Vorurteile

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Daunelt

Mitglied
Vorurteile


Meine Vorurteile und detailreichen Worst-Case-Szenarien lasse ich mir nicht nehmen: sie werden gepflegt und ausgebaut zu umfassenden Systemen. Ein Beispiel: ich möchte an einem gewöhnlichen, werktäglichen Nachmittag in die Stadt fahren, eines meiner Lieblingscafés besuchen, in Ruhe lesen, schreiben, beobachten, den stillen Kampf ausfechten: Selbstbeherrschung gegen Tortenbüfett. Aber ich weiß, nun wäre besser zu sagen: ich glaube zu wissen, dass ich unbedingt vor 15.00 Uhr eintreffen muss, sonst ist unweigerlich jeder irgendwie akzeptable Platz (also alles, außer den Katzentischen) belegt. Da werden die üblichen Zeitgenossen wieder vor mir da sein, die Zeit und Geld genug haben, während der normalen Arbeitszeit ihre Hintern in den Lokalen breitzusitzen. Diese bereits jetzt feststehende Tatsache nährt Hassgefühle gegen meine Mitmenschen: alte Frauen, die nie ihre hässlichen Hüte abnehmen, arrogante Schnösel mit modischen Frisuren und ihre stets rauchenden, weiblichen Pendants, Mütter mit riesigen Kinderwagen und kreischenden, unzufriedenen Gören.

Ich beeile mich also, jede Ampel steht auf Rot, ich komme natürlich zu spät, es ist 15.40 Uhr, trotzdem gewagt, um die Ecke zu schauen, voll Bitterkeit – ich erstarre: das Café kaum halbvoll, friedliche, ruhige Menschen mittleren Alters, überwiegend Nichtraucher, mein Stammplatz einladend, keiner starrt mich an, die Kellnerin ungewohnt freundlich. Ich gehe weiter, erledige dies und das, beschließe, wieder heimzufahren. Total beknackt, nicht wahr ? Aber ein Versuch, diese Anfälle von Paranoia psychologisch zu deuten und damit harmloser zu machen: ich brauche, um in dieser mir eigentlich gehörig kalt und feindselig scheinenden Umwelt zurecht zu kommen, Fixpunkte, Ankertaue, einen markierten Wattweg, beleuchtete Straßen. Wenn die fehlen, trifte ich ab. Zu diesem festen Rahmen zählen neben einem ganzen Katalog mehr oder weniger harmloser Rituale (so lege ich beispielsweise abends Portemonnaie, Schlüssel, Kamm und anderes immer genau im Viereck auf dem Tisch ab) eben auch festgefügte Vorurteile und pessimistische Erwartungshaltungen. Und wenn die sich in Wohlgefallen auflösen, ist es, obwohl das Leben doch jetzt eigentlich wieder ein kleines Stückchen einfacher wird, als bekäme mein Schutzanzug irgendwo ein winzig kleines Loch. Ein mehr praktisch veranlagter Part in meinem Ich lacht dann gehässig darüber, wie viel von der möglicherweise knapp bemessenen Lebensspanne und –energie auf solch einen Schwachsinn verwendet wird. „Na, Alter,“ höhnt es in den Hallen meiner Seele, „wieder mal an den Rand der Erdscheibe gerudert und doch nicht heruntergeplumpst ? Tja, sie ist eben doch eine Kugel, du Schwachkopf !“.

Ja, so etwas frustet – und es erstaunt, wie viel wirr geknäultes Gedankengarn in 1.500 ccm cerebraler Masse Platz findet. Übrigens steht es noch nicht ganz so schlimm mit mir: ich bin dann doch in das Café gegangen.
 
H

Haki

Gast
Gut geschrieben...wieder einmal.
Du findest einen eloquenten Weg deine Erlebnisse auszudrücken!.

Grüße,
Haki
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Daunelt,

Du reflektierst sehr angenehm! Folgende Sätze lesen sich wirklich gut:

Zu diesem festen Rahmen zählen neben einem ganzen Katalog mehr oder weniger harmloser Rituale (so lege ich beispielsweise abends Portemonnaie, Schlüssel, Kamm und anderes immer genau im Viereck auf dem Tisch ab) eben auch festgefügte Vorurteile und pessimistische Erwartungshaltungen. Und wenn die sich in Wohlgefallen auflösen, ist es, obwohl das Leben doch jetzt eigentlich wieder ein kleines Stückchen einfacher wird, als bekäme mein Schutzanzug irgendwo ein winzig kleines Loch.

Viele Menschen sind n bisschen durch'n Wind, weil es ihnen an - pragmatisch gesehen: überflüssigen, aber in Summe und von einer "Metaebene" aus betrachtet höchst notwendigen - Ritualen fehlt...

lG

P.
 
O

Orangekagebo

Gast
Eine gute Leistung, Daunelt, und dass um 01.00 Uhr in der Nacht. Alle Achtung. Gelungenes Kopfkino, vor allem:

„Na, Alter,“ höhnt es in den Hallen meiner Seele, „wieder mal an den Rand der Erdscheibe gerudert und doch nicht heruntergeplumpst ? Tja, sie ist eben doch eine Kugel, du Schwachkopf !“
Manches bedarf m.E. nach eines anderen Ausdruckes:
z.B.
schreiben, beobachten, den stillen Kampf: Selbstbeherrschung gegen Tortenbüfett ausstehen.
... einen Kampf ausstehen? Du kämpfst! ... und meinen Kampf fechten wie immer. Selbstbeherrschung gegen Tortenbüfett.

die Zeit und Geld genug haben, während der Normalarbeitszeit ihre Hintern in den Lokalen breitzusitzen
vielleicht: die Geld und Zeit genug haben, während der normalen Arbeitszeit ...

trotzdem gewagt, um die Ecke zu schauen,
Warum gewagt?

Manchmal ist zu viel in die Sätze gepackt, finde ich.
Aber vielleicht sehe ich das nur als Geschichtenschreiber so. Tagebuch ist ja anders. Da werden die Gedanken eben einfach niedergeschrieben.

LG, orangekagebo
 

Daunelt

Mitglied
Hallo,

Danke für Eure freundlichen Kommentare. Die Anregungen zu "Tortenbüfett" und "Normalarbeitszeit" habe ich aufgegriffen und eingearbeitet; "trotzdem gewagt, um die Ecke zu schauen" heißt, daß ich eigentlich gar nicht in das Café schauen wollte, weil es in meiner Vorstellung ja überbelegt war und die Wut auf meine Mitmenschen mich beutelte.

Liebe Grüße

Daunelt
 
B

Beba

Gast
Macken, von denen sich keiner ganz freisprechen kann! ;) Liebevolle Macken, wohlgemerkt!

Habe ich sehr gern gelesen, diesen unterhaltsamen Text.

Ciao,
Bernd
 



 
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