Ob es wahr ist? Gerüchte sind wie fremde Menschen, man weiß nicht, wie sehr man an sie glauben darf. Und gerade jetzt sollte es ein möglichst widerlicher, unausstehlicher Mensch sein, dem man in keinem Fall vertrauen möchte. Denn wenn es wahr ist.. Annette vermag sich nicht vorzustellen, was dann werden soll.
Nachdenklich streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht. Es kann einfach nicht wahr sein. Trotz allem Drill, trotz der Uniformen, trotz aller Befehle sind es doch Menschen, die dort in den Lagern arbeiten. Und es gibt nun einmal Dinge, die man nicht tut; nicht, weil sie einem verboten wurden, sondern weil man ein Mensch ist. Es kann also nicht wahr sein. Ob etwas wahr wird, wenn man es häufig genug wiederholt?
Annette ist die Grübelei satt. Sie hat auch gar keine Zeit mehr, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Wenn der Zug pünktlich ist – keinesfalls sicher in diesen Tagen – dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Harald ankommt. Fast sechs Monate sind vergangen, seit er fort ist, und die Briefe, die sorgfältig in der Pappschachtel unter dem Bett aufgehoben werden, sind doch nur ein schwacher Trost. Aber heute werden sie einander sehen, und es wird wieder sein wie früher. Weil es nicht wahr sein kann.
Er atmet tief ein. Abgase von der Straße. Die Äpfel vom Baum vor dem Bahnhof. Der eigene Schweiß, der von der langen Bahnfahrt in der Uniform hängt. Der Qualm der Zigaretten, ebenfalls noch aus dem Zug. Herrlich. Er bleibt stehen, hebt das Gesicht mit geschlossenen Augen und läßt sich die Sonne auf die Lider scheinen. Diese Luft. Der Lärm der Automobile und das Kinderlachen. Nur ein paar Stunden Fahrt entfernt steigt schwarzer Qualm über drückender Stille auf, und ein süßlicher Geruch hat sich ins Mauerwerk gegraben, in die Baracken, in die Gewehre. Man muß all das weit hinter sich lassen, um wieder frei atmen zu können.
Harald schultert sein Gepäck und macht sich auf den Heimweg. Mütterlicher Befehl: Wenn du ankommst, kommst du aber gleich her, ja? Es gibt Apfelkuchen, frisch gebacken. Er lächelt. Endlich wieder ein Befehl, dem man gern folgt. Keine Alpträume von Schreien. Keine bleichen, ausgemergelten Gesichter. Apfelkuchen. Die warme, zu lange Umarmung der Mutter. Annette. Und diese herrliche Luft.
Es riecht nach Heu, und eine frühe Grille singt ihr Abendlied. Ob es wahr ist? Annette sitzt auf der Bank, in deren Lehne für alle Ewigkeiten ihre Initialen stehen, und wartet. Wenn sie den Hals reckt, kann sie die Scheune sehen, wo sie sich treffen wollen. Daß der Heugeruch bis hierher kommt – erstaunlich. Sie versucht, an Harald zu denken, sich sein Gesicht ganz genau vorzustellen, aber es gelingt ihr nicht. Das letzte Bild, die Fotos, die er manchmal schickt, alle zeigen einen fremden Mann, einen in Uniform. In Uniform wird jeder Hänfling zum Mann, hat Luise immer gesagt. Blödsinn. In Uniform wird jeder zu einem Fremden. Aber darunter, irgendwo zwischen dem Stoff und den Abzeichen und Waffen, steckt ein Mensch, muß ein Mensch stecken. Deshalb kann es nicht wahr sein.
Mit jedem Schritt wird der Geruch intensiver. Harald atmet in vollen Zügen, beschleunigt seine Schritte. Bald rennt er und verliert beinahe die Sandalen. Nach dem schweren Essen tut die Bewegung gut, und er will nicht müde sein, wenn er vor ihr steht. Erst am Scheunentor bleibt er stehen, wartet darauf, daß seine Atemzüge wieder gleichmäßig werden. Ein, aus. Ein, aus. Eins, zwei. Rechts um. Arm ausstrecken zum Gruß. Den Heugeruch einatmen. Das Tor öffnen.
„Annette?“ Er geht ein paar Schritte in das Zwielicht. Berge von Heu bilden eine schmale Gasse, einen Hof, eine Mauer. „Annette?“ Keine Antwort. Zögernd geht er weiter. Seine Hand tastet bereits nach dem Tabakbeutel, aber hier drin wird er das Rauchen lieber lassen. Sie ist nicht da.
Harald haßt das Warten, aber hier, im Zwielicht, allein mit dem alles betäubenden Geruch und in aller Stille läßt es sich eine Weile aushalten. Er läßt sich auf einem der Heuballen nieder, zieht einen Halm heraus und steckt ihn zwischen die Lippen. Hat er nicht geglaubt, sie könne es auch nicht erwarten? Hat er nicht erwartet, sie sei hier? Vermißt er sie in dieser Scheune nicht mehr als noch auf dem Weg hierher? So wie die Sehnsucht im Wohnzimmer größer war als auf dem Gleis? Dies ist Zuhause, und Zuhause ist Annette.
Durch das offene Tor fällt ein Schatten, und er springt auf, läuft ihr entgegen. Sie atmet schwer, und ihr Haar ist in Unordnung, aber sie lacht, als sie in seine Arme fällt. Ihr Körper, ihr Geruch. Ihre Lippen. Ihre Wärme. Ihr Duft.
„Wo warst du solange?“ bringt er zwischen zwei Küssen hervor, aber die Antwort ist ihm eigentlich gleich. Sie ist ja jetzt hier, und nichts anderes zählt.
„Ich war immer hier“, antwortet sie, und ihre Finger gleiten über die Knopfleiste seines Hemdes. „Ich war hier.“
Es ist nicht wahr. Sie liegt neben ihm, den Kopf auf seiner Brust, die sich gleichmäßig hebt und senkt, während er schläft. Im Zwielicht kann sie es genau erkennen. Es ist nicht wahr.
Nachdenklich streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht. Es kann einfach nicht wahr sein. Trotz allem Drill, trotz der Uniformen, trotz aller Befehle sind es doch Menschen, die dort in den Lagern arbeiten. Und es gibt nun einmal Dinge, die man nicht tut; nicht, weil sie einem verboten wurden, sondern weil man ein Mensch ist. Es kann also nicht wahr sein. Ob etwas wahr wird, wenn man es häufig genug wiederholt?
Annette ist die Grübelei satt. Sie hat auch gar keine Zeit mehr, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Wenn der Zug pünktlich ist – keinesfalls sicher in diesen Tagen – dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Harald ankommt. Fast sechs Monate sind vergangen, seit er fort ist, und die Briefe, die sorgfältig in der Pappschachtel unter dem Bett aufgehoben werden, sind doch nur ein schwacher Trost. Aber heute werden sie einander sehen, und es wird wieder sein wie früher. Weil es nicht wahr sein kann.
Er atmet tief ein. Abgase von der Straße. Die Äpfel vom Baum vor dem Bahnhof. Der eigene Schweiß, der von der langen Bahnfahrt in der Uniform hängt. Der Qualm der Zigaretten, ebenfalls noch aus dem Zug. Herrlich. Er bleibt stehen, hebt das Gesicht mit geschlossenen Augen und läßt sich die Sonne auf die Lider scheinen. Diese Luft. Der Lärm der Automobile und das Kinderlachen. Nur ein paar Stunden Fahrt entfernt steigt schwarzer Qualm über drückender Stille auf, und ein süßlicher Geruch hat sich ins Mauerwerk gegraben, in die Baracken, in die Gewehre. Man muß all das weit hinter sich lassen, um wieder frei atmen zu können.
Harald schultert sein Gepäck und macht sich auf den Heimweg. Mütterlicher Befehl: Wenn du ankommst, kommst du aber gleich her, ja? Es gibt Apfelkuchen, frisch gebacken. Er lächelt. Endlich wieder ein Befehl, dem man gern folgt. Keine Alpträume von Schreien. Keine bleichen, ausgemergelten Gesichter. Apfelkuchen. Die warme, zu lange Umarmung der Mutter. Annette. Und diese herrliche Luft.
Es riecht nach Heu, und eine frühe Grille singt ihr Abendlied. Ob es wahr ist? Annette sitzt auf der Bank, in deren Lehne für alle Ewigkeiten ihre Initialen stehen, und wartet. Wenn sie den Hals reckt, kann sie die Scheune sehen, wo sie sich treffen wollen. Daß der Heugeruch bis hierher kommt – erstaunlich. Sie versucht, an Harald zu denken, sich sein Gesicht ganz genau vorzustellen, aber es gelingt ihr nicht. Das letzte Bild, die Fotos, die er manchmal schickt, alle zeigen einen fremden Mann, einen in Uniform. In Uniform wird jeder Hänfling zum Mann, hat Luise immer gesagt. Blödsinn. In Uniform wird jeder zu einem Fremden. Aber darunter, irgendwo zwischen dem Stoff und den Abzeichen und Waffen, steckt ein Mensch, muß ein Mensch stecken. Deshalb kann es nicht wahr sein.
Mit jedem Schritt wird der Geruch intensiver. Harald atmet in vollen Zügen, beschleunigt seine Schritte. Bald rennt er und verliert beinahe die Sandalen. Nach dem schweren Essen tut die Bewegung gut, und er will nicht müde sein, wenn er vor ihr steht. Erst am Scheunentor bleibt er stehen, wartet darauf, daß seine Atemzüge wieder gleichmäßig werden. Ein, aus. Ein, aus. Eins, zwei. Rechts um. Arm ausstrecken zum Gruß. Den Heugeruch einatmen. Das Tor öffnen.
„Annette?“ Er geht ein paar Schritte in das Zwielicht. Berge von Heu bilden eine schmale Gasse, einen Hof, eine Mauer. „Annette?“ Keine Antwort. Zögernd geht er weiter. Seine Hand tastet bereits nach dem Tabakbeutel, aber hier drin wird er das Rauchen lieber lassen. Sie ist nicht da.
Harald haßt das Warten, aber hier, im Zwielicht, allein mit dem alles betäubenden Geruch und in aller Stille läßt es sich eine Weile aushalten. Er läßt sich auf einem der Heuballen nieder, zieht einen Halm heraus und steckt ihn zwischen die Lippen. Hat er nicht geglaubt, sie könne es auch nicht erwarten? Hat er nicht erwartet, sie sei hier? Vermißt er sie in dieser Scheune nicht mehr als noch auf dem Weg hierher? So wie die Sehnsucht im Wohnzimmer größer war als auf dem Gleis? Dies ist Zuhause, und Zuhause ist Annette.
Durch das offene Tor fällt ein Schatten, und er springt auf, läuft ihr entgegen. Sie atmet schwer, und ihr Haar ist in Unordnung, aber sie lacht, als sie in seine Arme fällt. Ihr Körper, ihr Geruch. Ihre Lippen. Ihre Wärme. Ihr Duft.
„Wo warst du solange?“ bringt er zwischen zwei Küssen hervor, aber die Antwort ist ihm eigentlich gleich. Sie ist ja jetzt hier, und nichts anderes zählt.
„Ich war immer hier“, antwortet sie, und ihre Finger gleiten über die Knopfleiste seines Hemdes. „Ich war hier.“
Es ist nicht wahr. Sie liegt neben ihm, den Kopf auf seiner Brust, die sich gleichmäßig hebt und senkt, während er schläft. Im Zwielicht kann sie es genau erkennen. Es ist nicht wahr.