Wahnsinn

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Rhea_Gift

Mitglied
Wahnsinn

Graue Schleier trüben die Augen,
unaufhaltsam bahnt sich glühende Schwärze empor
aus Tiefen nie geschaut,
teerspinnige Finger umklammern den Geist,
ziehen zitternde Furchen in die gequälte Struktur,
die vergißt, was sie einst ordnete -
mit dunkelblutiger Tinte zeichnen Federn
feine Risse,
jäh klaffen sie zu schwindelnden Abgründen
auseinander,
an der splitternden Kante hängt der letzte Rest
verzweifelten
Verstandes,
an der Schärfe des Grates reibt sich heiß
der letzte seidene Faden
seines Netzes
wund,
und

in den trüben Augen
tanzt gefangen
ein kleiner Funke,
der Betrachter
folgt
seinen wilden Sprüngen
zwar mit Faszination,
doch nicht ohne
zuckenden
Kopfschmerz.
 

Venus

Mitglied
unendlich viele dichte bilder, daraus vergleiche, die das nacherleben ganz besonders eindringlich gestalten.
wortkunst in hohem maße

ich bin wirklich sehr beeindruckt!

Venus
 

Jongleur

Mitglied
Hallo Rhea,
ein nachwirkendes Erlebnis, eine der schwierigsten menschlichen Lebenssituationen hast Du Dir da vorgenommen!
Sehr beeindruckend schilderst Du die Verzweiflung, das dennoch sehr Lebendige (glühende Schwärze / dunkelblutig.

So dramatisch gezeichnet das kommt, so fühle ich mich doch als Leser überfordert. Vor allem im ersten Teil des Gedichtes finde ich so viele Interpreationen des Betrachters von außen, so dass die eigentlich beobachteten, wahrnehmbaren Details fast untergehen (trübe Augen, das Loslassen dessen, was einst das Leben ordnete).

Fasziniert hat mich der Satz "vergessen, was einst das Leben ordnete". Wobei meine Überlegung eher dahin geht, ob nicht die geordnete Wahrnehmung der Welt und die Interaktion im Leben "überlagert", dadurch ausgeblendet werden.
Auch der im Text durchscheinende Wechsel an Stimmung von "trüb" nach "Glut".
Insgeamt aber ist mir persönlich der erste Gedichtteil zu sehr dramatisch mit Adjektiven und Bildern "ausgeschmückt".

Wirklich angesprochen hat mich der zweite Teil Deines Gedichtes!! Der Kampf eines Menschen um den Verstand, sich mit letzter Kraft noch wehren, dies Festhalten-Wollen, sich nicht dem Wahn überlassen.
Allerdings empfinde ich eine "Kante", die wechselweise "bröckelig", dann wieder "scharf" ist als Widerspruch. Was hieltest Du davon, für das zweite Bild das Wort "Grenze" zu nutzen?
Dieser Text treibt auch toll voran, in Atemlosigkeit zeigt er ein Verfangensein. Um das zu stützen, würde ich das (langsamermachende) "und" noch entfallen lassen und statt dessen das "tanzt" vorziehen ...

Darf ich ... mal ... am Text zeigen, wie es mir durch den Kopf ging, wie ich es meine, was ich mir auch vorstellen könnte mit Deinem Gedicht??

Sonntagsgruß vom Jongleur




Wahnsinn

An bröckliger Kante hängt der letzte Rest
eines verzweifelten
Verstandes,
an der scharfen Grenze zur Welt
reibt sich der letzte
seidene Faden
seines Netzes
wund,

tanzt,
in den trüben Augen
gefangen,
ein kleiner Funke,

demder Betrachter
folgt,
wilde Sprünge
eines zuckenden
Schmerzes im Kopf.
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi Jongleur,

wie immer dnake für die intensive Auseinandersetzung, die Doppelung der Kante gefiel mir auch nicht. Habe es jetzt geändert, aber anders, als Du vorschlugst. Ich denke, eine Kante und ein Grat lassen sich noch vereinbaren.
Ich wollte sehr im Bild und Gefühl bleiben, nur unterschwellig Interpretationen einbauen, daher lasse ich die Dramatik (ich denke, daß es sowohl gefühlsmäßig kaum bemerkten wie aber auch mit dramatischen Gefühlen sich ankündigenden Wahnsinn gibt).

Gerade das "und" mit folgender Leerzeile ist für mich wichtig, der Faden reißt, daher bricht auch die innere Wahrnehmung ab (läßt sich nicht mehr in verständige Worte fassen) - es folgt der Umschwung zum Betrachter von außen, der (mit der Welt) in der ersten Zeile ausgeschlossen wird. Die Struktur, die vergißt, was sie einst ordnete, meint den Verstand, der zwischen sich und der Welt noch unterscheiden kann - das folgende Chaos ist für den wahnsinnig Werdenden die Realität, der Unterschied entfällt. Über diese Interpretation und Folge läßt sich sicher streiten - und Philosophen streiten sich über die Frage der Wahrnehmung seit ihren Anfängen bis heute darum ;)

Mein Gedicht ist nur ein Versuch, Wahnsinn läßt sich sicher auch anders darstellen...

LG, Rhea
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi Venus,

Rausch und Wahn sind sich nicht ganz unähnlich, vielleicht doch lieber ein Aspirin? Ansonsten auf eigene Gefahr ;)

LG, Rhea
 

Jongleur

Mitglied
Liebe Rhea,
ja, G r a t trifft es auch für mich sehr gut!

... das folgende Chaos ist für den wahnsinnig Werdenden die Realität, der Unterschied entfällt. Über diese Interpretation und Folge läßt sich sicher streiten - und Philosophen streiten sich über die Frage der Wahrnehmung seit ihren Anfängen bis heute darum

Und nicht nur Philosophen. Vor allem Mediziner, Psychologen.

Vor allem über die Frage: Was ist "normal"? Was ist gestört? Was krankhaft? Oder gar: Was ist "Wahn"?

Ein sehr vielschichtiges Thema, das man nicht vereinfachen sollte/kann. Wie Du ja sagst, dass Deine Worte nur eine von vielen möglichen Interpretationen zu Deiner Wahrnehmung (?) oder Vorstellung eines wahnkranken Menschen sind.

Die Empfindungen, Bilder, Beinträchtigungen, das Leid eines Betroffenen lesen sich für uns vermutlich noch einmal ganz anders.

Von Ausstellungen mit Bildern von Patienten der Psychiatrie hört man öfter. Einmal nur hörte ich hier von einem Projekt "Wortverarbeitung" im hiesigen LKH.

Keine Lyrik zwar, aber ein interessanter Titel zum Thema:
Heinar Kipphardt, Merz.

Grüße vom Jongleur
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi Jongleur,

danke für den Buchtip, werd bei Gelegenheit mal danach schauen. Das angeblich "normale" erscheint mir oft doch eher krankhaft (und ich steh damit auch bei Fachkundigen nicht allein mit meiner Meinung...), ein vielschichtiges Thema.
Nun, gefühlsmäßig ist mir eine gewisse Gratwanderung nicht ganz fremd, die ich auch nur metaphorisch in Worte zu fassen weiß. Anders sollte es hier auch nicht gelesen werden. Jeder hat sicher dazu seine eigenen Vorstellungen/Bilder und Interpretationen (wie schon gesagt).

LG, Rhea
 

Vonnie

Mitglied
Hallo Du liebe Rhea,
habe Wahnsinn mit Spannung gelesen. Jetzt fehlen mir die Worte. Aber Du hast mich inspiriert, denn der Wahnsinn ist immer und überall... und vielleicht kann ich ein Gegenstück liefern... wer weiß. Die Dichte Deiner Werke allgemein, und so auch hier, verwirrt mich manchmal. Ich lese sie in der Regel mindestens fünfmal, um einigermaßen durch zu kommen.
Dem Lob zur Wortkunst schließe ich mich absolut an.
Aber manchmal weniger mehr, oder ?!
HDganzdollL,Vonnie
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi Vonnie,

danke Dir - und die Dichte entspricht dem Thema - wer dieses Gedicht als verwirrend, strukturlos, Sturm von Bildern empfindet, einen zuckenden Kopfschmerz beim Lesen verspürt oder es ihn gar wahnsinnig macht - der hat es verstanden!!! ;)

LG und dito, Rhea
 
M

megan

Gast
hallo rhea

mit deinen gedichten geht es mir immer ähnlich, etwas stört mich, etwas an dem ich mich stosse.
Es ist ein bild, eine unebenheit nur.
Dann sinne ich drüber nach und stelle fest, in deinem sehen und empfinden ist es richtig so ... gedichte sind nun mal essenzen aus einer persönlichkeit, darum möcht ich nur sagen : für Mich ist das bild der federn zu weich für den brutalen akt des aufreissens .. und dennoch, ist es das wieder nicht, weil so das schleichende des prozesses deutlich wird

lange rede kurzer sinn

es ist eindringlich so wie es ist

best wishes! kat
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi Megan,

die Federn sind Schreibfedern, sie zeichnen zwar fein (das verbildlicht richtig gesehen den anfangs sich nur unterschwellig anbahnenden Prozess), doch sie kratzen eben schon einmal an der Oberfläche. Gerade das Sprunghafte von feiner Andeutung, die sich jäh zum riesig klaffenden Abgrund auftut, sollte deutlich werden...

Danke für die intensive Auseinandersetzung mit dem Text,

lg, Rhea
 



 
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