Vorausschauend

Raniero

Textablader
Vorausschauend

Der elegant gekleidete Herr, der in der großen Stadt am Rhein zugestiegen war, bewegte sich mit seinem flachen schwarzen Koffer und einer mittelgroßen Reisetasche durch den Luxuszug in Richtung Großraumwagen erster Klasse.
Von diesen Wagen gab es nur zwei im gesamten Zug, einer unmittelbar am fahrenden Restaurant, der andere an der Spitze des Zuges gelegen.
Der Reisende bevorzugte, da er keine Platzreservierung vorgenommen hatte, den Wagen vorn am Zuganfang; dieser Großraumwagen war im Allgemeinen, da nicht unmittelbar am Zugrestaurant gelegen, weniger besetzt, und tatsächlich gelang es ihm, nach kurzer Suche einen freien Platz an einer Vierersitzgruppe aus zwei gegenüberliegenden Plätzen, die durch einen Tisch mittlerer Größe getrennt waren, zu finden.
Drei Plätze dieser Sitzgruppe waren bereits von drei ebenfalls recht elegant gekleidete Herren besetzt, und ein jeder hatte seinen Kleincomputer, einen sogenannten Laptop, aufgeschlagen.
An vielen anderen Plätzen des Wagens saßen ebenfalls überwiegend gut gekleidete Personen, in der Mehrzahl männlichen Geschlechts, die Laptops auf kleinen Tischen funktionsfähig aufgebaut. Eine richtige Computergemeinschaft, mochte man glauben, und in der Tat glich der gesamte Großraumwagen eher einem Internetcafe oder einer Computerschule als einem Reisezugwagen.
All diese kleinen Rechner bezogen ihre elektrische Energie, soweit sie nicht netzunabhängig betrieben wurden, aus kleinen Steckdosen, die in die Tische an den Sitzplätzen eingelassen waren.
Es herrschte eine gedämpfte Stille, die nur durch das monotone Klappern der vielen Tastaturen der Kleincomputer unterbrochen wurde.
Hin und wieder erblickte man, was jedoch die Ausnahme bildete, auf einem der komfortabel gepolsterten Plätze jemanden, der nicht in einen Computer, sondern in ein Buch vertieft war.
Die drei Fahrgäste der Vierergruppe blickten kaum auf, von ihren Laptops, als der elegante Herr Platz nahm, nachdem er zuvor die Reisetasche unter dem Sitz
verstaut und den schwarzen Koffer auf dem Tisch deponiert hatte.
Man befand sich offensichtlich unter Seinesgleichen.
Die einzige Neugier, die sich eventuell einstellen könnte, galt höchstenfalls der Art und Ausstattung des Laptops, welches sogleich zum Vorschein käme; nach der teuren Kleidung des Neuankömmlings zu urteilen, war mit einem Gerät modernster Prägung zu rechnen. Umso größer jedoch war das Erstaunen wenn nicht gar Entsetzen der drei, als sie aus den Augenwinkeln wahrnahmen, dass ihr neuer Tischnachbar statt des erwarteten Minicomputers ein völlig anderes und in diesem Luxuswagen niemals für möglich gehaltenes Utensil aus seinem schwarzen Koffer ans Tageslicht beförderte; einen flachen Zweiplattenherd, etwas kleiner als die handelsüblichen Modelle und alles in allem kaum größer als ein normaler Laptop.
Die drei Fahrgäste glaubten, ihren Augen nicht zu trauen; so etwas hätten sie im Leben nicht erwartet, und schon gar nicht von einem Herrn in einem solchen Outfit.
Diesem aber schien die Reaktion seiner Tischnachbarn nichts auszumachen; ungerührt steckte er den Stecker der Herdplatte in die noch freie Steckdose, deponierte den schwarzen Koffer unter seinem Sitzplatz und zog stattdessen die Reisetasche wieder hervor, aus der er zum weiteren Entsetzen der drei Mitreisenden nacheinander einen kleinen Kochtopf, eine Bratpfanne, eine Konservendose und ein paar Eier entnahm.
„Das ist aber hier nicht üblich, mein Herr“, entfuhr es dem ersten der drei Tischnachbarn, einem Mann um die fünfzig, mit graumelierten Schläfen, „in einem solchen Ambiente, ich meine, in einem so schönen Wagen!“
Unter den drei Tischnachbarn, die nacheinander an verschiedenen Bahnhöfen in Städten des Ruhrgebietes zugestiegen waren und deren Kommunikation bisher nicht über ein paar Höflichkeitsfloskeln hinaus gekommen war, begann sich eine Solidargemeinschaft zu bilden, gegen den Eindringling mit der Kochplatte.
Dieser war gerade damit beschäftigt, die Konservendose, die ein Fertigsuppenprodukt enthielt, zu öffnen und den Inhalt in den Topf zu gießen, ohne auf die Frage zu reagieren.
„Meinen Sie nicht, das ginge zu weit,“ ließ sich der zweite aus der Runde der Aufrechten, ein noch junger Mann um die Dreißig, vernehmen, „auf eine solche Weise diesen Zug, das Glanzstück der Flotte, zu entweihen?“
Der Inhaber des Kochgeschirrs zeigte weiterhin keine Reaktion; er nahm stattdessen ein paar Eier aus den unergründlichen Tiefen seiner Reisetasche und schlug sie in die Pfanne.
„Sagen Sie mal,“ platzte dem dritten aus der Runde der Kragen, „was soll das denn? Es gibt doch einen Speisewagen hier im Zug!“
„Derer sogar zwei!“ korrigierten die beiden anderen.
„Meinen Sie mich, meine Herren“, ließ der Herr der zwei Flammen zum ersten Mal seine sonore Stimme vernehmen, „sprechen Sie mit mir?“

Im gleichen Augenblick ertönte eine Durchsage über die Lautsprecher des Großraumwagens:
„Sehr verehrte Reisende, meine Damen und Herren! Wir bedauern außerordentlich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass in beiden Zugrestaurants aufgrund eines technischen Defektes an den Küchenanlagen derzeit keine warmen Speisen zubereitet werden können. Wir sind natürlich bemüht, diesen Mangel schnellstmöglichst zu beseitigen, allerdings ist es uns im Moment nicht möglich, eine Aussage darüber zu machen, wann die Anlagen wieder zur Verfügung stehen. Wir bitten um Ihr Verständnis!“
Die drei eingeschworenen Laptopfans blickten einander an, verdutzt und verärgert zugleich.
„Verflucht!“ entfuhr es dem Graumelierten in einem Tonfall, der absolut nicht zum vornehmen Ambiente passte, „gerade eben wollte ich in den Speisewagen gehen. So eine Sch..!“
„Ich ebenfalls!“
„Ich auch, verdammt. Immer muss mir so was passieren!“

„Darf ich die Herren zu einem nicht gerade opulenten doch warmen Mahl einladen? Ein Süppchen wie bei Muttern zuhause, und ein paar Eier mit Speck?“

Ein wenig beschämt nahmen sie die Einladung an, die drei Tischnachbarn, und räumten eiligst ihre Labtops vom Tisch, um Platz zu machen für Teller und Besteck.

Nach Beendigung der Mahlzeit räumte der elegante Reisende alle Utensilien vom Tisch und verstaute sie in der Reisetasche, außer der Herdplatte; diese drehte er zur Verblüffung seiner Gäste einfach um; zum Vorschein kam ein funktionstüchtiger Laptop. In der Tat, eine vorausschauende Sichtweise, dachten die drei Tischfreunde und ließen sich die Adresse der Herstellerfirma des Gerätes geben.
 
Die Idee vermag grundsätzlich zu gefallen. Als die Herdplatte herausgeholt wurde, musste ich demnach auch Schmunzeln.
Leider plätschert der Text es davor und danach doch sehr vor sich hin. Auch wirken die Wendungen etwas konstruiert. Vorschlagen würde ich daher eine deutliche Kürzung des Textes. Ob es unbedingt zwei Speisewagen sein müssen (die vielleicht beabsichtigte Überspitzung funktioniert hier nicht), wäre außerdem eine Überlegung wert.
 



 
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