Walpurgisnacht

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Inu

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*





Walpurgisnacht


"Die Nacht zum 1. Mai ist die gefährlichste des Jahres", sagten die alten Leute im Dorf. "Da kehren die gestorbenen Seelen wieder - solche, die im Jenseits nicht in die Gemeinschaft der Seeligen kommen können, weil sie im Zustand einer Todsünde waren, als sie starben ... solche, die einem Unfall zum Opfer fielen und keine Zeit mehr fanden, in der Beichte ihre Taten zu bereuen. Von Gott aus dem Himmelreich verbannt, irren diese armen Wesen durch die Ödnis des Alls, kreisen ziellos umher und kehren nur in dieser einen Nacht zur Erde zurück, um sich den Menschen in Erinnerung zu bringen. Da rückt die unsichtbare Welt ganz nah an die sichtbare heran, es lüftet sich zumindest ein Zipfel vom Geheimnis der jenseitigen Sphären.“
Geschichten gehen um und alte Leute raunen von Zauberern und Hexen, die mit Pentagrammen, mit magischen Formeln in die andere Welt einzudringen suchten ... und es manchmal sogar schafften.

"Lasst mich doch bitte heute Nacht länger aufbleiben und mit den anderen Kindern draußen herumlaufen, ihr wisst schon - Maikäfer sammeln!", bettelt Marie beim Abendessen.
"Der Vater sagt "nein“, sagt "im nächsten Jahr vielleicht, wenn du vierzehn bist!"
"Och, bitte, bitte!"
„Nein.“
Die Tochter heult vor Enttäuschung
Die Mutter schaut den Vater an und versucht ein aufmunterndes, mild stimmendes Nicken.
"Na gut", sagt der, „na ja ... aber um halb elf bist du wieder da ... sonst ..."
"Klar ", ruft Marie und ist schon weg.

Nun tauchen jedoch die Überirdischen niemals vor Einbruch der Geisterstunde auf. Das weiß jedes Kind. Erst nach Mitternacht wird es richtig interessant. Deshalb haben die Halbwüchsigen nicht vor, so zeitig zurückzukommen, wie sie daheim versprochen haben. Auch Marie hat gelogen, sonst hätten die Eltern sie erst gar nicht fortgelassen. Und natürlich hat das draußen-Herumfegen in der Hexennacht nur am Rand etwas mit Maikäfer-Einsacken zu tun!

Die zirka fünfzehn Mädchen und Jungen, Volksschüler sind sie noch allesamt, treffen sich also am Rand des Ortes auf dem Hahnenkopf. Der Hahnenkopf ist der höchste Hügel in der Umgebung.

Um genau zu sein: am ‚Bildstöckel‘ haben sie sich verabredet, einer aus rotem Backstein gemauerten Mariensäule. In deren oberem Teil ist eine kleine Kammer eingelassen und darin steht, geschützt hinter schmiedeeisernem Gitterwerk, die Muttergottes. Jemand steckt im Sommer immer frische Blumen zwischen die Metallornamente. Im Winter sind es Kiefernzweige. Oder weiße Chrysanthemen.

Das Bildstöckel erhebt sich am Ende des Dorfes, an jener berühmten Stelle, wo vor Zeiten ein Pilger, auf seinem Weg zum Eifelkloster Maria-Laach, Halt machte.

Das muss um das Jahr dreizehnhundert nach Christus gewesen sein. Ohne jede menschliche Ansiedlung, von dichtem, nordischem Urwald überzogen, lag damals das Land. Der einsame Wanderer - viele Tage war er schon zu Fuß unterwegs gewesen - legte sich unter eine Eiche zum Schlafen nieder. In der Nacht schreckte er entgeistert hoch. Die Hölle war losgebrochen: Regengüsse, Hagel, Orkan! Das Unwetter hörte nach einer Stunde nicht auf, nicht nach drei, noch nicht einmal nach acht Stunden. Ein Sturm fegte über die Erde, dass die Äste von den Bäumen herunterkrachten und die Stämme brachen. Dazu dröhnte Donner, ohrenzerreißend, Schlag auf Schlag.

Der Pilger, starr vor Kälte, bis auf die Knochen nass, fast um den Verstand gebracht vom Gezucke und Leuchten der Blitze, die in Sekundenschnelle einander jagten, dachte, nun werde die Welt untergehen.
Dann schlug ein gezackter Strahl auch noch in die Eiche ein, unter der er zitternd hockte und verfehlte ihn selbst um Haaresbreite. Der Mann in seiner Todesfurcht betete ... wahrscheinlich. Dann nahm er die kleine, steinerne Skulptur der heiligen Jungfrau, die er als Gabe für die Mönche von Maria Laach in seinem Ranzen mit sich trug und stellte sie in die Höhlung des vom Blitz gespaltenen Baumstammes.
Wollte er vielleicht einen Pakt mit Maria schließen ... ihr sagen: "Sieh, ich werde dir diese Statue, dein kostbares Abbild, zum Geschenk machen, indem ich sie, fortan für jedes menschliche Auge unsichtbar, tief in diesem Baumstumpf versenke, hier inmitten der Urwälder. Du, heilige Mutter, sollst mich im Gegenzug vor kommendem Unheil schützen!"


Es gibt noch eine andere Version der Geschichte. Von einem Handwerksburschen im Mittelalter, einem Steinmetzgesellen auf Wanderschaft, berichten die Alten. Im Ranzen trug er ebenfalls eine kleine Statue der Madonna, die er seinem Meister, einem Bildhauer, gestohlen hatte und auf dem Markt zu Trier für gutes Geld verkaufen wollte. Tagelang durchquerte er die dichten, weg- und steglosen Wälder. In einer Gewitternacht schien alle Unbill der Natur auch auf ihn niederzuprasseln: losgelassen waren die Dämonen und Geister des alten Germanien, sie rasten auf ihren schäumenden Rossen durch die Dunkelheit und wirbelten den armen Handwerksburschen nur so herum, dass ihm Hören und Sehen verging. Die unerbittlichen, heidnischen Götter trachteten ihm nach dem Leben ... Wotan und seine wilde, mordgierige Jagd! Dazu Freya, flammend im Blitz ... ihr Lachen dröhnte ihm aus den Donnerschlägen entgegen. So, weltenweit entfernt von jeder menschlichen Behausung, packte auch diesen armen Wicht die Todesangst.

Bestimmt hatte er wegen seines Madonnen-Diebstahls Furcht vor Gottes Zorn und mochte das unrechte Gut nicht mehr länger bei sich behalten? Oder er wollte die Statue als heiligen Schutzschild benutzen, Fetisch gegen die Mächte des Bösen, gegen Wotan und seine Meute? Mit letzter Kraft nahm er jedenfalls das kleine Standbild und stellte es in die Spalte des zerborstenen Eichenstammes.

Als er am Morgen weiterzog, musste er die Figur dann in dem Baum vergessen haben. Weiterzog??

Über die verlassenen Wälder wehte nun der Wind der Jahrhunderte.
Dann kam ein Tag - man schrieb das Jahr 1640, in Europa wütete der Dreißigjährige Krieg - da waren Soldaten unterwegs, versprengte Bauernsöhne, Deserteure aus dem Heer eines der unzähligen, deutschen Landesfürsten, Heimatlose ohne Ziel, deren Dörfer und Familien das Morden und Brandschatzen nicht überlebt hatten. Auf der Flucht vor den schwedischen Horden und nicht zuletzt, um der wild grassierenden Pest zu entgehen, war die Gruppe in das riesige, unberührte Waldgebiet geraten.

Als sie sich an jenem Abend zerstreut hatten, um Holz für das Lagerfeuer zu sammeln, schrie plötzlich einer von ihnen laut auf und da ... inmitten eines Teppichs von Anemonen lag, umhüllt von altem Laub und den Fasern eines fast vermoderten Baumes, die liebliche Statue der Muttergottes und des Kindes. Der Stamm, längst schon umgestürzt, hatte seinen kostbaren, steinernen Schatz freigegeben.

Die rauen Männer fielen bei diesem Anblick auf die Knie, sahen das Geschehen als ein Wunder Gottes an. Und weil sie ohnehin die Hoffnung auf eine neue Heimat mit sich herumgetragen hatten, war ihnen schlagartig klar: Hier würden sie bleiben, hier war gottgeweihtes Land. Den Fingerzeig des Himmels nahmen sie ernst. An solche heiligen Dinge glaubte man damals.

Es waren bei der Söldnergruppe auch Dirnen und Marketenderinnen, sowie ehrbare Bauersfrauen, deren Männer im Krieg erschlagen, deren Gehöfte die Schweden verbrannt hatten. In der Wirrnis der Zeit hatten sie sich alle zusammengeschlossen und waren zu Gleichen geworden.

Am nächsten Morgen fanden sie eine Quelle, die sich zu einem kleinen, klaren Bach formte, entdeckten in geringer Entfernung eine Reihe fischreicher Weiher. Zu ihren Füßen breitete sich in der Sonne eine liebliche, und, wie sich später herausstellen sollte, ziemlich fruchtbare Ebene.

Von nun an würden sie nicht mehr weiter ziehen.
Sie begannen den Urwald zu roden. Der Ort, den sie bauten, wurde von ihnen ‚Marienstock‘ genannt, nach der Gottesmutter und nach dem Baumstumpf (Stock) worin sie die Statue auf so wunderbare Weise gefunden hatten.

Jetzt sind die tiefen Wälder zum großen Teil abgeholzt.
An Stelle der alten, zerfallenen Eiche steht die gemauerte Andachtssäule, das Bildstöckel. Die ursprüngliche Madonnenfigur ist daraus verschwunden, ist im Lauf der Generationen durch eine neue ersetzt worden, die ebenfalls auf mysteriöse Weise verschwand und einer noch neueren Platz machte. Der Name des Ortes ist geblieben.

*

Vom 'Bildstöckel' aus stürmt die Meute der jungen Abenteurer los. Aufs Brachland geraten sie jetzt, in die Gegend des Ginsters und der roten Sandkaulen. Rasend wie der Wind geht es über Böschungen und Schotterwege. Die Kinder halten sich bei den Händen, bilden eine Kette. Keiner darf die Hand des anderen loslassen, dass die Kette nicht zerreißt. Die Jungen ziehen die Mädchen mit. Leicht wie Luft und schriekend vor Vergnügen, fliegen sie dahin ... berühren die Erde kaum.

Unten im Tal laufen sie querfeldein. Ackerboden heftet sich klumpig an ihre Schuhe. Bäche mit glucksend feuchten Ufern überspringen sie wie nichts.

Nun türmen sich vor ihnen die grauen Schlackenhalden. Vereinzelte Birken wachsen da. Ihre Zweige zittern, tanzen vor dem Hintergrund der Sterne. Hell, silberweiß leuchten die Blätter im Mondlicht.

An den Halden, auf die tagsüber der dampfende Abraum aus den Kohlegruben ausgekippt wird, sind die Hänge wie Rutschbahnen. All die kleinen, anthrazitfarbenen, krümeligen, noch warmen Gesteinsbröckchen fangen unter den Füßen zu rollen an ... Die Kinder stellen sich einfach oben auf die Halde, gleiten dann auf ihren Schuhsohlen bergab, als stünden sie auf Skiern. Andere setzen sich gleich auf den Allerwertesten und rutschen auf diese Weise mit den kullernden Steinchen nach unten. Riesengelächter. Mit den kahlen, grauen Schlackenhalden sind sie aufgewachsen ... ihre Spielplätze von Kindheit an.

Später auf den Wiesen im Mondlicht schütteln die Mädchen und Jungen Maikäfer von den Bäumen. Käfersammeln muss sein ... es ist – vorgeschobene Begründung für das lange Ausbleiben in der Hexennacht. Marie hat wie die anderen, ein Zigarrenkästchen mit Luftlöchern. Da hinein steckt sie die Krabbeltiere.

Dann rennen sie wieder los.
Dicht steht das junge Getreide auf den Feldern, ein grüner Teppich aus Samt soweit das Auge reicht. Und Mottenfalter fliegen.
Am Himmel flimmert und glitzert es vor lauter Sternen. Wie ein dicker, gelber Ball hängt der Mond da. Nur noch ein kleines Stück fehlt ihm zur vollen Rundung.

In den Gärten leuchten, weiß wie Schnee, übersät von Millionen Blüten, die Kirschbäume aus der Nacht. Tief hinunter auf den Boden biegen sich die duftenden Dolden.


Die herumvagabundierende Kinderschar verschleppt Fahrräder, Fensterläden, eine Schubkarre ... und schafft das Zeug dorthin, wo es später kein Mensch vermutet. Dann kommt Robert auf die gloriose Idee, am Haus von Frau Zang, der ‚Lieblingslehrerin‘, die hüfthohe, schmiedeeiserne Gartentür auszuhängen. Mit vereinten Kräften schleppen sie das schwere Stück über eine ziemlich weite Wegstrecke, wuchten es polternd die Stufen hinauf auf den - ganz aus Holz gebauten - Aussichtsturm, der als uraltes Wahrzeichen der Gegend, oben auf dem Hahnenkopf thront. Das windschiefe Konstrukt knarrt und ächzt schaurig im morschen Gebälk. Es ist lebensgefährlich, da hinaufzusteigen- so warnt ein Schild mit Totenkopf.

Gerade haben die Kinder die Gartentür bis auf die zweitoberste Plattform gehievt, da biegt unten eine dunkle Gestalt um die Ecke. Es ist der Schutzmann und er kommt geradewegs auf den Turm zu. Seinen Schäferhund hat er bei sich ... den kennen alle, T e u f e l heißt er und veranstaltet jetzt an seiner Leine ein Riesengezerre und beim Näherkommen ein Mordsgebell, nur ab und zu unterbrochen von blutrünstigem Hecheln. Pechschwarz ist der Rüde, sieht aus wie ein riesiger Wolf.

"Ich hab euch gesehen, kommt sofort da herunter ... aber vorsichtig", schreit Herr Stinnes, "oder der Teufel wird euch holen ...“

Jetzt lassen die jungen Wilden Gartentür Gartentür sein und spurten durchs enge, hölzerne Stiegenhaus nach unten. Nichts wie weg hier! In ihrer Flucht kugeln ein paar von ihnen übereinander.

Der Ordnungshüter hält das heftig an der Leine reißende Satansvieh mit ziemlicher Mühe zurück. Auch nähert er sich absichtlich nur langsam dem ‚Tatort‘. Er will ja keine Bösewichte fangen, es liegt ihm einzig daran, dass die jungen Leute von dem Bauwerk heil herunter kommen, bevor es endgültig zusammenkracht.

Als auch der letzte glücklich auf dem Erdboden steht und Herr Stinnes dann einige Male schrill auf seiner Trillerpfeife loslegt wie die Polizisten in den Dick-und-Doof-Filmen, da stieben sie, Jungen wie Mädchen, johlend, kreischend in alle möglichen Richtungen davon.

Später sammeln sie sich wieder. Wie ein summender Bienenschwarm, driften sie über die Wiesen gegen Alvansberg hin.
Jenseits der Gärten des Dorfes wächst dann der Schörener Forst vor ihnen auf wie eine schwarze Wand. Durchs Unterholz schlagen sie sich. Hier im Dunkel unter den alten Baumriesen gibt es keine Wege. Es ist still. Nur ein Kauz ruft ab und zu in der Ferne.
Ein immer gleicher Laut. Der Kauz klagt und klagt. Unheimlich. Die Kinder erzählen sich lieber lustige Sachen. Machen Witze. Manchmal prusten die Mädchen vor Lachen los.
Nach und nach hören sie aber auf, zu reden. Das letzte Kichern verstummt. Denn seit einer Weile spüren sie ihn ganz stark, IHN, den uralten Zauber ihrer heimischen Wälder, durch die man noch immer wochenlang streifen könnte, ohne ein Dorf oder ein Gehöft zu berühren.

Irgendwann fängt jemand an, Gruselgeschichten zu erzählen. Vom verfluchten ‚Malditz‘. In Wintersturmnächten rast er in Schnee und Eis durch die Tiefen der Wälder ... eine verlorene Seele, ein Verfluchter, der schreckliche Taten begangen hat: Folter, Mord. Im Unwetter kann man ihn mit seinen Spießgesellen vorbeireiten und schauerlich heulen hören. Ihre Stimmen übertosen das Brausen des Windes. Wer die Töne vernimmt, wird sterben.

Und dann die Geschichte vom riesigen, schwarzen Eber, der 1930 am helllichten Tag Mutter und Säugling zerfleischte. Das ist im ‚Saufang‘ geschehen, fünf Minuten von da, wo die Kinder jetzt herumlaufen. Sie wissen: Wildschweine gibt es im Schörener Forst noch immer. In Rotten streifen sie nachts durchs Unterholz.

Auch da, wo die jungen Leute jetzt sind, spielte sich ein Ereignis ab, das haben die Menschen nicht vergessen. Obwohl ... es ist Ewigkeiten her. Geschah lang vor dem ersten Weltkrieg. Um 1895 oder so.

Im Morgengrauen war der Förster wieder einmal jenem geheimnisvollen Wilderer auf der Spur, der immer die besten Rehböcke wegschoss. Verbissen lauerte der Staatsdiener dem Unbekannten auf, denn er spürte irgendwie seine Anwesenheit und entdeckte plötzlich die Blutflecken eines getöteten Tieres im Laub. Die Beute und den Verbrecher bekam er jedoch nicht zu sehen. War es ein Phantom, das hier sein Unwesen trieb? War der brave Beamte Opfer seiner eigenen Einbildungskraft oder von Halluzinationen? In der Vergangenheit hatte er oft gehört, wie Schüsse knallten, konnte aber keinen Menschen ausfindig machen ...

An jenem frühen Morgen, nicht weit vom Saufang entfernt, gelang es dem Förster dann zu guter Letzt doch, den Missetäter zu stellen:
"Hab ich dich endlich, Elender!".
Aber der Wilddieb hob blitzschnell sein Gewehr, zielte und ... bevor der brave Waidmann das seine in Anschlag bringen konnte, war er schon tot. Eine einzige Kugel des frevlerischen Schützen hatte ihn aus weiter Entfernung mitten ins Herz getroffen.

Der Mörder wurde schnell gefasst.
In der ganzen Umgebung begann man nun an heimischen Herden und in den Wirtsstuben wild zu streiten. Sollte der Mann gehenkt oder nur lebenslang eingekerkert werden? Es sah schlecht aus für ihn, den Friedrich Schroth. Der Name des Försters war übrigens Friedrich Poth. Und da machte jemand einen Reim darauf. So konnte man sich generationenlang an die Namen erinnern:

Es schoss der Schroth
den Förster Poth
im Walde toth.
Oh welche Noth,
er starb im frühen Morgenroth.

Nicht alle Sympathien der Dorfbewohner waren auf Seiten des ehrbaren Försters. Der war schroff zu Kindern gewesen und hatte sie verjagt, wenn sie im Wald spielten und eingebildet und stolz war er auch. Der Mörder aber, der Schroth, schien ein zweiter Robin Hood, der zu Zeiten großer Armut auf verbotene, doch vom Volk bewunderte Weise, das Fleisch für Familie und Freunde, aber auch für arme Bedürftige, besorgt hatte. Von Beruf war er ohnehin Schütze. Der beste Scharfschütze weit und breit. Er hatte in einem Kaiserlich-Königlichen Infanterie-Regiment mit Auszeichnung gedient in jenem deutsch-französischen Krieg, der unzähligen Menschen das Leben kostete und heute komplett vergessen ist. Der Mann hatte viele Medaillen für seine Meisterleistungen bekommen.

Auch beim Scheibenschießen später auf den Kirmesplätzen, als er kein Soldat mehr war, erntete er stets Lorbeeren. Es musste die jahrzehntelange Übung an der Waffe gewesen sein, die ihn auch an jenem Schicksalsmorgen sein Gewehr so lässig hatte abfeuern lassen.

In der Bevölkerung standen die meisten Männer auf seiner Seite. Sie hatten Verständnis für den Wilddieb und seine Jagdlust. Dass er den Förster erschossen hatte, wurde ihm eher als trauriger Unfall ausgelegt. Auch die Richter im Prozess wollten ihn nicht ganz und gar verderben.

"Der Schroth ist ein untadeliger Soldat und bewunderter Schützenkönig gewesen. Das hat ihn in einer Zeit, als Kriegshandwerk und Schießkunst noch hoch im Kurs standen, vor dem Galgen gerettet", erzählte der alte Heinrich. "Er bekam acht Jahre. Zwei davon hat er verbüßt, dann soll er begnadigt und wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein. Es gab nämlich wieder einen Krieg, wo man gute Männer brauchte. Aber ich weiß das nur von meinem Großvater.“

*

Die Kinder halten auf ihrem Lauf durch die Wälder jetzt am Gedenkstein für den unglücklichen Förster an. Stehen nun genau an der Stelle, wo vor über sechzig Jahren die Bluttat geschah. Umgefallen liegt der Granitblock am Boden, in Humus und Laub versunken, die Aufschriften von Moos überwuchert.
Im Licht von Brunos Taschenlampe und mit vereinten Kräften schaben sie die Flechten vom Stein. Entziffern halbverrottete Relief-Buchstaben. Worte eines alten Liedes tauchen auf ... Es war des toten Waidmanns Lieblingslied, verkündet die verwitterte Inschrift. Die meisten Zeilen sind nicht mehr lesbar, aber die Kinder kennen den Text ohnehin auswendig:

Im grünen Wald, da wo die Drossel singt,
das muntre Rehlein durch die Büsche springt,
wo Tann' und Fichten stehn am Waldessaum,
verlebt ich meiner Jugend schönsten Traum.


Das Rehlein trank wohl aus dem klaren Bach,
derweil im Wald der muntre Kuckuck lacht,
der Jäger zielte hinter einem Baum,
das war des Rehleins letzter Lebenstraum.


Getroffen wars und sterbend lag es da,
das man zuvor noch munter springen sah,
da trat der Jäger aus des Waldes Saum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

Er nahm die Flinte, schlug sie an ein Baum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

*

Die Alten haben auch erzählt, der Wilddieb hätte dem toten Förster nach seiner Tat noch die Ohren abgeschnitten. Als Jagdtrophäe sozusagen ...

Marie sitzt neben Helga auf dem umgefallenen Erinnerungsstein. Der ist eisig kalt an ihrem Hintern. Feucht und klamm. Marie hat ein komisches Kribbeln im Bauch. Das muss das ‚Grauen‘ sein? Schauer rieseln ihr über den Rücken.

Dann rennen die Kinder weiter. Bald taucht zu ihrer Linken der alte Wilhelmsthaler Friedhof auf. Durch eine Lücke in der Taxushecke schlüpfen sie hinein. Ein Teil der Gräberfelder liegt in Dunkelheit unter den weit ausladenden Kronen der Baumriesen, der Rest bleckt ihnen hell im Mondlicht entgegen. Jetzt überqueren sie brache, plattgewalzte Flächen.
Hoch aufgetürmt, sperrig, ragen dort Stauden- und Krautstängel und dürre Äste zum Himmel. Auf einen Haufen geworfen, schimmern sie weiß im Mondlicht ...
"Hier pflügen sie alte Gräber um, machen Platz für neue", sagt Andi, "... huh, guckt mal, an der Mauer da hinten sind Totenköpfe gestap...!"
"Tatsächlich ...."

Sie rennen, so schnell ihre Füße sie tragen, zwischen Holzkreuzen und vermoderten Blumengebinden dahin, dort, wo gestürzte Engel aus Stein ihnen aus kalkweißen Augen zulächeln. Dann ein metallisches Scheppern. Alle fahren hoch ... aber es war bloß Andi, der über einen Blechkranz gestolpert ist.

In einem anderen Teil des Friedhofs sind, von Efeu überwuchert, Grabstätten aus den letzten zwei Jahrhunderten. Hinter Marmor, Stuck, Ornamenten, Säulen, ruhen Tote, die einmal reicher und bedeutender waren als andere. Ihr Andenken kennt heute niemand mehr... Doch ihre wuchtigen Ehrengräber sind noch da. Familiengruften ... pathetische Bauwerke, umgrenzt von kunstvollen, schmiedeeisernen Umzäunungen, die jetzt, windschief und verrostet, nach allen Seiten heruntergebrochen sind.
Dieser Teil des Kirchhofs ist von Zypressen verdunkelt. Dort schlüpfen die Halbwüchsigen durch die Hecke zurück in den Wald.

So wie in dieser Nacht war es noch nie. Es ist, als ob sie auf rätselhafte Weise tiefer und tiefer in den Forst gezogen würden. Ein ‚Etwas‘ ist da, eine fremde Existenz. Es ist in der Starrheit der Baumriesen, in den spärlichen Kringeln und Mustern, die das Mondlicht hier und da durchs Blätterdach auf den Boden malt.
"Spürst du es auch?" Inges Zähne klappern.
Marie spürt es auch. Schon wieder überfluten sie Schauer. Da ist eine Kraft, die von weither kommen muss ... von jenseits ... oder ...
Am liebsten hätte sie die Tür vollends aufgestoßen zu dieser geheimnisvollen Sphäre.
Anni und Hilde – Zwillingsschwestern - fangen an, merkwürdige Worte zu murmeln. Die wollen sich wichtig machen. Aber ... ihre Tante besitzt nun einmal das sechste Buch Mose. Dort sind Zaubersprüche drin.

"Fangt bloß nicht wieder mit eurer Spinnerei an!", grinst Markus.
"Ramire mano mafunju."
"Eh, stoppt den Quatsch!"
Hilde kniet auf dem Boden und malt mit seltsam geformten Wurzeln - oder Knöchelchen kleiner Nager? - die sie gefunden hat, Zeichen in die Walderde.
"Ramire mano mafunju."
"Hu, hu, Hexe." Werner zieht scherzend an Hildes Zöpfen. Doch niemand lacht.
"Ich will nach Haus", murmelt Inge.

Wirklich ... da ist dieses ‚Etwas‘ ... es nähert sich. Die ANDERE Sphäre ... Kreaturen, unsichtbare ...
Zuerst ist es vielleicht nur e i n jenseitiges Wesen, aber dann rücken sie aus allen Richtungen heran. Immer mehr, als sei ein verschütteter Weg plötzlich frei oder eine Mauer gestürzt worden. Sie ergießen sich scharenweise, ergießen sich in einer Flut, die die Kinder nicht sehen, nur spüren können. Angefüllt ist die Luft mit ‚Fremdem‘. Schwerer wird das Atmen. In unsichtbaren, dichten Schwaden drängen die Wesen heran, wer immer sie sind, gestorbene Seelen oder die geheimen Mitbewohner des Planeten.

Die Schüler fühlen mit Schaudern, wie in dieser Nacht eine mächtigere Welt auf ihre sichtbare trifft. Vielleicht, weil sie selbst im richtigen Augenblick am richtigen Ort sind, an der Nahtstelle, wo die beiden Dimensionen ineinander überfließen. Von dort schlüpfen die Jenseitigen herein. Sie kommen in einer unsichtbaren Prozession. Werden sie sich zeigen? Werden sie den Kindern ein Zeichen geben?

Die Laute der Käuze sind verstummt.
"Mabut, nara, natumi", murmelt Hilde.
Und Anni: "Teje, abrum, teje abrum ..."

Da kommt es Marie vor, als hätten sich die Kräfte um sie herum noch mehr verdichtet. Sie fühlt ihren eigenen Körper schwerer werden und schwerer, als sei sie im Mittelpunkt eines mächtigen Magnetfelds. Gefangen! Keinen Schritt kann sie mehr tun. Obwohl sie es mit aller Kraft versucht. Nicht vor, nicht zurück. Den anderen scheint es ebenso zu gehen. Die Nacht ist erfüllt von einem rätselhaften Beben und Vibrieren. Gleich wird etwas Unsagbares geschehen.
"Teje abrum, teje abrum!"
Da scheinen die Zeit und das All stillzustehen. Ein hörbares metallisches Sirren ist jetzt überall.
.
Der Ton, ein brausender, schwellender Zikadenlaut, zusammengesetzt aus tausend insektenartigen Stimmen durchhallt die Luft. Die Kinder sind starr .
„Teje abrum, teje abrum.“
Dann gehen diese Augenblicke der äußersten Kraftansammlung - leider - vorbei. Die Jenseitigen bleiben unsichtbar. Es gelingt nicht, sie vollends aus ihrer Sphäre herüberzuziehen ... der Ton wird leiser ... die fremden Wesen beginnen anscheinend, sich wieder zurückzuziehen. Dann ist alles vorüber. Stille herrscht. Da löst sich die Spannung. Da atmen die Kinder auf. Plötzlich schreit ein Eulenvogel. Die Baumriesen fangen wieder an, ihre Wipfel im Nachtwind zu schaukeln. Es ist vorbei. Marie spürt es wie eine Erlösung. Und doch mit vagem Bedauern.

Aber jetzt rennen die Kinder. Rennen, rennen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Gut geht es ihnen erst, als sie die offenen, mondhellen Wiesen wieder unter den Füßen haben und im Tal die Dörfer liegen sehen. Da beginnen sie zu marschieren, zügig, sicher. Zaghaft lächeln sie einander zu, später plappern sie drauflos, werden laut, vergnügt und reichlich albern. .

Marie fühlt sich gut, so aufgehoben in der Gruppe. Nie zuvor hat sie eine so schöne Nacht erlebt. Mit den Sternen am Himmel, dem Blütenduft des Frühlings über dem samtblauen Land, das sich weit im Mondlicht breitet, kommt ein wohliges Gefühl in ihr auf. Heimat. Heimat. Im Tal zu ihren Füßen, tief unten Marienstock.

Am Hang lassen sich alle nieder. Und wieder erzählen sie einander haarsträubende Begebenheiten. Man ist in der rechten Stimmung. Ach ja, es grassieren viele Legenden von grässlichen Bluttaten ... ewig ungeklärten Verbrechen, dass es einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt.

"Kennt ihr die Geschichte von den drei Mördern und der Jungfrau in der unterirdischen Höhle?"
"Komm hör auf!“
"Es i s t Tatsache. Steht in alten Gerichtsakten ."
"Oder von dem verschwundenen Bergmann ... neunzig Jahre später fand man ihn in einem verschütteten Stollen. Er sah lebendig aus, ganz frisch. Weil er irgendwie versteinert war. Seine Verlobte kam und küsste ihn und weinte furchtbar. Er war jung und schön. Sie war uralt. Hundertzehn?

Ja, sich gruseln ist wunderbar. Vor allem, wenn man im Schutz einer großen, fröhlichen Schar geborgen ist!

Aber nicht nur um Spukgeschichten geht es.
"Leo sieht aus wie Gregory Peck", flüstert Inge. "Sie nennen ihn überall ‚ das Peckchen‘, Er ist soo süß!"
Die jungen Dinger finden auch noch ein paar andere Burschen ‚süß‘.
Jetzt will man auf keinen Fall heimgehen, nun, wo es gerade interessant wird. Obwohl Mitternacht vorbei ist.
Die Mädchen können plötzlich auf Teufel komm heraus flirten. Die Jungen geben sich überlegen:
"Ach Weibervolk".
Dennoch: der eine oder andere legt seiner heimlich Angebeteten die eigene Jacke über die Schulter, damit sie in der aufkommenden Morgenkühle nicht friert. Werner bietet Marie seinen Anorak zum Draufsetzen, weil der Boden klamm ist.
Walter und Ilse haben doch tatsächlich angefangen, zu knutschen ...
"Wo ist denn der Hans?" ruft auf einmal jemand. Das Hänschen Jordan aus der Mozartstraße, einer der jüngsten der Meute. Er fehlt.
"Ist bestimmt heimgelaufen?"
"Allein? Das würde der nie tun!"
Da rennen sie ihn suchen. Trauen sich sogar wieder in den schwarzen Schörener Forst hinein.
"Hansi, Hansi", rufen sie laut durch die Nacht.
Nur Echos hallen zurück.

Später, am Morgen durchkämmen Polizisten mit Spürhunden die heimischen Wälder. Die Einwohner suchen eifrig mit. Auch Schulklassen. Feuerwehrtaucher steigen in die Tiefen der Weiher.
Der kleine Hans bleibt verschollen ...

*
 
O

Orangekagebo

Gast
Ganz toll! Unwahrscheinlich dicht und sphärisch. Man gruselt mit Neugier auf die nächste Geschichte. Ein kleines Meisterwerk, liebe Inu
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Inu,

eigentlich sind solche Geschichten nicht gerade mein Fall, aber man muss die Zeit sehen, in der deine Erzählung spielt. Sie wirkt auf jeden Fall authentisch.
Nach der ersten Episode, die von dem Pilger berichtet, wollte ich allerdings schon aufhören. Aber dann wurde ich hinein gezogen und blieb drin. Trotzdem war es nicht unbedingt der Plot, der mich so faszinierte, sondern der Stil einer in meinen Augen ausgezeichneten "Handwerkerin". Da bewahrheitet sich wieder die alte Weisheit: Es ist nicht vordergründig worüber man schreibt, sondern wie man schreibt.

Gruß Ralph
der wieder mal Gelegenheit hat, ganz oben in der Punktekiste zu kramen.
 

Inu

Mitglied
Lieber Orangekagebo

Solch ein großes Lob von Dir ... ich bin froh und geschmeichelt :blush:

Liebe Grüße
Inu
 

Inu

Mitglied
Lieber Ralph
Vielen Dank für Deine ehrliche und positive Meinung.
Und Du hast recht: ich bin kein Naturtalent, dem alles locker in die Tasten fließt,sondern eine Handwerkerin, die sich die Sätze meistens mühsam zusammenzimmern muss. Eigentlich geht es mir in erster Linie um das, was ich erzählen will und erst danach um den 'Stil'.

Liebe Grüße
Inu
 
O

Orangekagebo

Gast
Das gehört ganz nach oben und ist einfach noch nicht ausdiskutiert.
Leute, lasst euch verzaubern von der Walburgisnacht. Es kann doch nicht sein, dass dieser Beitrag in die zweite Reihe verschwindet!
 

Inu

Mitglied
Lieber Orangekagebo

Bin nach Aachen umgezogen und - in Ermangelung eines Anschlusses - erst einmal hier im Internetcafé und freue mich, dass Du meine Walpurgisnacht wieder nach oben bringen wolltest. Da mache ich natürlich mit und nehme meine Chance wahr. Danke Dir :)

Inu
 

Inu

Mitglied
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Walpurgisnacht


"Die Nacht zum 1. Mai ist die gefährlichste Nacht des Jahres", sagen die alten Leute im Dorf. "Da kehren die Seelen der Gestorbenen wieder - solche, die im Jenseits nicht in die Gemeinschaft der Seeligen kommen können, weil sie im Zustand einer Todsünde starben ... wenn sie zum Beispiel einem Mord oder Unfall zum Opfer fielen und keine Zeit mehr hatten, in der Beichte ihre Taten zu bereuen. Von Gott aus dem Himmelreich verbannt, irren diese armen Wesen durch die Ödnis des Alls, kreisen ziellos umher und kehren nur in dieser einen Nacht zur Erde zurück, um sich den Menschen in Erinnerung zu bringen. Da rückt die unsichtbare Welt ganz nah an die sichtbare heran, es lüftet sich zumindest ein Zipfel vom Geheimnis der jenseitigen Sphären.“
Geschichten gehen um und alte Leute raunen von Zauberern und Hexen, die mit Pentagrammen, mit magischen Formeln in die andere Welt einzudringen suchen ... und es manchmal sogar schaffen.

"Lasst mich doch bitte heute Nacht länger aufbleiben und mit den anderen Kindern draußen herumlaufen, ihr wisst schon - Maikäfer sammeln!", bettelt Marie beim Abendessen.
"Der Vater sagt "nein“, sagt "im nächsten Jahr vielleicht, wenn du vierzehn bist!"
"Och, bitte, bitte!"
„Nein.“
Die Tochter heult vor Enttäuschung
Die Mutter schaut den Vater an und versucht ein aufmunterndes, mild stimmendes Nicken.
"Na gut", sagt der, „na ja ... aber um halb elf bist du wieder da ... sonst ..."
"Klar ", ruft Marie und ist schon weg.

Nun tauchen jedoch die Überirdischen niemals vor Einbruch der Geisterstunde auf. Das weiß jedes Kind. Erst nach Mitternacht wird es richtig interessant. Deshalb haben die Halbwüchsigen nicht vor, so zeitig zurückzukommen, wie sie daheim versprochen haben. Auch Marie hat gelogen, sonst hätten die Eltern sie erst gar nicht fortgelassen. Und natürlich hat das draußen-Herumfegen in der Hexennacht nur am Rand etwas mit Maikäfer-Einsacken zu tun!

Die zirka fünfzehn Mädchen und Jungen, Volksschüler sind sie noch allesamt, treffen sich also am Rand des Ortes auf dem Hahnenkopf. Der Hahnenkopf ist der höchste Hügel in der Umgebung.

Um genau zu sein: am ‚Bildstöckel‘ haben sie sich verabredet, einer aus rotem Backstein gemauerten Mariensäule. In deren oberem Teil ist eine kleine Kammer eingelassen und darin steht, geschützt hinter schmiedeeisernem Gitterwerk, die Muttergottes. Jemand steckt im Sommer immer frische Blumen zwischen die Metallornamente. Im Winter sind es Kiefernzweige. Oder weiße Chrysanthemen.

Das Bildstöckel erhebt sich am Ende des Dorfes, an jener berühmten Stelle, wo vor Zeiten ein Pilger, auf seinem Weg zum Eifelkloster Maria-Laach, Halt machte.

Das muss um das Jahr dreizehnhundert nach Christus gewesen sein. Ohne jede menschliche Ansiedlung, von dichtem, nordischem Urwald überzogen, lag damals das Land. Der einsame Wanderer - viele Tage war er schon zu Fuß unterwegs gewesen - legte sich unter eine Eiche zum Schlafen nieder. In der Nacht schreckte er entgeistert hoch. Die Hölle war losgebrochen: Regengüsse, Hagel, Orkan! Das Unwetter hörte nach einer Stunde nicht auf, nicht nach drei, noch nicht einmal nach acht Stunden. Ein Sturm fegte über die Erde, dass die Äste von den Bäumen herunterkrachten und die Stämme brachen. Dazu dröhnte Donner, ohrenzerreißend, Schlag auf Schlag.

Der Pilger, starr vor Kälte, bis auf die Knochen nass, fast um den Verstand gebracht vom Gezucke und Leuchten der Blitze, die in Sekundenschnelle einander jagten, dachte, nun werde die Welt untergehen.
Dann schlug ein gezackter Strahl auch noch in die Eiche ein, unter der er zitternd hockte und verfehlte ihn selbst um Haaresbreite. Der Mann in seiner Todesfurcht betete ... wahrscheinlich. Dann nahm er die kleine, steinerne Skulptur der heiligen Jungfrau, die er als Gabe für die Mönche von Maria Laach in seinem Ranzen mit sich trug und stellte sie in die Höhlung des vom Blitz gespaltenen Baumstammes.
Wollte er vielleicht einen Pakt mit Maria schließen ... ihr sagen: "Sieh, ich werde dir diese Statue, dein kostbares Abbild, zum Geschenk machen, indem ich sie, fortan für jedes menschliche Auge unsichtbar, tief in diesem Baumstumpf versenke, hier inmitten der Urwälder. Du, heilige Mutter, sollst mich im Gegenzug vor kommendem Unheil schützen!"


Es gibt noch eine andere Version der Geschichte. Von einem Handwerksburschen im Mittelalter, einem Steinmetzgesellen auf Wanderschaft, berichten die Alten. Im Ranzen trug er ebenfalls eine kleine Statue der Madonna, die er seinem Meister, einem Bildhauer, gestohlen hatte und auf dem Markt zu Trier für gutes Geld verkaufen wollte. Tagelang durchquerte er die dichten, weg- und steglosen Wälder. In einer Gewitternacht schien alle Unbill der Natur auch auf ihn niederzuprasseln: losgelassen waren die Dämonen und Geister des alten Germanien, sie rasten auf ihren schäumenden Rossen durch die Dunkelheit und wirbelten den armen Handwerksburschen nur so herum, dass ihm Hören und Sehen verging. Die unerbittlichen, heidnischen Götter trachteten ihm nach dem Leben ... Wotan und seine wilde, mordgierige Jagd! Dazu Freya, flammend im Blitz ... ihr Lachen dröhnte ihm aus den Donnerschlägen entgegen. So, weltenweit entfernt von jeder menschlichen Behausung, packte auch diesen armen Wicht die Todesangst.

Bestimmt hatte er wegen seines Madonnen-Diebstahls Furcht vor Gottes Zorn und mochte das unrechte Gut nicht mehr länger bei sich behalten? Oder er wollte die Statue als heiligen Schutzschild benutzen, Fetisch gegen die Mächte des Bösen, gegen Wotan und seine Meute? Mit letzter Kraft nahm er jedenfalls das kleine Standbild und stellte es in die Spalte des zerborstenen Eichenstammes.

Als er am Morgen weiterzog, musste er die Figur dann in dem Baum vergessen haben. Weiterzog??

Über die verlassenen Wälder wehte nun der Wind der Jahrhunderte.
Dann kam ein Tag - man schrieb das Jahr 1640, in Europa wütete der Dreißigjährige Krieg - da waren Soldaten unterwegs, versprengte Bauernsöhne, Deserteure aus dem Heer eines der unzähligen, deutschen Landesfürsten, Heimatlose ohne Ziel, deren Dörfer und Familien das Morden und Brandschatzen nicht überlebt hatten. Auf der Flucht vor den schwedischen Horden und nicht zuletzt, um der wild grassierenden Pest zu entgehen, war die Gruppe in das riesige, unberührte Waldgebiet geraten.

Als sie sich an jenem Abend zerstreut hatten, um Holz für das Lagerfeuer zu sammeln, schrie plötzlich einer von ihnen laut auf und da ... inmitten eines Teppichs von Anemonen lag, umhüllt von altem Laub und den Fasern eines fast vermoderten Baumes, die liebliche Statue der Muttergottes und des Kindes. Der Stamm, längst schon umgestürzt, hatte seinen kostbaren, steinernen Schatz freigegeben.

Die rauen Männer fielen bei diesem Anblick auf die Knie, sahen das Geschehen als ein Wunder Gottes an. Und weil sie ohnehin die Hoffnung auf eine neue Heimat mit sich herumgetragen hatten, war ihnen schlagartig klar: Hier würden sie bleiben, hier war gottgeweihtes Land. Den Fingerzeig des Himmels nahmen sie ernst. An solche heiligen Dinge glaubte man damals.

Es waren bei der Söldnergruppe auch Dirnen und Marketenderinnen, sowie ehrbare Bauersfrauen, deren Männer im Krieg erschlagen, deren Gehöfte die Schweden verbrannt hatten. In der Wirrnis der Zeit hatten sie sich alle zusammengeschlossen und waren zu Gleichen geworden.

Am nächsten Morgen fanden sie eine Quelle, die sich zu einem kleinen, klaren Bach formte, entdeckten in geringer Entfernung eine Reihe fischreicher Weiher. Zu ihren Füßen breitete sich in der Sonne eine liebliche, und, wie sich später herausstellen sollte, ziemlich fruchtbare Ebene.

Von nun an würden sie nicht mehr weiter ziehen.
Sie begannen den Urwald zu roden. Der Ort, den sie bauten, wurde von ihnen ‚Marienstock‘ genannt, nach der Gottesmutter und nach dem Baumstumpf (Stock) worin sie die Statue auf so wunderbare Weise gefunden hatten.

Jetzt sind die tiefen Wälder zum großen Teil abgeholzt.
An Stelle der alten, zerfallenen Eiche steht die gemauerte Andachtssäule, das Bildstöckel. Die ursprüngliche Madonnenfigur ist daraus verschwunden, ist im Lauf der Generationen durch eine neue ersetzt worden, die ebenfalls auf mysteriöse Weise verschwand und einer noch neueren Platz machte. Der Name des Ortes ist geblieben.

*

Vom 'Bildstöckel' aus stürmt die Meute der jungen Abenteurer los. Aufs Brachland geraten sie jetzt, in die Gegend des Ginsters und der roten Sandkaulen. Rasend wie der Wind geht es über Böschungen und Schotterwege. Die Kinder halten sich bei den Händen, bilden eine Kette. Keiner darf die Hand des anderen loslassen, dass die Kette nicht zerreißt. Die Jungen ziehen die Mädchen mit. Leicht wie Luft und schriekend vor Vergnügen, fliegen sie dahin ... berühren die Erde kaum.

Unten im Tal laufen sie querfeldein. Ackerboden heftet sich klumpig an ihre Schuhe. Bäche mit glucksend feuchten Ufern überspringen sie wie nichts.

Nun türmen sich vor ihnen die grauen Schlackenhalden. Vereinzelte Birken wachsen da. Ihre Zweige zittern, tanzen vor dem Hintergrund der Sterne. Hell, silberweiß leuchten die Blätter im Mondlicht.

An den Halden, auf die tagsüber der dampfende Abraum aus den Kohlegruben ausgekippt wird, sind die Hänge wie Rutschbahnen. All die kleinen, anthrazitfarbenen, krümeligen, noch warmen Gesteinsbröckchen fangen unter den Füßen zu rollen an ... Die Kinder stellen sich einfach oben auf die Halde, gleiten dann auf ihren Schuhsohlen bergab, als stünden sie auf Skiern. Andere setzen sich gleich auf den Allerwertesten und rutschen auf diese Weise mit den kullernden Steinchen nach unten. Riesengelächter. Mit den kahlen, grauen Schlackenhalden sind sie aufgewachsen ... ihre Spielplätze von Kindheit an.

Später auf den Wiesen im Mondlicht schütteln die Mädchen und Jungen Maikäfer von den Bäumen. Käfersammeln muss sein ... es ist – vorgeschobene Begründung für das lange Ausbleiben in der Hexennacht. Marie hat wie die anderen, ein Zigarrenkästchen mit Luftlöchern. Da hinein steckt sie die Krabbeltiere.

Dann rennen sie wieder los.
Dicht steht das junge Getreide auf den Feldern, ein grüner Teppich aus Samt soweit das Auge reicht. Und Mottenfalter fliegen.
Am Himmel flimmert und glitzert es vor lauter Sternen. Wie ein dicker, gelber Ball hängt der Mond da. Nur noch ein kleines Stück fehlt ihm zur vollen Rundung.

In den Gärten leuchten, weiß wie Schnee, übersät von Millionen Blüten, die Kirschbäume aus der Nacht. Tief hinunter auf den Boden biegen sich die duftenden Dolden.


Die herumvagabundierende Kinderschar verschleppt Fahrräder, Fensterläden, eine Schubkarre ... und schafft das Zeug dorthin, wo es später kein Mensch vermutet. Dann kommt Robert auf die gloriose Idee, am Haus von Frau Zang, der ‚Lieblingslehrerin‘, die hüfthohe, schmiedeeiserne Gartentür auszuhängen. Mit vereinten Kräften schleppen sie das schwere Stück über eine ziemlich weite Wegstrecke, wuchten es polternd die Stufen hinauf auf den - ganz aus Holz gebauten - Aussichtsturm, der als uraltes Wahrzeichen der Gegend, oben auf dem Hahnenkopf thront. Das windschiefe Konstrukt knarrt und ächzt schaurig im morschen Gebälk. Es ist lebensgefährlich, da hinaufzusteigen- so warnt ein Schild mit Totenkopf.

Gerade haben die Kinder die Gartentür bis auf die zweitoberste Plattform gehievt, da biegt unten eine dunkle Gestalt um die Ecke. Es ist der Schutzmann und er kommt geradewegs auf den Turm zu. Seinen Schäferhund hat er bei sich ... den kennen alle, T e u f e l heißt er und veranstaltet jetzt an seiner Leine ein Riesengezerre und beim Näherkommen ein Mordsgebell, nur ab und zu unterbrochen von blutrünstigem Hecheln. Pechschwarz ist der Rüde, sieht aus wie ein riesiger Wolf.

"Ich hab euch gesehen, kommt sofort da herunter ... aber vorsichtig", schreit Herr Stinnes, "oder der Teufel wird euch holen ...“

Jetzt lassen die jungen Wilden Gartentür Gartentür sein und spurten durchs enge, hölzerne Stiegenhaus nach unten. Nichts wie weg hier! In ihrer Flucht kugeln ein paar von ihnen übereinander.

Der Ordnungshüter hält das heftig an der Leine reißende Satansvieh mit ziemlicher Mühe zurück. Auch nähert er sich absichtlich nur langsam dem ‚Tatort‘. Er will ja keine Bösewichte fangen, es liegt ihm einzig daran, dass die jungen Leute von dem Bauwerk heil herunter kommen, bevor es endgültig zusammenkracht.

Als auch der letzte glücklich auf dem Erdboden steht und Herr Stinnes dann einige Male schrill auf seiner Trillerpfeife loslegt wie die Polizisten in den Dick-und-Doof-Filmen, da stieben sie, Jungen wie Mädchen, johlend, kreischend in alle möglichen Richtungen davon.

Später sammeln sie sich wieder. Wie ein summender Bienenschwarm, driften sie über die Wiesen gegen Alvansberg hin.
Jenseits der Gärten des Dorfes wächst dann der Schörener Forst vor ihnen auf wie eine schwarze Wand. Durchs Unterholz schlagen sie sich. Hier im Dunkel unter den alten Baumriesen gibt es keine Wege. Es ist still. Nur ein Kauz ruft ab und zu in der Ferne.
Ein immer gleicher Laut. Der Kauz klagt und klagt. Unheimlich. Die Kinder erzählen sich lieber lustige Sachen. Machen Witze. Manchmal prusten die Mädchen vor Lachen los.
Nach und nach hören sie aber auf, zu reden. Das letzte Kichern verstummt. Denn seit einer Weile spüren sie ihn ganz stark, IHN, den uralten Zauber ihrer heimischen Wälder, durch die man noch immer wochenlang streifen könnte, ohne ein Dorf oder ein Gehöft zu berühren.

Irgendwann fängt jemand an, Gruselgeschichten zu erzählen. Vom verfluchten ‚Malditz‘. In Wintersturmnächten rast er in Schnee und Eis durch die Tiefen der Wälder ... eine verlorene Seele, ein Verfluchter, der schreckliche Taten begangen hat: Folter, Mord. Im Unwetter kann man ihn mit seinen Spießgesellen vorbeireiten und schauerlich heulen hören. Ihre Stimmen übertosen das Brausen des Windes. Wer die Töne vernimmt, wird sterben.

Und dann die Geschichte vom riesigen, schwarzen Eber, der 1930 am helllichten Tag Mutter und Säugling zerfleischte. Das ist im ‚Saufang‘ geschehen, fünf Minuten von da, wo die Kinder jetzt herumlaufen. Sie wissen: Wildschweine gibt es im Schörener Forst noch immer. In Rotten streifen sie nachts durchs Unterholz.

Auch da, wo die jungen Leute jetzt sind, spielte sich ein Ereignis ab, das haben die Menschen nicht vergessen. Obwohl ... es ist Ewigkeiten her. Geschah lang vor dem ersten Weltkrieg. Um 1895 oder so.

Im Morgengrauen war der Förster wieder einmal jenem geheimnisvollen Wilderer auf der Spur, der immer die besten Rehböcke wegschoss. Verbissen lauerte der Staatsdiener dem Unbekannten auf, denn er spürte irgendwie seine Anwesenheit und entdeckte plötzlich die Blutflecken eines getöteten Tieres im Laub. Die Beute und den Verbrecher bekam er jedoch nicht zu sehen. War es ein Phantom, das hier sein Unwesen trieb? War der brave Beamte Opfer seiner eigenen Einbildungskraft oder von Halluzinationen? In der Vergangenheit hatte er oft gehört, wie Schüsse knallten, konnte aber keinen Menschen ausfindig machen ...

An jenem frühen Morgen, nicht weit vom Saufang entfernt, gelang es dem Förster dann zu guter Letzt doch, den Missetäter zu stellen:
"Hab ich dich endlich, Elender!".
Aber der Wilddieb hob blitzschnell sein Gewehr, zielte und ... bevor der brave Waidmann das seine in Anschlag bringen konnte, war er schon tot. Eine einzige Kugel des frevlerischen Schützen hatte ihn aus weiter Entfernung mitten ins Herz getroffen.

Der Mörder wurde schnell gefasst.
In der ganzen Umgebung begann man nun an heimischen Herden und in den Wirtsstuben wild zu streiten. Sollte der Mann gehenkt oder nur lebenslang eingekerkert werden? Es sah schlecht aus für ihn, den Friedrich Schroth. Der Name des Försters war übrigens Friedrich Poth. Und da machte jemand einen Reim darauf. So konnte man sich generationenlang an die Namen erinnern:

Es schoss der Schroth
den Förster Poth
im Walde toth.
Oh welche Noth,
er starb im frühen Morgenroth.

Nicht alle Sympathien der Dorfbewohner waren auf Seiten des ehrbaren Försters. Der war schroff zu Kindern gewesen und hatte sie verjagt, wenn sie im Wald spielten und eingebildet und stolz war er auch. Der Mörder aber, der Schroth, schien ein zweiter Robin Hood, der zu Zeiten großer Armut auf verbotene, doch vom Volk bewunderte Weise, das Fleisch für Familie und Freunde, aber auch für arme Bedürftige, besorgt hatte. Von Beruf war er ohnehin Schütze. Der beste Scharfschütze weit und breit. Er hatte in einem Kaiserlich-Königlichen Infanterie-Regiment mit Auszeichnung gedient in jenem deutsch-französischen Krieg, der unzähligen Menschen das Leben kostete und heute komplett vergessen ist. Der Mann hatte viele Medaillen für seine Meisterleistungen bekommen.

Auch beim Scheibenschießen später auf den Kirmesplätzen, als er kein Soldat mehr war, erntete er stets Lorbeeren. Es musste die jahrzehntelange Übung an der Waffe gewesen sein, die ihn auch an jenem Schicksalsmorgen sein Gewehr so lässig hatte abfeuern lassen.

In der Bevölkerung standen die meisten Männer auf seiner Seite. Sie hatten Verständnis für den Wilddieb und seine Jagdlust. Dass er den Förster erschossen hatte, wurde ihm eher als trauriger Unfall ausgelegt. Auch die Richter im Prozess wollten ihn nicht ganz und gar verderben.

"Der Schroth ist ein untadeliger Soldat und bewunderter Schützenkönig gewesen. Das hat ihn in einer Zeit, als Kriegshandwerk und Schießkunst noch hoch im Kurs standen, vor dem Galgen gerettet", erzählte der alte Heinrich. "Er bekam acht Jahre. Zwei davon hat er verbüßt, dann soll er begnadigt und wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein. Es gab nämlich wieder einen Krieg, wo man gute Männer brauchte. Aber ich weiß das nur von meinem Großvater.“

*

Die Kinder halten auf ihrem Lauf durch die Wälder jetzt am Gedenkstein für den unglücklichen Förster an. Stehen nun genau an der Stelle, wo vor über sechzig Jahren die Bluttat geschah. Umgefallen liegt der Granitblock am Boden, in Humus und Laub versunken, die Aufschriften von Moos überwuchert.
Im Licht von Brunos Taschenlampe und mit vereinten Kräften schaben sie die Flechten vom Stein. Entziffern halbverrottete Relief-Buchstaben. Worte eines alten Liedes tauchen auf ... Es war des toten Waidmanns Lieblingslied, verkündet die verwitterte Inschrift. Die meisten Zeilen sind nicht mehr lesbar, aber die Kinder kennen den Text ohnehin auswendig:

Im grünen Wald, da wo die Drossel singt,
das muntre Rehlein durch die Büsche springt,
wo Tann' und Fichten stehn am Waldessaum,
verlebt ich meiner Jugend schönsten Traum.


Das Rehlein trank wohl aus dem klaren Bach,
derweil im Wald der muntre Kuckuck lacht,
der Jäger zielte hinter einem Baum,
das war des Rehleins letzter Lebenstraum.


Getroffen wars und sterbend lag es da,
das man zuvor noch munter springen sah,
da trat der Jäger aus des Waldes Saum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

Er nahm die Flinte, schlug sie an ein Baum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

*

Die Alten haben auch erzählt, der Wilddieb hätte dem toten Förster nach seiner Tat noch die Ohren abgeschnitten. Als Jagdtrophäe sozusagen ...

Marie sitzt neben Helga auf dem umgefallenen Erinnerungsstein. Der ist eisig kalt an ihrem Hintern. Feucht und klamm. Marie hat ein komisches Kribbeln im Bauch. Das muss das ‚Grauen‘ sein? Schauer rieseln ihr über den Rücken.

Dann rennen die Kinder weiter. Bald taucht zu ihrer Linken der alte Wilhelmsthaler Friedhof auf. Durch eine Lücke in der Taxushecke schlüpfen sie hinein. Ein Teil der Gräberfelder liegt in Dunkelheit unter den weit ausladenden Kronen der Baumriesen, der Rest bleckt ihnen hell im Mondlicht entgegen. Jetzt überqueren sie brache, plattgewalzte Flächen.
Hoch aufgetürmt, sperrig, ragen dort Stauden- und Krautstängel und dürre Äste zum Himmel. Auf einen Haufen geworfen, schimmern sie weiß im Mondlicht ...
"Hier pflügen sie alte Gräber um, machen Platz für neue", sagt Andi, "... huh, guckt mal, an der Mauer da hinten sind Totenköpfe gestap...!"
"Tatsächlich ...."

Sie rennen, so schnell ihre Füße sie tragen, zwischen Holzkreuzen und vermoderten Blumengebinden dahin, dort, wo gestürzte Engel aus Stein ihnen aus kalkweißen Augen zulächeln. Dann ein metallisches Scheppern. Alle fahren hoch ... aber es war bloß Andi, der über einen Blechkranz gestolpert ist.

In einem anderen Teil des Friedhofs sind, von Efeu überwuchert, Grabstätten aus den letzten zwei Jahrhunderten. Hinter Marmor, Stuck, Ornamenten, Säulen, ruhen Tote, die einmal reicher und bedeutender waren als andere. Ihr Andenken kennt heute niemand mehr... Doch ihre wuchtigen Ehrengräber sind noch da. Familiengruften ... pathetische Bauwerke, umgrenzt von kunstvollen, schmiedeeisernen Umzäunungen, die jetzt, windschief und verrostet, nach allen Seiten heruntergebrochen sind.
Dieser Teil des Kirchhofs ist von Zypressen verdunkelt. Dort schlüpfen die Halbwüchsigen durch die Hecke zurück in den Wald.

So wie in dieser Nacht war es noch nie. Es ist, als ob sie auf rätselhafte Weise tiefer und tiefer in den Forst gezogen würden. Ein ‚Etwas‘ ist da, eine fremde Existenz. Es ist in der Starrheit der Baumriesen, in den spärlichen Kringeln und Mustern, die das Mondlicht hier und da durchs Blätterdach auf den Boden malt.
"Spürst du es auch?" Inges Zähne klappern.
Marie spürt es auch. Schon wieder überfluten sie Schauer. Da ist eine Kraft, die von weither kommen muss ... von jenseits ... oder ...
Am liebsten hätte sie die Tür vollends aufgestoßen zu dieser geheimnisvollen Sphäre.
Anni und Hilde – Zwillingsschwestern - fangen an, merkwürdige Worte zu murmeln. Die wollen sich wichtig machen. Aber ... ihre Tante besitzt nun einmal das sechste Buch Mose. Dort sind Zaubersprüche drin.

"Fangt bloß nicht wieder mit eurer Spinnerei an!", grinst Markus.
"Ramire mano mafunju."
"Eh, stoppt den Quatsch!"
Hilde kniet auf dem Boden und malt mit seltsam geformten Wurzeln - oder Knöchelchen kleiner Nager? - die sie gefunden hat, Zeichen in die Walderde.
"Ramire mano mafunju."
"Hu, hu, Hexe." Werner zieht scherzend an Hildes Zöpfen. Doch niemand lacht.
"Ich will nach Haus", murmelt Inge.

Wirklich ... da ist dieses ‚Etwas‘ ... es nähert sich. Die ANDERE Sphäre ... Kreaturen, unsichtbare ...
Zuerst ist es vielleicht nur e i n jenseitiges Wesen, aber dann rücken sie aus allen Richtungen heran. Immer mehr, als sei ein verschütteter Weg plötzlich frei oder eine Mauer gestürzt worden. Sie ergießen sich scharenweise, ergießen sich in einer Flut, die die Kinder nicht sehen, nur spüren können. Angefüllt ist die Luft mit ‚Fremdem‘. Schwerer wird das Atmen. In unsichtbaren, dichten Schwaden drängen die Wesen heran, wer immer sie sind, gestorbene Seelen oder die geheimen Mitbewohner des Planeten.

Die Schüler fühlen mit Schaudern, wie in dieser Nacht eine mächtigere Welt auf ihre sichtbare trifft. Vielleicht, weil sie selbst im richtigen Augenblick am richtigen Ort sind, an der Nahtstelle, wo die beiden Dimensionen ineinander überfließen. Von dort schlüpfen die Jenseitigen herein. Sie kommen in einer unsichtbaren Prozession. Werden sie sich zeigen? Werden sie den Kindern ein Zeichen geben?

Die Laute der Käuze sind verstummt.
"Mabut, nara, natumi", murmelt Hilde.
Und Anni: "Teje, abrum, teje abrum ..."

Da kommt es Marie vor, als hätten sich die Kräfte um sie herum noch mehr verdichtet. Sie fühlt ihren eigenen Körper schwerer werden und schwerer, als sei sie im Mittelpunkt eines mächtigen Magnetfelds. Gefangen! Keinen Schritt kann sie mehr tun. Obwohl sie es mit aller Kraft versucht. Nicht vor, nicht zurück. Den anderen scheint es ebenso zu gehen. Die Nacht ist erfüllt von einem rätselhaften Beben und Vibrieren. Gleich wird etwas Unsagbares geschehen.
"Teje abrum, teje abrum!"
Da scheinen die Zeit und das All stillzustehen. Ein hörbares metallisches Sirren ist jetzt überall.
.
Der Ton, ein brausender, schwellender Zikadenlaut, zusammengesetzt aus tausend insektenartigen Stimmen durchhallt die Luft. Die Kinder sind starr .
„Teje abrum, teje abrum.“
Dann gehen diese Augenblicke der äußersten Kraftansammlung - leider - vorbei. Die Jenseitigen bleiben unsichtbar. Es gelingt nicht, sie vollends aus ihrer Sphäre herüberzuziehen ... der Ton wird leiser ... die fremden Wesen beginnen anscheinend, sich wieder zurückzuziehen. Dann ist alles vorüber. Stille herrscht. Da löst sich die Spannung. Da atmen die Kinder auf. Plötzlich schreit ein Eulenvogel. Die Baumriesen fangen wieder an, ihre Wipfel im Nachtwind zu schaukeln. Es ist vorbei. Marie spürt es wie eine Erlösung. Und doch mit vagem Bedauern.

Aber jetzt rennen die Kinder. Rennen, rennen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Gut geht es ihnen erst, als sie die offenen, mondhellen Wiesen wieder unter den Füßen haben und im Tal die Dörfer liegen sehen. Da beginnen sie zu marschieren, zügig, sicher. Zaghaft lächeln sie einander zu, später plappern sie drauflos, werden laut, vergnügt und reichlich albern. .

Marie fühlt sich gut, so aufgehoben in der Gruppe. Nie zuvor hat sie eine so schöne Nacht erlebt. Mit den Sternen am Himmel, dem Blütenduft des Frühlings über dem samtblauen Land, das sich weit im Mondlicht breitet, kommt ein wohliges Gefühl in ihr auf. Heimat. Heimat. Im Tal zu ihren Füßen, tief unten Marienstock.

Am Hang lassen sich alle nieder. Und wieder erzählen sie einander haarsträubende Begebenheiten. Man ist in der rechten Stimmung. Ach ja, es grassieren viele Legenden von grässlichen Bluttaten ... ewig ungeklärten Verbrechen, dass es einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt.

"Kennt ihr die Geschichte von den drei Mördern und der Jungfrau in der unterirdischen Höhle?"
"Komm hör auf!“
"Es i s t Tatsache. Steht in alten Gerichtsakten ."
"Oder von dem verschwundenen Bergmann ... neunzig Jahre später fand man ihn in einem verschütteten Stollen. Er sah lebendig aus, ganz frisch. Weil er irgendwie versteinert war. Seine Verlobte kam und küsste ihn und weinte furchtbar. Er war jung und schön. Sie war uralt. Hundertzehn?

Ja, sich gruseln ist wunderbar. Vor allem, wenn man im Schutz einer großen, fröhlichen Schar geborgen ist!

Aber nicht nur um Spukgeschichten geht es.
"Leo sieht aus wie Gregory Peck", flüstert Inge. "Sie nennen ihn überall ‚ das Peckchen‘, Er ist soo süß!"
Die jungen Dinger finden auch noch ein paar andere Burschen ‚süß‘.
Jetzt will man auf keinen Fall heimgehen, nun, wo es gerade interessant wird. Obwohl Mitternacht vorbei ist.
Die Mädchen können plötzlich auf Teufel komm heraus flirten. Die Jungen geben sich überlegen:
"Ach Weibervolk".
Dennoch: der eine oder andere legt seiner heimlich Angebeteten die eigene Jacke über die Schulter, damit sie in der aufkommenden Morgenkühle nicht friert. Werner bietet Marie seinen Anorak zum Draufsetzen, weil der Boden klamm ist.
Walter und Ilse haben doch tatsächlich angefangen, zu knutschen ...
"Wo ist denn der Hans?" ruft auf einmal jemand. Das Hänschen Jordan aus der Mozartstraße, einer der jüngsten der Meute. Er fehlt.
"Ist bestimmt heimgelaufen?"
"Allein? Das würde der nie tun!"
Da rennen sie ihn suchen. Trauen sich sogar wieder in den schwarzen Schörener Forst hinein.
"Hansi, Hansi", rufen sie laut durch die Nacht.
Nur Echos hallen zurück.

Später, am Morgen durchkämmen Polizisten mit Spürhunden die heimischen Wälder. Die Einwohner suchen eifrig mit. Auch Schulklassen. Feuerwehrtaucher steigen in die Tiefen der Weiher.
Der kleine Hans bleibt verschollen ...

*
 

Inu

Mitglied
*





Walpurgisnacht


"Die Nacht zum 1. Mai ist die gefährlichste des Jahres", hatte eine alte Frau im Dorf zu Marie gesagt,"da kehren die Seelen der Gestorbenen wieder - solche, die im Jenseits nicht in die Gemeinschaft der Seligen kommen können, weil sie im Zustand einer Todsünde starben ... zum Beispiel Menschen, die einem Mord oder Unfall zum Opfer fielen und keine Zeit mehr hatten, in der Beichte ihre Taten zu bereuen. Von Gott aus dem Himmelreich verbannt, irren diese armen Wesen ruhelos durch die Öde des Alls und kehren nur in dieser einen Nacht zur Erde zurück, um sich den Menschen in Erinnerung zu bringen."

Sonderbare Geschichten gehen um und alte Leute raunen von Zauberern und Hexen, die mit Pentagrammen, mit magischen Formeln in die andere Welt einzudringen suchen ... und es manchmal sogar schaffen. Da rückt dann die unsichtbare Welt ganz nah an die sichtbare heran, es lüftet sich zumindest ein Zipfel vom Geheimnis der jenseitigen Sphären.“


"Lasst mich doch bitte heute Nacht länger aufbleiben und mit den anderen Kindern draußen herumlaufen, ihr wisst schon - Maikäfer sammeln!", bettelt Marie beim Abendessen.
"Der Vater sagt "nein“, sagt "im nächsten Jahr vielleicht, wenn du vierzehn bist!"
"Och, bitte, bitte!"
„Nein.“
Die Tochter heult vor Enttäuschung
Mama schaut den Vater an und versucht ein aufmunterndes, mild stimmendes Nicken.
"Na gut", sagt der, „na ja ... aber um halb elf bist du wieder da ... sonst ..."
"Klar ", ruft Marie und ist schon weg.

Nun tauchen jedoch die Überirdischen niemals vor Einbruch der Geisterstunde auf. Das weiß jedes Kind. Erst nach Mitternacht wird es richtig interessant. Deshalb haben die Halbwüchsigen nicht vor, so zeitig zurückzukommen, wie sie daheim versprochen haben. Auch Marie hat gelogen, sonst hätten die Eltern sie erst gar nicht fortgelassen. Und natürlich hat das draußen-Herumfegen in der Hexennacht nur am Rand etwas mit Maikäfer-Einsacken zu tun!

Die zirka fünfzehn Mädchen und Jungen, Volksschüler sind sie noch allesamt, treffen sich also am Rand des Ortes auf dem Hahnenkopf. Der Hahnenkopf ist der höchste Hügel in der Umgebung.

Um genau zu sein: am ‚Bildstöckel‘ haben sie sich verabredet, einer aus rotem Backstein gemauerten Mariensäule. In deren oberem Teil ist eine kleine Kammer eingelassen und darin steht, geschützt hinter schmiedeeisernem Gitterwerk, die Muttergottes. Jemand steckt im Sommer immer frische Blumen zwischen die Metallornamente. Im Winter sind es Kiefernzweige. Oder weiße Chrysanthemen.

Das Bildstöckel erhebt sich am Ende des Dorfes, an jener berühmten Stelle, wo vor Zeiten ein Pilger, auf seinem Weg zum Eifelkloster Maria-Laach, Halt machte.

Das muss um das Jahr dreizehnhundert nach Christus gewesen sein. Ohne jede menschliche Ansiedlung, von dichtem, nordischem Urwald überzogen, lag damals das Land. Der einsame Wanderer - viele Tage war er schon zu Fuß unterwegs gewesen - legte sich unter eine Eiche zum Schlafen nieder. In der Nacht schreckte er entgeistert hoch. Die Hölle war losgebrochen: Regengüsse, Hagel, Orkan! Das Unwetter hörte nach einer Stunde nicht auf, nicht nach drei, noch nicht einmal nach acht Stunden. Ein Sturm fegte über die Erde, dass die Äste von den Bäumen herunterkrachten und die Stämme brachen. Dazu dröhnte Donner, ohrenzerreißend, Schlag auf Schlag.

Der Pilger, starr vor Kälte, bis auf die Knochen nass, fast um den Verstand gebracht vom Gezucke und Leuchten der Blitze, die in Sekundenschnelle einander jagten, dachte, nun werde die Welt untergehen.
Dann schlug ein gezackter Strahl auch noch in die Eiche ein, unter der er zitternd hockte und verfehlte ihn selbst um Haaresbreite. Der Mann in seiner Todesfurcht betete ... wahrscheinlich. Dann nahm er die kleine, steinerne Skulptur der heiligen Jungfrau, die er als Gabe für die Mönche von Maria Laach in seinem Ranzen mit sich trug und stellte sie in die Höhlung des vom Blitz gespaltenen Baumstammes.
Wollte er vielleicht einen Pakt mit Maria schließen ... ihr sagen: "Sieh, ich werde dir diese Statue, dein kostbares Abbild, zum Geschenk machen, indem ich sie, fortan für jedes menschliche Auge unsichtbar, tief in diesem Baumstumpf versenke, hier inmitten der Urwälder. Du, heilige Mutter, sollst mich im Gegenzug vor kommendem Unheil schützen!"


Es gibt noch eine andere Version der Geschichte. Von einem Handwerksburschen im Mittelalter, einem Steinmetzgesellen auf Wanderschaft, berichten die Alten. Im Ranzen trug er ebenfalls eine kleine Statue der Madonna, die er seinem Meister, einem Bildhauer, gestohlen hatte und auf dem Markt zu Trier für gutes Geld verkaufen wollte. Tagelang durchquerte er die dichten, weg- und steglosen Wälder. In einer Gewitternacht schien alle Unbill der Natur auch auf ihn niederzuprasseln: losgelassen waren die Dämonen und Geister des alten Germanien, sie rasten auf ihren schäumenden Rossen durch die Dunkelheit und wirbelten den armen Handwerksburschen nur so herum, dass ihm Hören und Sehen verging. Die unerbittlichen, heidnischen Götter trachteten ihm nach dem Leben ... Wotan und seine wilde, mordgierige Jagd! Dazu Freya, flammend im Blitz ... ihr Lachen dröhnte ihm aus den Donnerschlägen entgegen. So, weltenweit entfernt von jeder menschlichen Behausung, packte auch diesen armen Wicht die Todesangst.

Bestimmt hatte er wegen seines Madonnen-Diebstahls Furcht vor Gottes Zorn und mochte das unrechte Gut nicht mehr länger bei sich behalten? Oder er wollte die Statue als heiligen Schutzschild benutzen, Fetisch gegen die Mächte des Bösen, gegen Wotan und seine Meute? Mit letzter Kraft nahm er jedenfalls das kleine Standbild und stellte es in die Spalte des zerborstenen Eichenstammes.

Als er am Morgen weiterzog, musste er die Figur dann in dem Baum vergessen haben. Weiterzog??

Über die verlassenen Wälder wehte nun der Wind der Jahrhunderte.
Dann kam ein Tag - man schrieb das Jahr 1640, in Europa wütete der Dreißigjährige Krieg - da waren Soldaten unterwegs, versprengte Bauernsöhne, Deserteure aus dem Heer eines der unzähligen, deutschen Landesfürsten, Heimatlose ohne Ziel, deren Dörfer und Familien das Morden und Brandschatzen nicht überlebt hatten. Auf der Flucht vor den schwedischen Horden und nicht zuletzt, um der wild grassierenden Pest zu entgehen, war die Gruppe in das riesige, unberührte Waldgebiet geraten.

Als sie sich an jenem Abend zerstreut hatten, um Holz für das Lagerfeuer zu sammeln, schrie plötzlich einer von ihnen laut auf und da ... inmitten eines Teppichs von Anemonen lag, umhüllt von altem Laub und den Fasern eines fast vermoderten Baumes, die liebliche Statue der Muttergottes und des Kindes. Der Stamm, längst schon umgestürzt, hatte seinen kostbaren, steinernen Schatz freigegeben.

Die rauen Männer fielen bei diesem Anblick auf die Knie, sahen das Geschehen als ein Wunder Gottes an. Und weil sie ohnehin die Hoffnung auf eine neue Heimat mit sich herumgetragen hatten, war ihnen schlagartig klar: Hier würden sie bleiben, hier war gottgeweihtes Land. Den Fingerzeig des Himmels nahmen sie ernst. An solche heiligen Dinge glaubte man damals.

Es waren bei der Söldnergruppe auch Dirnen und Marketenderinnen, sowie ehrbare Bauersfrauen, deren Männer im Krieg erschlagen, deren Gehöfte die Schweden verbrannt hatten. In der Wirrnis der Zeit hatten sie sich alle zusammengeschlossen und waren zu Gleichen geworden.

Am nächsten Morgen fanden sie eine Quelle, die sich zu einem kleinen, klaren Bach formte, entdeckten in geringer Entfernung eine Reihe fischreicher Weiher. Zu ihren Füßen breitete sich in der Sonne eine liebliche, und, wie sich später herausstellen sollte, ziemlich fruchtbare Ebene.

Von nun an würden sie nicht mehr weiter ziehen.
Sie begannen den Urwald zu roden. Der Ort, den sie bauten, wurde von ihnen ‚Marienstock‘ genannt, nach der Gottesmutter und nach dem Baumstumpf (Stock) worin sie die Statue auf so wunderbare Weise gefunden hatten.

Jetzt sind die tiefen Wälder zum großen Teil abgeholzt.
An Stelle der alten, zerfallenen Eiche steht die gemauerte Andachtssäule, das Bildstöckel. Die ursprüngliche Madonnenfigur ist daraus verschwunden, ist im Lauf der Generationen durch eine neue ersetzt worden, die ebenfalls auf mysteriöse Weise verschwand und einer noch neueren Platz machte. Der Name des Ortes ist geblieben.

*

Vom 'Bildstöckel' aus stürmt die Meute der jungen Abenteurer los. Aufs Brachland geraten sie jetzt, in die Gegend des Ginsters und der roten Sandkaulen. Rasend wie der Wind geht es über Böschungen und Schotterwege. Die Kinder halten sich bei den Händen, bilden eine Kette. Keiner darf die Hand des anderen loslassen, dass die Kette nicht zerreißt. Die Jungen ziehen die Mädchen mit. Leicht wie Luft und schriekend vor Vergnügen, fliegen sie dahin ... berühren die Erde kaum.

Unten im Tal laufen sie querfeldein. Ackerboden heftet sich klumpig an ihre Schuhe. Bäche mit glucksend feuchten Ufern überspringen sie wie nichts.

Nun türmen sich vor ihnen die grauen Schlackenhalden. Vereinzelte Birken wachsen da. Ihre Zweige zittern, tanzen vor dem Hintergrund der Sterne. Hell, silberweiß leuchten die Blätter im Mondlicht.

An den Halden, auf die tagsüber der dampfende Abraum aus den Kohlegruben ausgekippt wird, sind die Hänge wie Rutschbahnen. All die kleinen, anthrazitfarbenen, krümeligen, noch warmen Gesteinsbröckchen fangen unter den Füßen zu rollen an ... Die Kinder stellen sich einfach oben auf die Halde, gleiten dann auf ihren Schuhsohlen bergab, als stünden sie auf Skiern. Andere setzen sich gleich auf den Allerwertesten und rutschen auf diese Weise mit den kullernden Steinchen nach unten. Riesengelächter. Mit den kahlen, grauen Schlackenhalden sind sie aufgewachsen ... ihre Spielplätze von Kindheit an.

Später auf den Wiesen im Mondlicht schütteln die Mädchen und Jungen Maikäfer von den Bäumen. Käfersammeln muss sein ... es ist – vorgeschobene Begründung für das lange Ausbleiben in der Hexennacht. Marie hat wie die anderen, ein Zigarrenkästchen mit Luftlöchern. Da hinein steckt sie die Krabbeltiere.

Dann rennen sie wieder los.
Dicht steht das junge Getreide auf den Feldern, ein grüner Teppich aus Samt soweit das Auge reicht. Und Mottenfalter fliegen.
Am Himmel flimmert und glitzert es vor lauter Sternen. Wie ein dicker, gelber Ball hängt der Mond da. Nur noch ein kleines Stück fehlt ihm zur vollen Rundung.

In den Gärten leuchten, weiß wie Schnee, übersät von Millionen Blüten, die Kirschbäume aus der Nacht. Tief hinunter auf den Boden biegen sich die duftenden Dolden.


Die herumvagabundierende Kinderschar verschleppt Fahrräder, Fensterläden, eine Schubkarre ... und schafft das Zeug dorthin, wo es später kein Mensch vermutet. Dann kommt Robert auf die gloriose Idee, am Haus von Frau Zang, der ‚Lieblingslehrerin‘, die hüfthohe, schmiedeeiserne Gartentür auszuhängen. Mit vereinten Kräften schleppen sie das schwere Stück über eine ziemlich weite Wegstrecke, wuchten es polternd die Stufen hinauf auf den - ganz aus Holz gebauten - Aussichtsturm, der als uraltes Wahrzeichen der Gegend, oben auf dem Hahnenkopf thront. Das windschiefe Konstrukt knarrt und ächzt schaurig im morschen Gebälk. Es ist lebensgefährlich, da hinaufzusteigen- so warnt ein Schild mit Totenkopf.

Gerade haben die Kinder die Gartentür bis auf die zweitoberste Plattform gehievt, da biegt unten eine dunkle Gestalt um die Ecke. Es ist der Schutzmann und er kommt geradewegs auf den Turm zu. Seinen Schäferhund hat er bei sich ... den kennen alle, T e u f e l heißt er und veranstaltet jetzt an seiner Leine ein Riesengezerre und beim Näherkommen ein Mordsgebell, nur ab und zu unterbrochen von blutrünstigem Hecheln. Pechschwarz ist der Rüde, sieht aus wie ein riesiger Wolf.

"Ich hab euch gesehen, kommt sofort da herunter ... aber vorsichtig", schreit Herr Stinnes, "oder der Teufel wird euch holen ...“

Jetzt lassen die jungen Wilden Gartentür Gartentür sein und spurten durchs enge, hölzerne Stiegenhaus nach unten. Nichts wie weg hier! In ihrer Flucht kugeln ein paar von ihnen übereinander.

Der Ordnungshüter hält das heftig an der Leine reißende Satansvieh mit ziemlicher Mühe zurück. Auch nähert er sich absichtlich nur langsam dem ‚Tatort‘. Er will ja keine Bösewichte fangen, es liegt ihm einzig daran, dass die jungen Leute von dem Bauwerk heil herunter kommen, bevor es endgültig zusammenkracht.

Als auch der letzte glücklich auf dem Erdboden steht und Herr Stinnes dann einige Male schrill auf seiner Trillerpfeife loslegt wie die Polizisten in den Dick-und-Doof-Filmen, da stieben sie, Jungen wie Mädchen, johlend, kreischend in alle möglichen Richtungen davon.

Später sammeln sie sich wieder. Wie ein summender Bienenschwarm, driften sie über die Wiesen gegen Alvansberg hin.
Jenseits der Gärten des Dorfes wächst dann der Schörener Forst vor ihnen auf wie eine schwarze Wand. Durchs Unterholz schlagen sie sich. Hier im Dunkel unter den alten Baumriesen gibt es keine Wege. Es ist still. Nur ein Kauz ruft ab und zu in der Ferne.
Ein immer gleicher Laut. Der Kauz klagt und klagt. Unheimlich. Die Kinder erzählen sich lieber lustige Sachen. Machen Witze. Manchmal prusten die Mädchen vor Lachen los.
Nach und nach hören sie aber auf, zu reden. Das letzte Kichern verstummt. Denn seit einer Weile spüren sie ihn ganz stark, IHN, den uralten Zauber ihrer heimischen Wälder, durch die man noch immer wochenlang streifen könnte, ohne ein Dorf oder ein Gehöft zu berühren.

Irgendwann fängt jemand an, Gruselgeschichten zu erzählen. Vom verfluchten ‚Malditz‘. In Wintersturmnächten rast er in Schnee und Eis durch die Tiefen der Wälder ... eine verlorene Seele, ein Verfluchter, der schreckliche Taten begangen hat: Folter, Mord. Im Unwetter kann man ihn mit seinen Spießgesellen vorbeireiten und schauerlich heulen hören. Ihre Stimmen übertosen das Brausen des Windes. Wer die Töne vernimmt, wird sterben.

Und dann die Geschichte vom riesigen, schwarzen Eber, der 1930 am helllichten Tag Mutter und Säugling zerfleischte. Das ist im ‚Saufang‘ geschehen, fünf Minuten von da, wo die Kinder jetzt herumlaufen. Sie wissen: Wildschweine gibt es im Schörener Forst noch immer. In Rotten streifen sie nachts durchs Unterholz.

Auch da, wo die jungen Leute jetzt sind, spielte sich ein Ereignis ab, das haben die Menschen nicht vergessen. Obwohl ... es ist Ewigkeiten her. Geschah lang vor dem ersten Weltkrieg. Um 1895 oder so.

Im Morgengrauen war der Förster wieder einmal jenem geheimnisvollen Wilderer auf der Spur, der immer die besten Rehböcke wegschoss. Verbissen lauerte der Staatsdiener dem Unbekannten auf, denn er spürte irgendwie seine Anwesenheit und entdeckte plötzlich die Blutflecken eines getöteten Tieres im Laub. Die Beute und den Verbrecher bekam er jedoch nicht zu sehen. War es ein Phantom, das hier sein Unwesen trieb? War der brave Beamte Opfer seiner eigenen Einbildungskraft oder von Halluzinationen? In der Vergangenheit hatte er oft gehört, wie Schüsse knallten, konnte aber keinen Menschen ausfindig machen ...

An jenem frühen Morgen, nicht weit vom Saufang entfernt, gelang es dem Förster dann zu guter Letzt doch, den Missetäter zu stellen:
"Hab ich dich endlich, Elender!".
Aber der Wilddieb hob blitzschnell sein Gewehr, zielte und ... bevor der brave Waidmann das seine in Anschlag bringen konnte, war er schon tot. Eine einzige Kugel des frevlerischen Schützen hatte ihn aus weiter Entfernung mitten ins Herz getroffen.

Der Mörder wurde schnell gefasst.
In der ganzen Umgebung begann man nun an heimischen Herden und in den Wirtsstuben wild zu streiten. Sollte der Mann gehenkt oder nur lebenslang eingekerkert werden? Es sah schlecht aus für ihn, den Friedrich Schroth. Der Name des Försters war übrigens Friedrich Poth. Und da machte jemand einen Reim darauf. So konnte man sich generationenlang an die Namen erinnern:

Es schoss der Schroth
den Förster Poth
im Walde toth.
Oh welche Noth,
er starb im frühen Morgenroth.

Nicht alle Sympathien der Dorfbewohner waren auf Seiten des ehrbaren Försters. Der war schroff zu Kindern gewesen und hatte sie verjagt, wenn sie im Wald spielten und eingebildet und stolz war er auch. Der Mörder aber, der Schroth, schien ein zweiter Robin Hood, der zu Zeiten großer Armut auf verbotene, doch vom Volk bewunderte Weise, das Fleisch für Familie und Freunde, aber auch für arme Bedürftige, besorgt hatte. Von Beruf war er ohnehin Schütze. Der beste Scharfschütze weit und breit. Er hatte in einem Kaiserlich-Königlichen Infanterie-Regiment mit Auszeichnung gedient in jenem deutsch-französischen Krieg, der unzähligen Menschen das Leben kostete und heute komplett vergessen ist. Der Mann hatte viele Medaillen für seine Meisterleistungen bekommen.

Auch beim Scheibenschießen später auf den Kirmesplätzen, als er kein Soldat mehr war, erntete er stets Lorbeeren. Es musste die jahrzehntelange Übung an der Waffe gewesen sein, die ihn auch an jenem Schicksalsmorgen sein Gewehr so lässig hatte abfeuern lassen.

In der Bevölkerung standen die meisten Männer auf seiner Seite. Sie hatten Verständnis für den Wilddieb und seine Jagdlust. Dass er den Förster erschossen hatte, wurde ihm eher als trauriger Unfall ausgelegt. Auch die Richter im Prozess wollten ihn nicht ganz und gar verderben.

"Der Schroth ist ein untadeliger Soldat und bewunderter Schützenkönig gewesen. Das hat ihn in einer Zeit, als Kriegshandwerk und Schießkunst noch hoch im Kurs standen, vor dem Galgen gerettet", erzählte der alte Heinrich. "Er bekam acht Jahre. Zwei davon hat er verbüßt, dann soll er begnadigt und wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein. Es gab nämlich wieder einen Krieg, wo man gute Männer brauchte. Aber ich weiß das nur von meinem Großvater.“

*

Die Kinder halten auf ihrem Lauf durch die Wälder jetzt am Gedenkstein für den unglücklichen Förster an. Stehen nun genau an der Stelle, wo vor über sechzig Jahren die Bluttat geschah. Umgefallen liegt der Granitblock am Boden, in Humus und Laub versunken, die Aufschriften von Moos überwuchert.
Im Licht von Brunos Taschenlampe und mit vereinten Kräften schaben sie die Flechten vom Stein. Entziffern halbverrottete Relief-Buchstaben. Worte eines alten Liedes tauchen auf ... Es war des toten Waidmanns Lieblingslied, verkündet die verwitterte Inschrift. Die meisten Zeilen sind nicht mehr lesbar, aber die Kinder kennen den Text ohnehin auswendig:

Im grünen Wald, da wo die Drossel singt,
das muntre Rehlein durch die Büsche springt,
wo Tann' und Fichten stehn am Waldessaum,
verlebt ich meiner Jugend schönsten Traum.


Das Rehlein trank wohl aus dem klaren Bach,
derweil im Wald der muntre Kuckuck lacht,
der Jäger zielte hinter einem Baum,
das war des Rehleins letzter Lebenstraum.


Getroffen wars und sterbend lag es da,
das man zuvor noch munter springen sah,
da trat der Jäger aus des Waldes Saum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

Er nahm die Flinte, schlug sie an ein Baum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

*

Die Alten haben auch erzählt, der Wilddieb hätte dem toten Förster nach seiner Tat noch die Ohren abgeschnitten. Als Jagdtrophäe sozusagen ...

Marie sitzt neben Helga auf dem umgefallenen Erinnerungsstein. Der ist eisig kalt an ihrem Hintern. Feucht und klamm. Marie hat ein komisches Kribbeln im Bauch. Das muss das ‚Grauen‘ sein? Schauer rieseln ihr über den Rücken.

Dann rennen die Kinder weiter. Bald taucht zu ihrer Linken der alte Wilhelmsthaler Friedhof auf. Durch eine Lücke in der Taxushecke schlüpfen sie hinein. Ein Teil der Gräberfelder liegt in Dunkelheit unter den weit ausladenden Kronen der Baumriesen, der Rest bleckt ihnen hell im Mondlicht entgegen. Jetzt überqueren sie brache, plattgewalzte Flächen.
Hoch aufgetürmt, sperrig, ragen dort Stauden- und Krautstängel und dürre Äste zum Himmel. Auf einen Haufen geworfen, schimmern sie weiß im Mondlicht ...
"Hier pflügen sie alte Gräber um, machen Platz für neue", sagt Andi, "... huh, guckt mal, an der Mauer da hinten sind Totenköpfe gestap...!"
"Tatsächlich ...."

Sie rennen, so schnell ihre Füße sie tragen, zwischen Holzkreuzen und vermoderten Blumengebinden dahin, dort, wo gestürzte Engel aus Stein ihnen aus kalkweißen Augen zulächeln. Dann ein metallisches Scheppern. Alle fahren hoch ... aber es war bloß Andi, der über einen Blechkranz gestolpert ist.

In einem anderen Teil des Friedhofs sind, von Efeu überwuchert, Grabstätten aus den letzten zwei Jahrhunderten. Hinter Marmor, Stuck, Ornamenten, Säulen, ruhen Tote, die einmal reicher und bedeutender waren als andere. Ihr Andenken kennt heute niemand mehr... Doch ihre wuchtigen Ehrengräber sind noch da. Familiengruften ... pathetische Bauwerke, umgrenzt von kunstvollen, schmiedeeisernen Umzäunungen, die jetzt, windschief und verrostet, nach allen Seiten heruntergebrochen sind.
Dieser Teil des Kirchhofs ist von Zypressen verdunkelt. Dort schlüpfen die Halbwüchsigen durch die Hecke zurück in den Wald.

So wie in dieser Nacht war es noch nie. Es ist, als ob sie auf rätselhafte Weise tiefer und tiefer in den Forst gezogen würden. Ein ‚Etwas‘ ist da, eine fremde Existenz. Es ist in der Starrheit der Baumriesen, in den spärlichen Kringeln und Mustern, die das Mondlicht hier und da durchs Blätterdach auf den Boden malt.
"Spürst du es auch?" Inges Zähne klappern.
Marie spürt es auch. Schon wieder überfluten sie Schauer. Da ist eine Kraft, die von weither kommen muss ... von jenseits ... oder ...
Am liebsten hätte sie die Tür vollends aufgestoßen zu dieser geheimnisvollen Sphäre.
Anni und Hilde – Zwillingsschwestern - fangen an, merkwürdige Worte zu murmeln. Die wollen sich wichtig machen. Aber ... ihre Tante besitzt nun einmal das sechste Buch Mose. Dort sind Zaubersprüche drin.

"Fangt bloß nicht wieder mit eurer Spinnerei an!", grinst Markus.
"Ramire mano mafunju."
"Eh, stoppt den Quatsch!"
Hilde kniet auf dem Boden und malt mit seltsam geformten Wurzeln - oder Knöchelchen kleiner Nager? - die sie gefunden hat, Zeichen in die Walderde.
"Ramire mano mafunju."
"Hu, hu, Hexe." Werner zieht scherzend an Hildes Zöpfen. Doch niemand lacht.
"Ich will nach Haus", murmelt Inge.

Wirklich ... da ist dieses ‚Etwas‘ ... es nähert sich. Die ANDERE Sphäre ... Kreaturen, unsichtbare ...
Zuerst ist es vielleicht nur e i n jenseitiges Wesen, aber dann rücken sie aus allen Richtungen heran. Immer mehr, als sei ein verschütteter Weg plötzlich frei oder eine Mauer gestürzt worden. Sie ergießen sich scharenweise, ergießen sich in einer Flut, die die Kinder nicht sehen, nur spüren können. Angefüllt ist die Luft mit ‚Fremdem‘. Schwerer wird das Atmen. In unsichtbaren, dichten Schwaden drängen die Wesen heran, wer immer sie sind, gestorbene Seelen oder die geheimen Mitbewohner des Planeten.

Die Schüler fühlen mit Schaudern, wie in dieser Nacht eine mächtigere Welt auf ihre sichtbare trifft. Vielleicht, weil sie selbst im richtigen Augenblick am richtigen Ort sind, an der Nahtstelle, wo die beiden Dimensionen ineinander überfließen. Von dort schlüpfen die Jenseitigen herein. Sie kommen in einer unsichtbaren Prozession. Werden sie sich zeigen? Werden sie den Kindern ein Zeichen geben?

Die Laute der Käuze sind verstummt.
"Mabut, nara, natumi", murmelt Hilde.
Und Anni: "Teje, abrum, teje abrum ..."

Da kommt es Marie vor, als hätten sich die Kräfte um sie herum noch mehr verdichtet. Sie fühlt ihren eigenen Körper schwerer werden und schwerer, als sei sie im Mittelpunkt eines mächtigen Magnetfelds. Gefangen! Keinen Schritt kann sie mehr tun. Obwohl sie es mit aller Kraft versucht. Nicht vor, nicht zurück. Den anderen scheint es ebenso zu gehen. Die Nacht ist erfüllt von einem rätselhaften Beben und Vibrieren. Gleich wird etwas Unsagbares geschehen.
"Teje abrum, teje abrum!"
Da scheinen die Zeit und das All stillzustehen. Ein hörbares metallisches Sirren ist jetzt überall.
.
Der Ton, ein brausender, schwellender Zikadenlaut, zusammengesetzt aus tausend insektenartigen Stimmen durchhallt die Luft. Die Kinder sind starr .
„Teje abrum, teje abrum.“
Dann gehen diese Augenblicke der äußersten Kraftansammlung - leider - vorbei. Die Jenseitigen bleiben unsichtbar. Es gelingt nicht, sie vollends aus ihrer Sphäre herüberzuziehen ... der Ton wird leiser ... die fremden Wesen beginnen anscheinend, sich wieder zurückzuziehen. Dann ist alles vorüber. Stille herrscht. Da löst sich die Spannung. Da atmen die Kinder auf. Plötzlich schreit ein Eulenvogel. Die Baumriesen fangen wieder an, ihre Wipfel im Nachtwind zu schaukeln. Es ist vorbei. Marie spürt es wie eine Erlösung. Und doch mit vagem Bedauern.

Aber jetzt rennen die Kinder. Rennen, rennen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Gut geht es ihnen erst, als sie die offenen, mondhellen Wiesen wieder unter den Füßen haben und im Tal die Dörfer liegen sehen. Da beginnen sie zu marschieren, zügig, sicher. Zaghaft lächeln sie einander zu, später plappern sie drauflos, werden laut, vergnügt und reichlich albern. .

Marie fühlt sich gut, so aufgehoben in der Gruppe. Nie zuvor hat sie eine so schöne Nacht erlebt. Mit den Sternen am Himmel, dem Blütenduft des Frühlings über dem samtblauen Land, das sich weit im Mondlicht breitet, kommt ein wohliges Gefühl in ihr auf. Heimat. Heimat. Im Tal zu ihren Füßen, tief unten Marienstock.

Am Hang lassen sich alle nieder. Und wieder erzählen sie einander haarsträubende Begebenheiten. Man ist in der rechten Stimmung. Ach ja, es grassieren viele Legenden von grässlichen Bluttaten ... ewig ungeklärten Verbrechen, dass es einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt.

"Kennt ihr die Geschichte von den drei Mördern und der Jungfrau in der unterirdischen Höhle?"
"Komm hör auf!“
"Es i s t Tatsache. Steht in alten Gerichtsakten ."
"Oder von dem verschwundenen Bergmann ... neunzig Jahre später fand man ihn in einem verschütteten Stollen. Er sah lebendig aus, ganz frisch. Weil er irgendwie versteinert war. Seine Verlobte kam und küsste ihn und weinte furchtbar. Er war jung und schön. Sie war uralt. Hundertzehn?

Ja, sich gruseln ist wunderbar. Vor allem, wenn man im Schutz einer großen, fröhlichen Schar geborgen ist!

Aber nicht nur um Spukgeschichten geht es.
"Leo sieht aus wie Gregory Peck", flüstert Inge. "Sie nennen ihn überall ‚ das Peckchen‘, Er ist soo süß!"
Die jungen Dinger finden auch noch ein paar andere Burschen ‚süß‘.
Jetzt will man auf keinen Fall heimgehen, nun, wo es gerade interessant wird. Obwohl Mitternacht vorbei ist.
Die Mädchen können plötzlich auf Teufel komm heraus flirten. Die Jungen geben sich überlegen:
"Ach Weibervolk".
Dennoch: der eine oder andere legt seiner heimlich Angebeteten die eigene Jacke über die Schulter, damit sie in der aufkommenden Morgenkühle nicht friert. Werner bietet Marie seinen Anorak zum Draufsetzen, weil der Boden klamm ist.
Walter und Ilse haben doch tatsächlich angefangen, zu knutschen ...
"Wo ist denn der Hans?" ruft auf einmal jemand. Das Hänschen Jordan aus der Mozartstraße, einer der jüngsten der Meute. Er fehlt.
"Ist bestimmt heimgelaufen?"
"Allein? Das würde der nie tun!"
Da rennen sie ihn suchen. Trauen sich sogar wieder in den schwarzen Schörener Forst hinein.
"Hansi, Hansi", rufen sie laut durch die Nacht.
Nur Echos hallen zurück.

Später, am Morgen durchkämmen Polizisten mit Spürhunden die heimischen Wälder. Die Einwohner suchen eifrig mit. Auch Schulklassen. Feuerwehrtaucher steigen in die Tiefen der Weiher.
Der kleine Hans bleibt verschollen ...

*
 

Inu

Mitglied
*





Walpurgisnacht


"Die Nacht zum 1. Mai ist die gefährlichste des Jahres", hatte eine alte Frau im Dorf zu Marie gesagt,"da kehren die Seelen der Gestorbenen wieder - solche, die im Jenseits nicht in die Gemeinschaft der Seligen kommen können, weil sie im Zustand einer Todsünde starben ... zum Beispiel Menschen, die einem Mord oder Unfall zum Opfer fielen und keine Zeit mehr hatten, in der Beichte ihre Taten zu bereuen. Von Gott aus dem Himmelreich verbannt, irren diese armen Wesen ruhelos durch die Öde des Alls und kehren nur in dieser einen Nacht zur Erde zurück, um sich den Menschen in Erinnerung zu bringen."

Sonderbare Geschichten gehen um und alte Leute raunen von Zauberern und Hexen, die mit Pentagrammen, mit magischen Formeln in die andere Welt einzudringen suchen ... und es manchmal sogar schaffen. Da rückt dann die unsichtbare Welt ganz nah an die sichtbare heran, es lüftet sich zumindest ein Zipfel vom Geheimnis der jenseitigen Sphären.“


"Lasst mich doch bitte heute Nacht länger aufbleiben und mit den anderen Kindern draußen herumlaufen, ihr wisst schon - Maikäfer sammeln!", bettelt Marie beim Abendessen.
"Der Vater sagt "nein“, sagt "im nächsten Jahr vielleicht, wenn du vierzehn bist!"
"Och, bitte, bitte!"
„Nein.“
Die Tochter heult vor Enttäuschung
Mama schaut den Vater an und versucht ein aufmunterndes, mild stimmendes Nicken.
"Na gut", sagt der, „na ja ... aber um halb elf bist du wieder da ... sonst ..."
"Klar ", ruft Marie und ist schon weg.

Nun tauchen jedoch die Überirdischen niemals vor Einbruch der Geisterstunde auf. Das weiß jedes Kind. Erst nach Mitternacht wird es richtig interessant. Deshalb haben die Halbwüchsigen nicht vor, so zeitig zurückzukommen, wie sie daheim versprochen haben. Auch Marie hat gelogen, sonst hätten die Eltern sie erst gar nicht fortgelassen. Und natürlich hat das draußen-Herumfegen in der Hexennacht nur am Rand etwas mit Maikäfer-Einsacken zu tun!

Die zirka fünfzehn Mädchen und Jungen, Volksschüler sind sie noch allesamt, treffen sich also am Rand des Ortes auf dem Hahnenkopf. Der Hahnenkopf ist der höchste Hügel in der Umgebung.

Um genau zu sein: am ‚Bildstöckel‘ haben sie sich verabredet, einer aus rotem Backstein gemauerten Mariensäule. In deren oberem Teil ist eine kleine Kammer eingelassen und darin steht, geschützt hinter schmiedeeisernem Gitterwerk, die Muttergottes. Jemand steckt im Sommer immer frische Blumen zwischen die Metallornamente. Im Winter sind es Kiefernzweige. Oder weiße Chrysanthemen.

Das Bildstöckel erhebt sich am Ende des Dorfes, an jener berühmten Stelle, wo vor Zeiten ein Pilger, auf seinem Weg zum Eifelkloster Maria-Laach, Halt machte.

Das muss um das Jahr dreizehnhundert nach Christus gewesen sein. Ohne jede menschliche Ansiedlung, von dichtem, nordischem Urwald überzogen, lag damals das Land. Der einsame Wanderer - viele Tage war er schon zu Fuß unterwegs gewesen - legte sich unter eine Eiche zum Schlafen nieder. In der Nacht schreckte er entgeistert hoch. Die Hölle war losgebrochen: Regengüsse, Hagel, Orkan! Das Unwetter hörte nach einer Stunde nicht auf, nicht nach drei, noch nicht einmal nach acht Stunden. Ein Sturm fegte über die Erde, dass die Äste von den Bäumen herunterkrachten und die Stämme brachen. Dazu dröhnte Donner, ohrenzerreißend, Schlag auf Schlag.

Der Pilger, starr vor Kälte, bis auf die Knochen nass, fast um den Verstand gebracht vom Gezucke und Leuchten der Blitze, die in Sekundenschnelle einander jagten, dachte, nun werde die Welt untergehen.
Dann schlug ein gezackter Strahl auch noch in die Eiche ein, unter der er zitternd hockte und verfehlte ihn selbst um Haaresbreite. Der Mann in seiner Todesfurcht betete ... wahrscheinlich. Dann nahm er die kleine, steinerne Skulptur der heiligen Jungfrau, die er als Gabe für die Mönche von Maria Laach in seinem Ranzen mit sich trug und stellte sie in die Höhlung des vom Blitz gespaltenen Baumstammes.
Wollte er vielleicht einen Pakt mit Maria schließen ... ihr sagen: "Sieh, ich werde dir diese Statue, dein kostbares Abbild, zum Geschenk machen, indem ich sie, fortan für jedes menschliche Auge unsichtbar, tief in diesem Baumstumpf versenke, hier inmitten der Urwälder. Du, heilige Mutter, sollst mich im Gegenzug vor kommendem Unheil schützen!"


Es gibt noch eine andere Version der Geschichte. Von einem Handwerksburschen im Mittelalter, einem Steinmetzgesellen auf Wanderschaft, berichten die Alten. Im Ranzen trug er ebenfalls eine kleine Statue der Madonna, die er seinem Meister, einem Bildhauer, gestohlen hatte und auf dem Markt zu Trier für gutes Geld verkaufen wollte. Tagelang durchquerte er die dichten, weg- und steglosen Wälder. In einer Gewitternacht schien alle Unbill der Natur auch auf ihn niederzuprasseln: losgelassen waren die Dämonen und Geister des alten Germanien, sie rasten auf ihren schäumenden Rossen durch die Dunkelheit und wirbelten den armen Handwerksburschen nur so herum, dass ihm Hören und Sehen verging. Die unerbittlichen, heidnischen Götter trachteten ihm nach dem Leben ... Wotan und seine wilde, mordgierige Jagd! Dazu Freya, flammend im Blitz ... ihr Lachen dröhnte ihm aus den Donnerschlägen entgegen. So, weltenweit entfernt von jeder menschlichen Behausung, packte auch diesen armen Wicht die Todesangst.

Bestimmt hatte er wegen seines Madonnen-Diebstahls Furcht vor Gottes Zorn und mochte das unrechte Gut nicht mehr länger bei sich behalten? Oder er wollte die Statue als heiligen Schutzschild benutzen, Fetisch gegen die Mächte des Bösen, gegen Wotan und seine Meute? Mit letzter Kraft nahm er jedenfalls das kleine Standbild und stellte es in die Spalte des zerborstenen Eichenstammes.

Als er am Morgen weiterzog, musste er die Figur dann in dem Baum vergessen haben. Weiterzog??

Über die verlassenen Wälder wehte nun der Wind der Jahrhunderte.
Dann kam ein Tag - man schrieb das Jahr 1640, in Europa wütete der Dreißigjährige Krieg - da waren Soldaten unterwegs, versprengte Bauernsöhne, Deserteure aus dem Heer eines der unzähligen, deutschen Landesfürsten, Heimatlose ohne Ziel, deren Dörfer und Familien das Morden und Brandschatzen nicht überlebt hatten. Auf der Flucht vor den schwedischen Horden und nicht zuletzt, um der wild grassierenden Pest zu entgehen, war die Gruppe in das riesige, unberührte Waldgebiet geraten.

Als sie sich an jenem Abend zerstreut hatten, um Holz für das Lagerfeuer zu sammeln, schrie plötzlich einer von ihnen laut auf und da ... inmitten eines Teppichs von Anemonen lag, umhüllt von altem Laub und den Fasern eines fast vermoderten Baumes, die liebliche Statue der Muttergottes und des Kindes. Der Stamm, längst schon umgestürzt, hatte seinen kostbaren, steinernen Schatz freigegeben.

Die rauen Männer fielen bei diesem Anblick auf die Knie, sahen das Geschehen als ein Wunder Gottes an. Und weil sie ohnehin die Hoffnung auf eine neue Heimat mit sich herumgetragen hatten, war ihnen schlagartig klar: Hier würden sie bleiben, hier war gottgeweihtes Land. Den Fingerzeig des Himmels nahmen sie ernst. An solche heiligen Dinge glaubte man damals.

Es waren bei der Söldnergruppe auch Dirnen und Marketenderinnen, sowie ehrbare Bauersfrauen, deren Männer im Krieg erschlagen, deren Gehöfte die Schweden verbrannt hatten. In der Wirrnis der Zeit hatten sie sich alle zusammengeschlossen und waren zu Gleichen geworden.

Am nächsten Morgen fanden sie eine Quelle, die sich zu einem kleinen, klaren Bach formte, entdeckten in geringer Entfernung eine Reihe fischreicher Weiher. Zu ihren Füßen breitete sich in der Sonne eine liebliche, und, wie sich später herausstellen sollte, ziemlich fruchtbare Ebene.

Von nun an würden sie nicht mehr weiter ziehen.
Sie begannen den Urwald zu roden. Der Ort, den sie bauten, wurde von ihnen ‚Marienstock‘ genannt, nach der Gottesmutter und nach dem Baumstumpf (Stock) worin sie die Statue auf so wunderbare Weise gefunden hatten.

Jetzt sind die tiefen Wälder zum großen Teil abgeholzt.
An Stelle der alten, zerfallenen Eiche steht die gemauerte Andachtssäule, das Bildstöckel. Die ursprüngliche Madonnenfigur ist daraus verschwunden, ist im Lauf der Generationen durch eine neue ersetzt worden, die ebenfalls auf mysteriöse Weise verschwand und einer noch neueren Platz machte. Der Name des Ortes ist geblieben.

*

Vom 'Bildstöckel' aus stürmt die Meute der jungen Abenteurer los. Aufs Brachland geraten sie jetzt, in die Gegend des Ginsters und der roten Sandkaulen. Rasend wie der Wind geht es über Böschungen und Schotterwege. Die Kinder halten sich bei den Händen, bilden eine Kette. Keiner darf die Hand des anderen loslassen, dass die Kette nicht zerreißt. Die Jungen ziehen die Mädchen mit. Leicht wie Luft und schriekend vor Vergnügen, fliegen sie dahin ... berühren die Erde kaum.

Unten im Tal laufen sie querfeldein. Ackerboden heftet sich klumpig an ihre Schuhe. Bäche mit glucksend feuchten Ufern überspringen sie wie nichts.

Nun türmen sich vor ihnen die grauen Schlackenhalden. Vereinzelte Birken wachsen da. Ihre Zweige zittern, tanzen vor dem Hintergrund der Sterne. Hell, silberweiß leuchten die Blätter im Mondlicht.

An den Halden, auf die tagsüber der dampfende Abraum aus den Kohlegruben ausgekippt wird, sind die Hänge wie Rutschbahnen. All die kleinen, anthrazitfarbenen, krümeligen, noch warmen Gesteinsbröckchen fangen unter den Füßen zu rollen an ... Die Kinder stellen sich einfach oben auf die Halde, gleiten dann auf ihren Schuhsohlen bergab, als stünden sie auf Skiern. Andere setzen sich gleich auf den Allerwertesten und rutschen auf diese Weise mit den kullernden Steinchen nach unten. Riesengelächter. Mit den kahlen, grauen Schlackenhalden sind sie aufgewachsen ... ihre Spielplätze von Kindheit an.

Später auf den Wiesen im Mondlicht schütteln die Mädchen und Jungen Maikäfer von den Bäumen. Käfersammeln muss sein ... es ist – vorgeschobene Begründung für das lange Ausbleiben in der Hexennacht. Marie hat wie die anderen, ein Zigarrenkästchen mit Luftlöchern. Da hinein steckt sie die Krabbeltiere.

Dann rennen sie wieder los.
Dicht steht das junge Getreide auf den Feldern, ein grüner Teppich aus Samt soweit das Auge reicht. Und Mottenfalter fliegen.
Am Himmel flimmert und glitzert es vor lauter Sternen. Wie ein dicker, gelber Ball hängt der Mond da. Nur noch ein kleines Stück fehlt ihm zur vollen Rundung.

In den Gärten leuchten, weiß wie Schnee, übersät von Millionen Blüten, die Kirschbäume aus der Nacht. Tief hinunter auf den Boden biegen sich die duftenden Dolden.


Die herumvagabundierende Kinderschar verschleppt Fahrräder, Fensterläden, eine Schubkarre ... und schafft das Zeug dorthin, wo es später kein Mensch vermutet. Dann kommt Robert auf die gloriose Idee, am Haus von Frau Zang, der ‚Lieblingslehrerin‘, die hüfthohe, schmiedeeiserne Gartentür auszuhängen. Mit vereinten Kräften schleppen sie das schwere Stück über eine ziemlich weite Wegstrecke, wuchten es polternd die Stufen hinauf auf den - ganz aus Holz gebauten - Aussichtsturm, der als uraltes Wahrzeichen der Gegend, oben auf dem Hahnenkopf thront. Das windschiefe Konstrukt knarrt und ächzt schaurig im morschen Gebälk. Es ist lebensgefährlich, da hinaufzusteigen- so warnt ein Schild mit Totenkopf.

Gerade haben die Kinder die Gartentür bis auf die zweitoberste Plattform gehievt, da biegt unten eine dunkle Gestalt um die Ecke. Es ist der Schutzmann und er kommt geradewegs auf den Turm zu. Seinen Schäferhund hat er bei sich ... den kennen alle, T e u f e l heißt er und veranstaltet jetzt an seiner Leine ein Riesengezerre und beim Näherkommen ein Mordsgebell, nur ab und zu unterbrochen von blutrünstigem Hecheln. Pechschwarz ist der Rüde, sieht aus wie ein riesiger Wolf.

"Ich hab euch gesehen, kommt sofort da herunter ... aber vorsichtig", schreit Herr Stinnes, "oder der Teufel wird euch holen ...“

Jetzt lassen die jungen Wilden Gartentür Gartentür sein und spurten durchs enge, hölzerne Stiegenhaus nach unten. Nichts wie weg hier! In ihrer Flucht kugeln ein paar von ihnen übereinander.

Der Ordnungshüter hält das heftig an der Leine reißende Satansvieh mit ziemlicher Mühe zurück. Auch nähert er sich absichtlich nur langsam dem ‚Tatort‘. Er will ja keine Bösewichte fangen, es liegt ihm einzig daran, dass die jungen Leute von dem Bauwerk heil herunter kommen, bevor es endgültig zusammenkracht.

Als auch der letzte glücklich auf dem Erdboden steht und Herr Stinnes dann einige Male schrill auf seiner Trillerpfeife loslegt wie die Polizisten in den Dick-und-Doof-Filmen, da stieben sie, Jungen wie Mädchen, johlend, kreischend in alle möglichen Richtungen davon.

Später sammeln sie sich wieder. Wie ein summender Bienenschwarm, driften sie über die Wiesen gegen Alvansberg hin.
Jenseits der Gärten des Dorfes wächst dann der Schörener Forst vor ihnen auf wie eine schwarze Wand. Durchs Unterholz schlagen sie sich. Hier im Dunkel unter den alten Baumriesen gibt es keine Wege. Es ist still. Nur ein Kauz ruft ab und zu in der Ferne.
Ein immer gleicher Laut. Der Kauz klagt und klagt. Unheimlich. Die Kinder erzählen sich lieber lustige Sachen. Machen Witze. Manchmal prusten die Mädchen vor Lachen los.
Nach und nach hören sie aber auf, zu reden. Das letzte Kichern verstummt. Denn seit einer Weile spüren sie ihn ganz stark, IHN, den uralten Zauber ihrer heimischen Wälder, durch die man noch immer wochenlang streifen könnte, ohne ein Dorf oder ein Gehöft zu berühren.

Irgendwann fängt jemand an, Gruselgeschichten zu erzählen. Vom verfluchten ‚Malditz‘. In Wintersturmnächten rast er in Schnee und Eis durch die Tiefen der Wälder ... eine verlorene Seele, ein Verfluchter, der schreckliche Taten begangen hat: Folter, Mord. Im Unwetter kann man ihn mit seinen Spießgesellen vorbeireiten und schauerlich heulen hören. Ihre Stimmen übertosen das Brausen des Windes. Wer die Töne vernimmt, wird sterben.

Und dann die Geschichte vom riesigen, schwarzen Eber, der 1930 am helllichten Tag Mutter und Säugling zerfleischte. Das ist im ‚Saufang‘ geschehen, fünf Minuten von da, wo die Kinder jetzt herumlaufen. Sie wissen: Wildschweine gibt es im Schörener Forst noch immer. In Rotten streifen sie nachts durchs Unterholz.

Auch da, wo die jungen Leute jetzt sind, spielte sich ein Ereignis ab, das haben die Menschen nicht vergessen. Obwohl ... es ist Ewigkeiten her. Geschah lang vor dem ersten Weltkrieg. Um 1895 oder so.

Im Morgengrauen war der Förster wieder einmal jenem geheimnisvollen Wilderer auf der Spur, der immer die besten Rehböcke wegschoss. Verbissen lauerte der Staatsdiener dem Unbekannten auf, denn er spürte irgendwie seine Anwesenheit und entdeckte plötzlich die Blutflecken eines getöteten Tieres im Laub. Die Beute und den Verbrecher bekam er jedoch nicht zu sehen. War es ein Phantom, das hier sein Unwesen trieb? War der brave Beamte Opfer seiner eigenen Einbildungskraft oder von Halluzinationen? In der Vergangenheit hatte er oft gehört, wie Schüsse knallten, konnte aber keinen Menschen ausfindig machen ...

An jenem frühen Morgen, nicht weit vom Saufang entfernt, gelang es dem Förster dann zu guter Letzt doch, den Missetäter zu stellen:
"Hab ich dich endlich, Elender!".
Aber der Wilddieb hob blitzschnell sein Gewehr, zielte und ... bevor der brave Waidmann das seine in Anschlag bringen konnte, war er schon tot. Eine einzige Kugel des frevlerischen Schützen hatte ihn aus weiter Entfernung mitten ins Herz getroffen.

Der Mörder wurde schnell gefasst.
In der ganzen Umgebung begann man nun an heimischen Herden und in den Wirtsstuben wild zu streiten. Sollte der Mann gehenkt oder nur lebenslang eingekerkert werden? Es sah schlecht aus für ihn, den Friedrich Schroth. Der Name des Försters war übrigens Friedrich Poth. Und da machte jemand einen Reim darauf. So konnte man sich generationenlang an die Namen erinnern:

Es schoss der Schroth
den Förster Poth
im Walde toth.
Oh welche Noth,
er starb im frühen Morgenroth.

Nicht alle Sympathien der Dorfbewohner waren auf Seiten des ehrbaren Försters. Der war schroff zu Kindern gewesen und hatte sie verjagt, wenn sie im Wald spielten und eingebildet und stolz war er auch. Der Mörder aber, der Schroth, schien ein zweiter Robin Hood, der zu Zeiten großer Armut auf verbotene, doch vom Volk bewunderte Weise, das Fleisch für Familie und Freunde, aber auch für arme Bedürftige, besorgt hatte. Von Beruf war er ohnehin Schütze. Der beste Scharfschütze weit und breit. Er hatte in einem Kaiserlich-Königlichen Infanterie-Regiment mit Auszeichnung gedient in jenem deutsch-französischen Krieg, der unzähligen Menschen das Leben kostete und heute komplett vergessen ist. Der Mann hatte viele Medaillen für seine Meisterleistungen bekommen.

Auch beim Scheibenschießen später auf den Kirmesplätzen, als er kein Soldat mehr war, erntete er stets Lorbeeren. Es musste die jahrzehntelange Übung an der Waffe gewesen sein, die ihn auch an jenem Schicksalsmorgen sein Gewehr so lässig hatte abfeuern lassen.

In der Bevölkerung standen die meisten Männer auf seiner Seite. Sie hatten Verständnis für den Wilddieb und seine Jagdlust. Dass er den Förster erschossen hatte, wurde ihm eher als trauriger Unfall ausgelegt. Auch die Richter im Prozess wollten ihn nicht ganz und gar verderben.

"Der Schroth ist ein untadeliger Soldat und bewunderter Schützenkönig gewesen. Das hat ihn in einer Zeit, als Kriegshandwerk und Schießkunst noch hoch im Kurs standen, vor dem Galgen gerettet", erzählte der alte Heinrich. "Er bekam acht Jahre. Zwei davon hat er verbüßt, dann soll er begnadigt und wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein. Es gab nämlich wieder einen Krieg, wo man gute Männer brauchte. Aber ich weiß das nur von meinem Großvater.“

*

Die Kinder halten auf ihrem Lauf durch die Wälder jetzt am Gedenkstein für den unglücklichen Förster an. Stehen nun genau an der Stelle, wo vor über sechzig Jahren die Bluttat geschah. Umgefallen liegt der Granitblock am Boden, in Humus und Laub versunken, die Aufschriften von Moos überwuchert.
Im Licht von Brunos Taschenlampe und mit vereinten Kräften schaben sie die Flechten vom Stein. Entziffern halbverrottete Relief-Buchstaben. Worte eines alten Liedes tauchen auf ... Es war des toten Waidmanns Lieblingslied, verkündet die verwitterte Inschrift. Die meisten Zeilen sind nicht mehr lesbar, aber die Kinder kennen den Text ohnehin auswendig:

Im grünen Wald, da wo die Drossel singt,
das muntre Rehlein durch die Büsche springt,
wo Tann' und Fichten stehn am Waldessaum,
verlebt ich meiner Jugend schönsten Traum.


Das Rehlein trank wohl aus dem klaren Bach,
derweil im Wald der muntre Kuckuck lacht,
der Jäger zielte hinter einem Baum,
das war des Rehleins letzter Lebenstraum.


Getroffen wars und sterbend lag es da,
das man zuvor noch munter springen sah,
da trat der Jäger aus des Waldes Saum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

Er nahm die Flinte, schlug sie an ein Baum
und sprach: "Das Leben ist ja nur ein Traum."

*

Die Alten haben auch erzählt, der Wilddieb hätte dem toten Förster nach seiner Tat noch die Ohren abgeschnitten. Als Jagdtrophäe sozusagen ...

Marie sitzt neben Helga auf dem umgefallenen Erinnerungsstein. Der ist eisig kalt an ihrem Hintern. Feucht und klamm. Marie hat ein komisches Kribbeln im Bauch. Das muss das ‚Grauen‘ sein? Schauer rieseln ihr über den Rücken.

Dann rennen die Kinder weiter. Bald taucht zu ihrer Linken der alte Wilhelmsthaler Friedhof auf. Durch eine Lücke in der Taxushecke schlüpfen sie hinein. Ein Teil der Gräberfelder liegt in Dunkelheit unter den weit ausladenden Kronen der Baumriesen, der Rest bleckt ihnen hell im Mondlicht entgegen. Jetzt überqueren sie brache, plattgewalzte Flächen.
Hoch aufgetürmt, sperrig, ragen dort Stauden- und Krautstängel und dürre Äste zum Himmel. Auf einen Haufen geworfen, schimmern sie weiß im Mondlicht ...
"Hier pflügen sie alte Gräber um, machen Platz für neue", sagt Andi, "... huh, guckt mal, an der Mauer da hinten sind Totenköpfe gestap...!"
"Tatsächlich ...."

Sie rennen, so schnell ihre Füße sie tragen, zwischen Holzkreuzen und vermoderten Blumengebinden dahin, dort, wo gestürzte Engel aus Stein ihnen aus kalkweißen Augen zulächeln. Dann ein metallisches Scheppern. Alle fahren hoch ... aber es war bloß Andi, der über einen Blechkranz gestolpert ist.

In einem anderen Teil des Friedhofs sind, von Efeu überwuchert, Grabstätten aus den letzten zwei Jahrhunderten. Hinter Marmor, Stuck, Ornamenten, Säulen, ruhen Tote, die einmal reicher und bedeutender waren als andere. Ihr Andenken kennt heute niemand mehr... Doch ihre wuchtigen Ehrengräber sind noch da. Familiengruften ... pathetische Bauwerke, umgrenzt von kunstvollen, schmiedeeisernen Umzäunungen, die jetzt, windschief und verrostet, nach allen Seiten heruntergebrochen sind.
Dieser Teil des Kirchhofs ist von Zypressen verdunkelt. Dort schlüpfen die Halbwüchsigen durch die Hecke zurück in den Wald.

So wie in dieser Nacht war es noch nie. Es ist, als ob sie auf rätselhafte Weise tiefer und tiefer in den Forst gezogen würden. Ein ‚Etwas‘ ist da, eine fremde Existenz. Es ist in der Starrheit der Baumriesen, in den spärlichen Kringeln und Mustern, die das Mondlicht hier und da durchs Blätterdach auf den Boden malt.
"Spürst du es auch?" Inges Zähne klappern.
Marie spürt es auch. Schon wieder überfluten sie Schauer. Da ist eine Kraft, die von weither kommen muss ... von jenseits ... oder ...
Am liebsten hätte sie die Tür vollends aufgestoßen zu dieser geheimnisvollen Sphäre.
Anni und Hilde – Zwillingsschwestern - fangen an, merkwürdige Worte zu murmeln. Die wollen sich wichtig machen. Aber ... ihre Tante besitzt nun einmal das sechste Buch Mose. Dort sind Zaubersprüche drin.

"Fangt bloß nicht wieder mit eurer Spinnerei an!", grinst Markus.
"Ramire mano mafunju."
"Eh, stoppt den Quatsch!"
Hilde kniet auf dem Boden und malt mit seltsam geformten Wurzeln - oder Knöchelchen kleiner Nager? - die sie gefunden hat, Zeichen in die Walderde.
"Ramire mano mafunju."
"Hu, hu, Hexe." Werner zieht scherzend an Hildes Zöpfen. Doch niemand lacht.
"Ich will nach Haus", murmelt Inge.

Wirklich ... da ist dieses ‚Etwas‘ ... es nähert sich. Die ANDERE Sphäre ... Kreaturen, unsichtbare ...
Zuerst ist es vielleicht nur e i n jenseitiges Wesen, aber dann rücken sie aus allen Richtungen heran. Immer mehr, als sei ein verschütteter Weg plötzlich frei oder eine Mauer gestürzt worden. Sie ergießen sich scharenweise, ergießen sich in einer Flut, die die Kinder nicht sehen, nur spüren können. Angefüllt ist die Luft mit ‚Fremdem‘. Schwerer wird das Atmen. In unsichtbaren, dichten Schwaden drängen die Wesen heran, wer immer sie sind, gestorbene Seelen oder die geheimen Mitbewohner des Planeten.

Die Schüler fühlen mit Schaudern, wie in dieser Nacht eine mächtigere Welt auf ihre sichtbare trifft. Vielleicht, weil sie selbst im richtigen Augenblick am richtigen Ort sind, an der Nahtstelle, wo die beiden Dimensionen ineinander überfließen. Von dort schlüpfen die Jenseitigen herein. Sie kommen in einer unsichtbaren Prozession. Werden sie sich zeigen? Werden sie den Kindern ein Zeichen geben?

Die Laute der Käuze sind verstummt.
"Mabut, nara, natumi", murmelt Hilde.
Und Anni: "Teje, abrum, teje abrum ..."

Da kommt es Marie vor, als hätten sich die Kräfte um sie herum noch mehr verdichtet. Sie fühlt ihren eigenen Körper schwerer werden und schwerer, als sei sie im Mittelpunkt eines mächtigen Magnetfelds. Gefangen! Keinen Schritt kann sie mehr tun. Obwohl sie es mit aller Kraft versucht. Nicht vor, nicht zurück. Den anderen scheint es ebenso zu gehen. Die Nacht ist erfüllt von einem rätselhaften Beben und Vibrieren. Gleich wird etwas Unsagbares geschehen.
"Teje abrum, teje abrum!"
Da scheinen die Zeit und das All stillzustehen. Ein hörbares metallisches Sirren ist jetzt überall.
.
Der Ton, ein brausender, schwellender Zikadenlaut, zusammengesetzt aus tausend insektenartigen Stimmen durchhallt die Luft. Die Kinder sind starr .
„Teje abrum, teje abrum.“
Dann gehen diese Augenblicke der äußersten Kraftansammlung - leider - vorbei. Die Jenseitigen bleiben unsichtbar. Es gelingt nicht, sie vollends aus ihrer Sphäre herüberzuziehen ... der Ton wird leiser ... die fremden Wesen beginnen anscheinend, sich wieder zurückzuziehen. Dann ist alles vorüber. Stille herrscht. Da löst sich die Spannung. Da atmen die Kinder auf. Plötzlich schreit ein Eulenvogel. Die Baumriesen fangen wieder an, ihre Wipfel im Nachtwind zu schaukeln. Es ist vorbei. Marie spürt es wie eine Erlösung. Und doch mit vagem Bedauern.

Aber jetzt rennen die Kinder. Rennen, rennen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Gut geht es ihnen erst, als sie die offenen, mondhellen Wiesen wieder unter den Füßen haben und im Tal die Dörfer liegen sehen. Da beginnen sie zu marschieren, zügig, sicher. Zaghaft lächeln sie einander zu, später plappern sie drauflos, werden laut, vergnügt und reichlich albern. .

Marie fühlt sich gut, so aufgehoben in der Gruppe. Nie zuvor hat sie eine so schöne Nacht erlebt. Mit den Sternen am Himmel, dem Blütenduft des Frühlings über dem samtblauen Land, das sich weit im Mondlicht breitet, kommt ein wohliges Gefühl in ihr auf. Heimat. Heimat. Im Tal zu ihren Füßen, tief unten Marienstock.

Am Hang lassen sich alle nieder. Und wieder erzählen sie einander haarsträubende Begebenheiten. Man ist in der rechten Stimmung. Ach ja, es grassieren viele Legenden von grässlichen Bluttaten ... ewig ungeklärten Verbrechen, dass es einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt.

"Kennt ihr die Geschichte von den drei Mördern und der Jungfrau in der unterirdischen Höhle?"
"Komm hör auf!“
"Es i s t Tatsache. Steht in alten Gerichtsakten ."
"Oder von dem verschwundenen Bergmann ... neunzig Jahre später fand man ihn in einem verschütteten Stollen. Er sah lebendig aus, ganz frisch. Weil er irgendwie versteinert war. Seine Verlobte kam und küsste ihn und weinte furchtbar. Er war jung und schön. Sie war uralt. Hundertzehn?

Ja, sich gruseln ist wunderbar. Vor allem, wenn man im Schutz einer großen, fröhlichen Schar geborgen ist!

Aber nicht nur um Spukgeschichten geht es.
"Leo sieht aus wie Gregory Peck", flüstert Inge. "Sie nennen ihn überall ‚ das Peckchen‘, Er ist soo süß!"
Die jungen Dinger finden auch noch ein paar andere Burschen ‚süß‘.
Jetzt will man auf keinen Fall heimgehen, nun, wo es gerade interessant wird. Obwohl Mitternacht vorbei ist.
Die Mädchen können plötzlich auf Teufel komm heraus flirten. Die Jungen geben sich überlegen:
"Ach Weibervolk".
Dennoch: der eine oder andere legt seiner heimlich Angebeteten die eigene Jacke über die Schulter, damit sie in der aufkommenden Morgenkühle nicht friert. Werner bietet Marie seinen Anorak zum Draufsetzen, weil der Boden klamm ist.
Walter und Ilse haben doch tatsächlich angefangen, zu knutschen ...
"Wo ist denn der Hans?" ruft auf einmal jemand. Das Hänschen Jordan aus der Mozartstraße, einer der jüngsten der Meute. Er fehlt.
"Ist bestimmt heimgelaufen?"
"Allein? Das würde der nie tun!"
Da rennen sie ihn suchen. Trauen sich sogar wieder in den schwarzen Schörener Forst hinein.
"Hansi, Hansi", rufen sie laut durch die Nacht.
Nur Echos hallen zurück.

Später, am Morgen durchkämmen Polizisten mit Spürhunden die heimischen Wälder. Die Einwohner suchen eifrig mit. Auch Schulklassen. Feuerwehrleute tauchen hinab auf den Grund der Weiher.
Hansi Jordan bleibt verschwunden ...

*




Copyright Irmgard Schöndorf Welch
 



 
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