Wahnsinn

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Raniero

Textablader
Wahnsinn

Wir bereiteten uns auf den anstehenden Opernabend vor.
„Schatz, welche Oper bekommen wir heute zu sehen?“ flötete mein Weib aus dem Nachbarzimmer.
„Lucia di Lammermoor, Schätzchen, gab ich fröhlich zurück“, ein phantastisches Werk“.
„Worin geht es in diesem phantastischen Werk?“
„Das kann ich dir so zwischen Tür und Angel nicht erklären, Augenblick mal“.
Ich begab mich zu meiner Frau, die gerade versuchte, sich mit hochrotem Kopf in ein für meinen Geschmack viel zu enges Kleid zu zwängen, und versuchte ihr, den Inhalt des Stückes mit wenigen Worten darzulegen.
„Also, im Mittelpunkt dieses dramatischen Werkes steht eine Adelsfrau, die über den Umstand, dass sie den Mann, den sie liebt, nicht heiraten darf und aus Staatsräson einen anderen nehmen muss, dem Wahnsinn verfällt“.
„Wie traurig“, bemerkte meine bessere Hälfte, „das ist ja genauso, als wenn ich...“
„Lass, lass“, unterbrach ich sie rüde.
Wenn meine Frau einen Satz mit „das ist ja genau so“ beginnt, dann folgen meist nicht nachzuvollziehende Vergleiche.
Sie verzog die Mundwinkel, ein wenig eingeschnappt.
Ich änderte den Tonfall.
„Sag mal, mein Schatz“, fuhr ich zärtlich fort, „wärest du auch dem Wahnsinn verfallen, wenn du statt meiner einen anderen Mann hättest nehmen müssen?“
Erwartungsvoll blickte ich sie an.
Mein Weib hielt inne, bei ihrer Toilette, und musterte mich prüfend.
„Ich bin dem Wahnsinn verfallen, schon seit langer Zeit“, bemerkte sie spitz, „aber nicht, weil ich einen anderen, sondern weil ich dich nehmen musste!“
Nun war es mir, beleidigt zu sein.
„Schatz“, schlug meine Frau wiederum einen versöhnlichen Tonfall an, „hilf mir bitte, die Halskette anzulegen. Ich kann hinten doch nichts sehen“.
„Und ich habe meine Brille nicht dabei“, knurrte ich, und verließ erbost das eheliche Schlafgemach.

Mit grimmigen Mienen saßen wir beide im Auto, auf dem Weg zu einem entspannenden Abend. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, sich die Halskette allein umzulegen; nun saß sie wortlos neben mir auf dem Beifahrersitz.
Alles vollzog sich schweigend, nach einem einschlägigen Ritual.
Ich hätte ihr so gern noch einiges von der bevorstehenden Oper erzählt, auf die ich mich seit Tagen vorbereitet hatte, gern noch die eine oder andere Arie geschmettert oder aus dem Kassettengerät zu Gehör gebracht, wie ich es sonst zu tun pflegte, wenn wir nicht in Kampfesstimmung dem Abend entgegensahen.
Wir nahmen unsere Plätze ein, im Parkett, immer noch ohne Worte.
Ich schloss die Augen, um mich der wunderbaren Musik hinzugeben.

Der Höhepunkt der Oper, die Wahnsinnsarie der Lucia war gekommen.
Im Parkett und auf der Bühne herrschte Totenstille.
Merkwürdig, der gesamte Chor auf der Bühne blickte in Richtung Publikum.
Noch immer gelang es mir nicht, mich komplett auf diese Szene, das musikalische high light des Werkes, zu konzentrieren.
Mein Kopf war noch beschäftigt mit dem blöden Streit.
„So ein blöder Abend“, schoss es mir durch den Kopf, „was hat sie nur?“
Im gleichen Augenblick klang es von der Bühne, in edler Sopranstimme:
„So ein blöder Abend, was hat sie nur?“
Mein Gott, was war das denn?
Die Darstellerin der Lucia, die inzwischen die Bühne betreten hatte, war von ihrem Text abgewichen und sang offensichtlich meine Gedanken.
Das war ja ungeheuerlich!
Sie stand mitten auf der Bühne, blickte mir ins Gesicht und sang meine Gedanken.
Ich spürte, wie das Blut mir zu Kopfe stieg.
„Manches mal könnte ich ihn gegen die Wand klatschen!“ tönte es nun von der Bühne. Dieses waren nun allerdings nicht meine Gedanken gewesen, irgend jemand anderes musste so etwas durch den Kopf gegangen sein.
Ich blickte zu meiner Frau hinüber.
Sie hatte den gleichroten Kopf wie ich.
„Aha“, dachte ich, „daher weht der Wind, deine Gedanken liest sie auch, warum musstest du auch mit dem Kopf durch die Wand gehen?“
„Musstest du auch mit dem Kopf durch die Wand gehen?“ erklang es gleichsam als Echo von der Bühne.
Wir blickten uns beide an, mein Weib und ich, mit hochroten Köpfen.
„Sie kann unsere Gedanken lesen“, flüsterte kaum vernehmlich meine bessere Hälfte.
„Ich weiß“, gab ich ebenso leise zurück.
Nun begannen auch die Zuschauer, sich für uns zu interessieren.
Vor uns in den Reihen drehten sich etliche von ihnen um und blickten uns unverhohlen ins Gesicht.
„Dreht euch um, ihr Blödköpfe!“ dachte ich bei mir.
„Ihr Blödköpfe“, hörte man von der Bühne.
„Das hast du nun davon“, dachte ich in Richtung meiner Frau.
„hast du nun davon“ klang es gnadenlos.
„Zum Streit gehören immer Zwei“, klang es weiter.
Mein Weib hatte mir gedanklich geantwortet.
„Wir müssen hier raus“, dachte ich flehentlich; mein Weib schien das gleiche zu denken.
„Sie müssen hier raus“, erklang das Echo von vorne.
„Gib mir deine Hand“, flüsterte ich meiner besseren Hälfte zu, „komm, lass uns gehen!“
„Reich mir die Hand, mein Leben“, klang es nun vielstimmig von der Bühne, der gesamte Chor sang nun mit, „komm auf mein Schloss mit mir!“

Fluchtartig verließen wir unter starkem Beifall des Publikums und aller Darsteller auf der Bühne das Parkett. Wir haben uns geschworen, nie mehr vor einer Opernaufführung einen Streit vom Zaun zu brechen.

Dann schon lieber das Gegenteil; aber wenn sie dann auch wieder die Gedanken lesen können?
Na, dann aber, gute Nacht!
 

Raniero

Textablader
Hallo
flammarion,
freut mich, dass dir diese Story gefallen hat.
Spornt mich an, weiterzumachen, denn wie heißt es doch so abgegriffen aber treffend: Die besten Geschichten schreibt das Leben.

Gruß Raniero
 
M

Melusine

Gast
Hallo Raniero,
über deinen Kommentar musste ich beinahe noch mehr lachen als über deine Geschichte ;). Ist dir das wirklich schon mal passiert, dass Don Giovanni sich in eine Donizetti-Oper verirrte?

Allerdings sind mir zu viele Flüchtigkeitsfehler drin, das hat mir den Lesegenuss ein wenig verdorben. (Tut mir leid, ich bin leider so pingelig...)

LG Mel
 

Raniero

Textablader
Hallo Melusine,

da sieht man einmal, wie sich aus einer harmlosen Donizettioper eine ganze Operngala entwickeln kann.:cool:
Übrigens ist so ein Opernabend ein absoluter Höhepunkt, angefangen von 'ich hab nix zum Anziehen' über 'hast du die Karten?' bis zum unvermeidlichen 'nein, du, du hast sie immer, oder etwa nicht?' in einer ansonsten nicht gerade langweiligen Partnerschaft.

Gruß Raniero
 



 
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