlich. Aber wie soll ich diese bestimmte Seite finden, wenn ich kein Wort verstehe?“ Meine Stimmung verdüsterte sich schlagartig.
„Lass es mich lesen.“
Ich zögerte. Dann kam mir eine bessere Idee. „Nichts für ungut, Katze, aber ich kenne jemanden, der Italienisch kann. Wenn ich das Manuskript irgendwo hier liegen lasse, muss ich befürchten, dass Raffael oder meine Mutter es finden.“
„Dann will ich dir dennoch mehr zu der Autorin sagen. Schließlich war ich immer in der Nähe, wenn Sofia zu Besuch kam. Und da niemand einer Katze Beachtung schenkt, auch wenn es um intime Gespräche geht, habe ich interessante Dinge erfahren. Hör zu, Jascha.“
Ich hörte gierig zu. Und machte eine mentale Notiz, der Katze ein prächtiges Wurstbrot zu geben.
„Sofia Arcangiolo ist ihr richtiger Name. Sie hat sich als Autorin das Pseudonym Sophie Mirabeau zugelegt, weil sie Angst hatte von Gestalten ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden.“
„So wie alle Personen um meine Mutter herum Angst vor der Vergangenheit haben“, sagte ich.
„Und mit Recht. Diese Gruppe von Freunden hat eine Menge angerichtet in jungen Jahren und viel entdeckt, was hätte unentdeckt bleiben müssen.
Aber nun zu Sofia. Ihre Schwester, Aemilia, lebt unter dem Decknamen Amélie Mirabeau. Sie kennst du auch. Die wichtigere Person ist aber Sofia. Seit jeher hat sie geschrieben und Geschichten erzählt. Deine Mutter hat viel über Märchen von Sofia gelernt, sie war immer ihre begeistertste Zuhörerin.
Nun, eines Tages kamen Sofia und Aemilia zu einem unserer Feste mit Sorgen auf der Seele. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und hielt meine Ohren den Tag über in Hörweite der Schwestern. Irgendwann setzten sie sich mit deiner Mutter in den Garten und ich folgte ihnen. Was ich hörte, war haarsträubend, aber soweit ich es beurteilen kann, die Wahrheit. Sofia sagte, seit einiger Zeit bewahrheiteten sich ihre Geschichten. Sie hatte einen Roman geschrieben, der in Nîmes spielte. Der Stadt, in der sie mit Aemilia lebt. Aemilia hatte das Buch ebenfalls gelesen und konnte bestätigen, was Sofia so eigenartig aufgefallen war: In Nîmes lief jede einzelne Gestalt aus Sofias Romanen herum. Zunächst waren es äußerliche Übereinstimmungen, die sie stutzen ließen. Beispielsweise lief ihnen eines Tages ein Ehepaar über den Weg, das exakt der Beschreibung in Sofias Roman entsprach. Am selben Tag, erzählten sie, speisten sie in einem Restaurant, in dem sie auf einen jungen Mann aufmerksam wurden, der auffällig gekleidet war und ein erregtes Gespräch am Handy führte. Nicht nur die Tatsache, dass ein exzentrischer junger Mann eines Abends in einem Restaurant am Handy mit seinem Bruder stritt, wirkte wie die ins Leben gerufene Restaurantszene aus Sofias Roman, auch die Worte am Telefon waren die gleichen. Sofia konnte sie mitsprechen.
Nach dieser erschreckenden Erfahrung fassten die Schwestern den Entschluss in ein portugiesisches Städtchen zu fahren, in dem ein weiterer, kürzlich erschienener Roman Sofias spielte. Dort erlebten sie das gleiche schauerliche Schauspiel. Sie lasen in der Zeitung von dem Mord an einer gewissen Filipa Peres. Sowohl der Name der Toten als auch Ort, Zeit und Hergang des Mordes stimmten überein. Sofia gab der Polizei einen anonymen Hinweis auf den Mörder. Überflüssig zu sagen, dass sie ins Schwarze traf. Der springende Punkt ist allerdings, dass Sofia später auffiel, dass in ihrem Roman die Polizei ebenfalls den Hinweis auf den Mörder von einer anonymen Person erhalten hatte. Und dass Sofia, als sie den Roman geschrieben hatte, sich nie Gedanken gemacht hatte, wer diese Person war.“ Die Katze machte eine Pause.
Ich spürte, wie käseweiß ich war. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Meine Stimme war heiser.
„Keineswegs. Und dein Schreck ist nichts gegen den Schreck, den Sofia und Aemilia davontrugen, mein Lieber. Sie erzählten die Entdeckung deiner Mutter, weil sie niemand Anderem vertrauen konnten. Aber wie hätte deine Mutter ihnen helfen sollen? Den einzigen Rat, den sie Sofia geben konnte, war aufhören zu schreiben. Ein weiser Rat. Aber das wäre so, als wollte man Sofia den Sinn ihres Leben rauben.“
„Und dann fiel Sofia das fehlende Blatt in die Hände. Und sie schrieb dieses Buch, das meine Mutter nie gelesen hat, weil sie Angst vor dem Inhalt hatte. Das habe ich jetzt auch! Meine Herren, ganz schön makaber von Sofia so etwas zu tun! Warum hat sie es meiner Mutter gegeben?“
Die Katze zuckte mit den Ohren. „Das weiß ich nicht. Es fehlt ein Stück in dieser Geschichte. Jetzt liegt es an dir, weiterzuforschen.“
Ich schwieg beklommen.
„Sag nicht, dass du kalte Füße bekommen hast. Jemand muss das Gewirr auflösen.“
„Warum bist eigentlich du so erpicht darauf die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. „Das wiederum ist mein Geheimnis.“
 

FrankK

Mitglied
Hallo Greenlia

Ich saß am Fenster und es regnete. Es war Januar und obwohl erst früh am Nachmittag schon stockdunkel. Die Regenwolken verdunkelten das Wenige an hellem Himmel und schafften eine triste Stimmung. Noch trister als sie ohnehin war.
Bitte entschuldige, aber ich gratuliere, damit ist Dir eine wirklich triste Einleitung gelungen.
Wiederholungsform: „stockdunkel“ / „verdunkelten“
Die beiden Sätze könnte man zusammenfassen:
„Es war Januar und noch früher Nachmittag, aber die Regenwolken verdunkelten das Wenige ...“

Ich gähnte und stierte in die Dunkelheit. Meine Langweile grenzte schon an Depression.
Ich dachte nur: Wenn das so weitergeht, verfällt auch der Leser in eine Depression.

… aber die Katzen mochten mich. Vielleicht lag es daran, dass ich mir Mühe gab mit ihnen, dass ich mit ihnen redete, wie mit Menschen. Oder wahrscheinlich besser als mit Menschen.
Den letzten Satz musste ich mehrmals lesen, bis ich seine Bedeutung begriff. Zumindest hoffe ich das. Wolltest Du ausdrücken:
„Oder, wahrscheinlich besser, dass ich lieber mit Katzen als mit Menschen rede.“

Er ließ sich Zeit der Tag, kroch dumpf durch den eisernen Morgen, den feuchten Mittag, den Regen am Nachmittag, um dann am Abend aus der Lethargie zu brechen. Und das in einem gewaltigen Szenario.
Wir hatten doch schon den Nachmittag erreicht, diese Eintönigkeit ist zu eintönig.

Meine Gedanken verketteten sich, blieben an Erinnerungen hängen, Bier und Bücher, Mädchen und warme Nächte.
Die erste, versteckte Andeutung, der Hauptcharakter könnte männlich sein. Die „melancholische“ Betrachtungsweise empfand ich bisher als weibliche Ausdrucksform.

Es war nach zehn, als es klingelte.
Oh, welch gewaltiges Szenario. Verzeih mir, aber hier musste ich wirklich lachen. Und immer noch dumpfe, triste Lethargie.

Die Gestalt wand sich und zitterte. Mit einiger Anstrengung hievte ich sie auf das Sofa. Meine Frage, wer sie war und was sie hier wollte, blieben noch nach mehrmaligem Fragen unbeantwortet.
Warum immer noch eine „unbekannte Gestalt“ und nicht „ein fremder Mann“? Entkleidet, erste Hilfe geleistet und immer noch nur eine „Gestalt“?

Ich schickte die Katze nach oben, um meine Mutter und meine Schwester zu holen.
An dieser Stelle ein unerwartetes „Häh?“ Was ist denn jetzt los? Erst sehr viel später erahnt man, dass mehr hinter diesem kleinen Satz steckt. Aber dann ist dieser kleine Satz schon längst wieder vergessen.

Wann wir endlich schlafen gingen oder ob wir saßen und lauschten, bis der graue Morgen graute, kann ich nicht sagen.
„… der graue Morgen graute …“
Entschuldige, aber kein Kommentar … ;)


Seit ich mich erinnern kann und noch früher, hatten meine Mutter und ich immer in dem Haus mit dem großen, überwuchernden Garten gelebt.
Korrektur: „überwucherten“
Viele, viele Sinnverwirrende Sätze wie dieser.

Das ging mir durch den Kopf, als ich voller Gedanken in mein Bett kroch. Vor meinem Fenster fuhren bereits die ersten Leute zur Arbeit. Ich war gerädert und hatte keine Lust zu denken. Nicht jetzt, da ich die ganze Nacht damit verbracht hatte, mein Hirn arbeiten zu lassen, Bruchstücke von Erinnerungen aufblitzen zu sehen, Verbindungen zu erkennen und neue Fragen zu finden.
Dies liest sich, als handele es sich um den Abend, an dem der Fremde auftauchte. Es hieß aber vorher schon mal:
Die nächsten Tage verliefen ohne Anfang und Ende, Tag und Nacht verschwammen unter der Präsenz des Fremden und seiner Geschichte.
An dieser Stelle breche ich mal die Detailbetrachtungen ab, es wird zu viel, nur noch ein paar kleine, allgemeine Anmerkungen:
Irgendwie geht das Zeitgefühl verloren. Du verzettelst Dich in Betrachtungen von Gegenwart und Vergangenheit, das ganze ist so ausschweifend und streckenweise langatmig erzählt, das man den Überblick verliert, was ist nun wichtig, was ist relevant für die gesamte Story. Die eigentliche Geschichte bleibt verborgen.

Man erfährt am Anfang unheimlich viel über das Gefühlsleben Deines Hauptdarstellers. Aber nichts, über sein Alter, ist es noch ein Kind, ein Teenager, ein Jugendlicher? Oder sogar noch älter?
Erst deutlich über die Hälfte der Geschichte muss man hinter sich bringen, um zu erfahren, dass es sich um einen männlichen Charakter handelt.

Fast die Hälfte der Geschichte geht es um Erinnerungen und Recherchen um diese Sophie Mirabeau, das ganze wird zusammengefasst in wenigen Sätzen am Schluß noch einmal von der (namenlosen?) Katze wiederhohlt.

In diesem Zusammenhang bleibt besonders der Ausflug in die Bibliothek zu erwähnen, der überhaupt nichts in der Geschichte bewegt hat ausser vielleicht „schmückendes Beiwerk“.

Das ganze Szenario im „Berg“ mit Rafael und Uriel erscheint mir ebenfalls überflüssig. Langgezogene Anreise, angedeuteter Disput und dann müssen die Kinder (und mit ihnen Deine Leser) ins Bett.

Fast übergangslos sind wir wieder zu Hause und reden plötzlich mit der Katze.
Wo ist dieses „zu Hause“ eigentlich?
Ich fühle mich intuitiv auf Grund der von Dir verwendeten Namen irgendwie nach Frankreich versetzt, genauer in den Norden Frankreichs, Normandie oder Bretagnie.

Und dann ist Schluss. Einfach so.

Okay, Du hast Eingangs geschrieben, dies sei der Anfang einer Geschichte. Bisher sehe ich aber noch keinen Anfang, eher eine Andeutung.
Es gibt ein fehlendes Blatt in einem geheimnisvollen Buch. Mindestens ein Engel (Uriel) und eine sprechende Katze spielen mit.

Am Ende ist mir noch eine Kleinigkeit aufgefallen. Kennst Du Dich eigentlich mit Katzen aus?
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz
Der wedelnde Schwanz drückt bei einer Katze, im Gegensatz zum Hund, äußerstes Unbehagen aus.

Es tut mir leid, aber als „Anfang“ ist dieser gesamte Text schon viel zu umfangreich. Wenn Du es schaffen könntest, dies auf ungefähr die Hälfte (oder besser noch weniger) zu reduzieren, würde es sich auch viel leichter lesen lassen.

In der Hoffnung, Dich nicht zu sehr entmutigt zu haben verbleibe ich

Mit Lieben Grüßen

Frank
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

das wird anscheinend ein recht episches werk. aber interessant. ich jedenfalls bin gespannt, wie es weitergeht.
lg
 

Greenlia

Mitglied
Hallo Frank

Zuerst: Glaube mir, Frank, was ich schreibe, bleibt nicht dem Zufall überlassen. Jedes Wort ist so gewollt, wie es ist. Auch wenn es nicht gut sein sollte. Selbst der graue Morgen, der graute. :) Ich seh das nicht so eng mit dem Schreiben, manchmal erlaube ich mir eben eine FREIHEIT. Auch wenn diese spezielle plump ist, da hast du Recht.
Nach dem Kommentar am Ende über Katzen war ich allerdings etwas pikiert. Diese Katze ist die katzigste Katze und wedelt gewiss nicht aus Sympathie mit dem Schwanz.
Ich verstehe auch nicht, warum Melancholie mit Frauen in Verbindung stehen muss. Vielleicht hat dich die Tatsache, dass die Autorin weiblich ist, darauf schließen lassen, dass es auch der Protagonist ist?
Insgesamt sag ich: Nur die Ruhe. Ich will keine Geschichte schreiben, die hinter jeder Tatsache Erklärungen hinter sich her ziehen muss. Manche Dinge stehen der Vorstellungskraft des Lesers frei, andere Dinge werden später gelüftet. Eigentlich soll die Geschichte eher Märchencharakter haben, aber daran muss ich noch kräftig feilen.

Ich habe seit Jahren nicht mehr geschrieben, also verzweifel nicht an mir, ich probiere mich aus. :)

Danke für deine Mühe! Ich geb mir auch Mühe.
 

Greenlia

Mitglied
Hallo flammarion

Danke, dass du den Text gelesen hast. Ich bin auch gespannt, wie es sich entwickelt und vor allem, ob ich nicht vorher aufgebe. Das passiert so oft. Ich bin auch gespannt, ob mein Stil mir irgendwann so gehorcht, wie ich es möchte.

Gruß!
 

FrankK

Mitglied
Hallo Greenlia

Da bin ich aber beruhigt, dass die Worte in deinen Texten nicht blos zufällig da stehen. :)

Diese Katze ist die katzigste Katze und wedelt gewiss nicht aus Sympathie mit dem Schwanz.
Dazu mal der Zusammenhang:

„Warum bist eigentlich du so erpicht darauf die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
Die Katze starrte mich aus grünen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. „Das wiederum ist mein Geheimnis.“
Aus diesen Zeilen geht aber keine Antipatie / kein Ärger, den die Katze empfinden könnte, hervor, die Zeilen klingen noch zu sanft. Daher meine Fehldeutung mit dem "Wedeln".
Hätte "das Kätzchen" doch nur etwas strenger reagiert.Beispiele:
„Das wiederum ist mein Geheimnis!“
oder
„Das wiederum ist mein Geheimnis!“, antwortete sie empöhrt.
oder
„Das wiederum geht dich gar nichts an!“

Ich verstehe auch nicht, warum Melancholie mit Frauen in Verbindung stehen muss. Vielleicht hat dich die Tatsache, dass die Autorin weiblich ist, darauf schließen lassen, dass es auch der Protagonist ist?
Irgendwie hatte ich "Intuitiv" das Gefühl, es wäre eine weibliche Person. Erklären kann ich es nicht, auch nicht mit der Tatsache, dass es sich um eine Autorin handelt. Die ganze beschriebene Gefühlswelt, die Handlungsweise, die Reaktionen erschienen mir einfach weiblich.

Manche Dinge stehen der Vorstellungskraft des Lesers frei, andere Dinge werden später gelüftet.
Die eigentliche Story, die sich als "roter Faden" durch eine Geschichte ziehen sollte, erscheint mir hier erst noch wie ein paar wahllos verteilte "rote Flusen".
Bin dann mal wirklich gespannt, wie Du daraus ein Märchen zaubern willst. ;)

Ich habe seit Jahren nicht mehr geschrieben, also verzweifel nicht an mir, ich probiere mich aus.
Dann zunächst erstmal noch ein "Willkommen zurück"!
Mit Sicherheit werde ich nicht an Dir verzweifeln.
Ich vermute mal ganz stark, Du wirst diesen Text nicht nennenswert verändern, ihn einkürzen, raffen?
Dann könnte ich mich noch einmal daransetzen und ein paar Details herausarbeiten. Mal sehen, ob Du nicht womöglich ein paar "Schnitzer" eingebaut hast. :)

Wo bitte sind die weiteren von den 7 Kommentaren, wies auf der Überblickseite steht?
Keine Ahnung, aber als ich als erster einen Kommentar eingestellt habe, stand der Zähler schon auf "3".
Ich kann nur vermuten, dass das System "versehentlich" Deine zuvor ausgeführten drei Überarbeitungen als Kommentare gezählt hat. Frag mich aber bitte nicht nach dem warum.

Viel Erfolg bei der Fortsetzung und Liebe Grüße

Frank
 



 
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