Warten auf 32

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Wipfel

Mitglied
Vierter Stock, Zimmer 64. Hier sollte ich warten. Die Sachbearbeiterin habe sich verspätet, müsste aber jeden Augenblick eintreffen. Länger als 30 Minuten könne das nicht dauern; irgendetwas sei mit ihrem Auto passiert. Nein, kein Unfall, soviel wüsste man.

Also setzte ich mich auf einen der Holzstühle und wartete. Ich mochte solche langen Gänge alter Gebäude nicht. Immer warb eine flackernde Leuchtstofflampe übertrieben um Aufmerksamkeit, machte so die Nachlässigkeit des knittrigen Hausmeisters sichtbar; immer zog es von irgendwoher.
Warten heißt für andere Langeweile. Für mich gab es dieses Wort nicht, es fand sich immer eine sinnvolle Beschäftigung.

Ich zählte auf dem Gang die abgehenden Türen, zählte die hohen Fenster, zählte die Autos auf dem Hof, dann nur die schwarzen und brachte die Werte in ein passendes Verhältnis. Beinah hätte die Zahlenreihe einen Sinn gehabt, doch ein Auto fehlte. Nur 4 von 31 Autos waren schwarz, aber ich freute mich über 16 Fenster vor 8 Zimmertüren.

Gegenüber von Zimmer 64 hatte man einen Kopierer aufgestellt. Leise brummte die graue Maschine vor sich hin; ich setzte mich wieder und wartete. Es war eines dieser Geräte, die zur allgemeinen Nutzung für die Gangabteilung aufgestellt werden. Ich zählte 4 Fächer für verschiedene Papierformate; darüber schwang sich in kühner Konstruktion die Kopiereinheit mit automatischem Blatteinzug und Bedienfeld. Neben dem Kopierer standen zwei ältere quadratische Holztische. Die gelbschwarzen Inventarnummern an den Leisten interessierten mich. RV614 und RV617. Nein, sie passten nicht in mein Zahlenspiel. Oder doch? Für solche schwierigen Fälle sollte ich mir einen Taschenrechner besorgen.

Eine blonde Frau mit einer grünen Tasche über der Schulter kam den Gang entlang. Klack, klack, klack, klack. Sie trug ihren kalten Blick und eine blaue Mappe vor sich her. Klack, klack. Die braunen Stöckel bremsten - ich bin versucht, das kurze Rutschen in der Neunziggradkurve vor dem Kopierer als äußerst elegant zu bezeichnen; wahrscheinlich waren es Füße einer ausgedienten Eiskunstläuferin - und standen mit ihren Hacken nun genau vor mir. Eine Frage über die Schulter:

„Wollen Sie auch kopieren?”

"Nein, nein, ich warte nur."

„Ah, das ist sehr gut”.

Sie verteilte ihre Sachen auf den Tischen, öffnete die blaue Mappe, entnahm die zu kopierenden Dokumente und legte diese in den automatischen Blatteinzug. Zu gern hätte ich erfahren mit welcher Zahl sie den Kopierer auf Vervielfältigung programmiert hatte, wie viele Dokumente nun in der Maschine verschwanden und wie oft die Papierausgabe Blätter gleichen Inhalts in entsprechende Fächer sortierte. Der anlaufende leise Motor begann die Mechanik in Bewegung zu setzen, quietschende Rollen klagten verdeckt, und in rhythmischer Gleichförmigkeit wurde der Auftrag abgearbeitet. Blätter entnehmen, neue Blätter einlegen, rote Jacke ausziehen. Diese lag nun neben der grünen Tasche. Dreifacher Piepton, die graue Maschine schwieg.

Die Frau beugte sich, ruckelte an den Papierschächten, suchte nach Papier. Der braune Saum ihrer Hose wurde sichtbar, zeichnete sich deutlich auf heller Haut ab. Essensdüfte zogen durch den Flur. Ich schaute auf die Uhr. Erst halb zehn. Noch viel Zeit bis zum Mittag. Ist wohl etwas genervt, die Frau, dachte ich.

„So geht es mir immer” stöhnte sie, „Immer ist ausgerechnet bei mir das Papier alle.”

"Das liegt an der Menge"

„Bitte?!”

"Das liegt an der Menge oder sagen wir an der Stückzahl Ihrer Kopien; würden Sie zum Beispiel vorher die Zahl, mit der sie den Kopierer programmieren wollen, halbieren, dann hätte vermutlich das Papier gereicht und nicht Sie, sondern erst der Nächste würde den Eindruck haben, dass immer bei ihm das Papier ausgeht."

“Blödsinn! Die Menge wird von der Notwendigkeit bestimmt, nicht von mir.”

"Man hätte auch die Rückseite bedrucken können. Finden Sie nicht auch, dass uns genau hier ein großer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht? Es müsste per Gesetz verboten werden, Blätter auf nur einer Seite bedrucken zu lassen."

„Sind Sie noch eine Weile hier?”

"Wie bitte?"

„Ich hole nur schnell Papier, würden Sie bitte solange auf meine Sachen aufpassen?”

Abgesehen vom leisen Brummen war es wieder still. Das Auto fehlte noch immer - und Papier. Ein junger Mann kam den Gang entlang gerannt. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, mein Bein etwas auszufahren und beiläufig zu bemerken:

‚Hier wird nicht gerannt!’

Früher hätte man darauf geachtet. Er wurde langsamer und in mir stieg ein Verdacht auf. Als er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, nach der grünen Tasche griff, hatte ich Gewissheit. Der klaut die Tasche!

„Halt, stehen bleiben! Legen Sie die Tasche zurück!”

Ich sprang auf und setzte ihm hinterher. Er stoppte, drehte sich zu mir um und wirkte überrascht. Ha, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Doch Vorsicht, wie gefährlich solche Typen sind, sieht man ihnen nicht immer an.

„Um Gottes Willen, was wollen Sie von mir?”

"Her mit der Tasche, Freundchen! Solange ich hier sitze, wird nicht geklaut, verstanden?"

Er dachte nicht daran, faselte etwas von einem dringenden Telefongespräch und so. Gefährliche Situation. Solche Ganoven haben doch immer ein Messer in der Tasche, diesmal war ich schneller. Den meisten Menschen fehlt es an Zivilcourage, um sich gegen solche Strolche zu wehren. Ich dagegen hatte mich seit Jahren auf diese Situation vorbereitet, mir würde so etwas nicht passieren.

„Lass Dein Messer stecken!”

Das wirkte, kreidebleich wurde er und ging langsam zum Tisch zurück.

„Sie sind ja irre!”

In diesem Augenblick tönte Beethovens Fünfte aus der Tasche. Ta, ta, ta, taaa! Ta, ta, ta, taaa.

Der Dieb stürmte mit der Tasche los, ich hinterher. Er rannte durch die offene Gangtür, ich folgte ihm, kam näher. Zwei, drei Schritte noch, dann hätte ich ihn gehabt. Er stürzte zur Treppe, nahm diese in zwei Sprüngen, rannte in den Flur der dritten Etage. Ich konnte nicht so gut springen, aber mein wöchentliches Lauftraining zahlte sich nun aus. Am Ende des Flurs holte ich ihn ein, griff mit ausgestrecktem Arm nach seinem Hemdkragen, doch durch eine Körpertäuschung entwischte mir der Halunke abermals. Doch diesmal sprang er viel zu früh, schaute sich im Sprung noch um und stürzte über das Treppengeländer in die Tiefe.

Zumindest sah es für einen Augenblick so aus. Er hatte gute Reflexe, das bleibt unbestritten. Mit beiden Händen hielt er sich am Geländer fest, die rechte Hand umklammerte zudem die Riemen der grünen Tasche. Jetzt hatte ich ihn, er war in der Falle. Seine Beine baumelten hilflos in der Luft, sein Gesicht schien vor Angst und Anstrengung verzerrt. Langsam öffnete ich Finger für Finger seiner rechten Hand und zog jedes Mal den grünen Riemen in die Freiheit. Geschafft. Als Sieger erschien ich im vierten Stock. Hörte im Treppenhaus einen dumpfen Knall. Wieder ein Freitod.

Ich klappte mein Messer ein, legte die Handtasche zurück auf ihren Platz, setzte mich auf meinen Stuhl, wartete und gab mich meinen Gedanken hin.

Klack, klack, klack, klack. Das Papier wurde aufgefüllt, die Arbeit am Kopierer beendet.

„Haben Sie meinen Mann gesehen?”

"Ihren Mann?"

Die blonde Frau blinzelte mir zu und sagte:

„Er sollte meine Tasche holen. War er nicht hier?”

Ich stand auf, schüttelte verlegen den Kopf und versuchte das Thema zu wechseln.

„Darf man eine Dame nach ihrem Alter fragen?”

Ganz nah kam sie, legte ihren Zeigefinger auf meinen Mund, drückte ihre warmen Lippen kurz auf meine linke Wange und flüsterte:

„Darf man nicht, mein stolzer Ritter!”

Gut, ich übertreibe mal wieder; aber sie war 32, da bin ich sicher.
 

Wipfel

Mitglied
Vierter Stock, Zimmer 64. Hier sollte ich warten. Die Sachbearbeiterin habe sich verspätet, müsste aber jeden Augenblick eintreffen. Länger als 30 Minuten könne das nicht dauern; irgendetwas sei mit ihrem Auto passiert. Nein, kein Unfall, soviel wüsste man.

Also setzte ich mich auf einen der Holzstühle und wartete. Ich mochte solche langen Gänge alter Gebäude nicht. Immer warb eine flackernde Leuchtstofflampe übertrieben um Aufmerksamkeit, machte so die Nachlässigkeit des knittrigen Hausmeisters sichtbar; immer zog es von irgendwoher.
Warten heißt für andere Langeweile. Für mich gab es dieses Wort nicht, es fand sich immer eine sinnvolle Beschäftigung.

Ich zählte auf dem Gang die abgehenden Türen, zählte die hohen Fenster, zählte die Autos auf dem Hof, dann nur die schwarzen und brachte die Werte in ein passendes Verhältnis. Beinah hätte die Zahlenreihe einen Sinn gehabt, doch ein Auto fehlte. Nur 4 von 31 Autos waren schwarz, aber ich freute mich über 16 Fenster vor 8 Zimmertüren.

Gegenüber von Zimmer 64 hatte man einen Kopierer aufgestellt. Leise brummte die graue Maschine vor sich hin; ich setzte mich wieder und wartete. Es war eines dieser Geräte, die zur allgemeinen Nutzung für die Gangabteilung aufgestellt werden. Ich zählte 4 Fächer für verschiedene Papierformate; darüber schwang sich in kühner Konstruktion die Kopiereinheit mit automatischem Blatteinzug und Bedienfeld. Neben dem Kopierer standen zwei ältere quadratische Holztische. Die gelbschwarzen Inventarnummern an den Leisten interessierten mich. RV614 und RV617. Nein, sie passten nicht in mein Zahlenspiel. Oder doch? Für solche schwierigen Fälle sollte ich mir einen Taschenrechner besorgen.

Eine blonde Frau mit einer grünen Tasche über der Schulter kam den Gang entlang. Klack, klack, klack, klack. Sie trug ihren kalten Blick und eine blaue Mappe vor sich her. Klack, klack. Die braunen Stöckel bremsten - ich bin versucht, das kurze Rutschen in der Neunziggradkurve vor dem Kopierer als äußerst elegant zu bezeichnen; wahrscheinlich waren es Füße einer ausgedienten Eiskunstläuferin - und standen mit ihren Hacken nun genau vor mir. Eine Frage über die Schulter:

„Wollen Sie auch kopieren?”

"Nein, nein, ich warte nur."

„Ah, das ist sehr gut”.

Sie verteilte ihre Sachen auf den Tischen, öffnete die blaue Mappe, entnahm die zu kopierenden Dokumente und legte diese in den automatischen Blatteinzug. Zu gern hätte ich erfahren mit welcher Zahl sie den Kopierer auf Vervielfältigung programmiert hatte, wie viele Dokumente nun in der Maschine verschwanden und wie oft die Papierausgabe Blätter gleichen Inhalts in entsprechende Fächer sortierte. Der anlaufende leise Motor begann die Mechanik in Bewegung zu setzen, quietschende Rollen klagten verdeckt, und in rhythmischer Gleichförmigkeit wurde der Auftrag abgearbeitet. Blätter entnehmen, neue Blätter einlegen, rote Jacke ausziehen. Diese lag nun neben der grünen Tasche. Dreifacher Piepton, die graue Maschine schwieg.

Die Frau beugte sich, ruckelte an den Papierschächten, suchte nach Papier. Der braune Saum ihrer Hose wurde sichtbar, zeichnete sich deutlich auf heller Haut ab. Essensdüfte zogen durch den Flur. Ich schaute auf die Uhr. Erst halb zehn. Noch viel Zeit bis zum Mittag. Ist wohl etwas genervt, die Frau, dachte ich.

„So geht es mir immer” stöhnte sie, „Immer ist ausgerechnet bei mir das Papier alle.”

"Das liegt an der Menge"

„Bitte?!”

"Das liegt an der Menge oder sagen wir an der Stückzahl Ihrer Kopien; würden Sie zum Beispiel vorher die Zahl, mit der sie den Kopierer programmieren wollen, halbieren, dann hätte vermutlich das Papier gereicht und nicht Sie, sondern erst der Nächste würde den Eindruck haben, dass immer bei ihm das Papier ausgeht."

“Blödsinn! Die Menge wird von der Notwendigkeit bestimmt, nicht von mir.”

"Man hätte auch die Rückseite bedrucken können. Finden Sie nicht auch, dass uns genau hier ein großer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht? Es müsste per Gesetz verboten werden, Blätter auf nur einer Seite bedrucken zu lassen."

„Sind Sie noch eine Weile hier?”

"Wie bitte?"

„Ich hole nur schnell Papier, würden Sie bitte solange auf meine Sachen aufpassen?”

Abgesehen vom leisen Brummen war es wieder still. Das Auto fehlte noch immer - und Papier. Ein junger Mann kam den Gang entlang gerannt. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, mein Bein etwas auszufahren und beiläufig zu bemerken:

‚Hier wird nicht gerannt!’

Früher hätte man darauf geachtet. Er wurde langsamer und in mir stieg ein Verdacht auf. Als er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, nach der grünen Tasche griff, hatte ich Gewissheit. Der klaut die Tasche!

„Halt, stehen bleiben! Legen Sie die Tasche zurück!”

Ich sprang auf und setzte ihm hinterher. Er stoppte, drehte sich zu mir um und wirkte überrascht. Ha, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Doch Vorsicht, wie gefährlich solche Typen sind, sieht man ihnen nicht immer an.

„Um Gottes Willen, was wollen Sie von mir?”

"Her mit der Tasche, Freundchen! Solange ich hier sitze, wird nicht geklaut, verstanden?"

Er dachte nicht daran, faselte etwas von einem dringenden Telefongespräch und so. Gefährliche Situation. Solche Ganoven haben doch immer ein Messer in der Tasche, diesmal war ich schneller. Den meisten Menschen fehlt es an Zivilcourage, um sich gegen solche Strolche zu wehren. Ich dagegen hatte mich seit Jahren auf diese Situation vorbereitet, mir würde so etwas nicht passieren.

„Lass Dein Messer stecken!”

Das wirkte, kreidebleich wurde er und ging langsam zum Tisch zurück.

„Sie sind ja irre!”

In diesem Augenblick tönte Beethovens Fünfte aus der Tasche. Ta, ta, ta, taaa! Ta, ta, ta, taaa.

Der Dieb stürmte mit der Tasche los, ich hinterher. Er rannte durch die offene Gangtür, ich folgte ihm, kam näher. Zwei, drei Schritte noch, dann hätte ich ihn gehabt. Er stürzte zur Treppe, nahm diese in zwei Sprüngen, rannte in den Flur der dritten Etage. Ich konnte nicht so gut springen, aber mein wöchentliches Lauftraining zahlte sich nun aus. Am Ende des Flurs holte ich ihn ein, griff mit ausgestrecktem Arm nach seinem Hemdkragen, doch durch eine Körpertäuschung entwischte mir der Halunke abermals. Doch diesmal sprang er viel zu früh, schaute sich im Sprung noch um und stürzte über das Treppengeländer in die Tiefe.

Zumindest sah es für einen Augenblick so aus. Er hatte gute Reflexe, das bleibt unbestritten. Mit beiden Händen hielt er sich am Geländer fest, die rechte Hand umklammerte zudem die Riemen der grünen Tasche. Jetzt hatte ich ihn, er war in der Falle. Seine Beine baumelten hilflos in der Luft, sein Gesicht schien vor Angst und Anstrengung verzerrt. Langsam öffnete ich Finger für Finger seiner rechten Hand und zog jedes Mal den grünen Riemen in die Freiheit. Geschafft. Als Sieger erschien ich im vierten Stock. Hörte im Treppenhaus einen dumpfen Knall. Wieder ein Freitod.

Ich klappte mein Messer ein, legte die Handtasche zurück auf ihren Platz, setzte mich auf meinen Stuhl, wartete und gab mich meinen Gedanken hin.

Klack, klack, klack, klack. Das Papier wurde aufgefüllt, die Arbeit am Kopierer beendet.

„Haben Sie meinen Mann gesehen?”

"Ihren Mann?"

Die blonde Frau blinzelte mir zu und sagte:

„Er sollte meine Tasche holen. War er nicht hier?”

Ich stand auf, schüttelte verlegen den Kopf und versuchte das Thema zu wechseln.

„Darf man eine Dame nach ihrem Alter fragen?”

Ganz nah kam sie, legte ihren Zeigefinger auf meinen Mund, drückte ihre warmen Lippen kurz auf meine linke Wange und flüsterte:

„Darf man nicht, mein stolzer Ritter!”

Gut, ich übertreibe mal wieder; aber sie war 32, da bin ich sicher.
 

EviEngel

Mitglied
Lieber Wipfel,

ich nehme deine Geschichte mit nach Hause und lese sie mir dort durch, versprochen!

Gruß Evi

Vierter Stock, Zimmer 64. Hier sollte ich warten. Die Sachbearbeiterin habe sich verspätet, müsste aber jeden Augenblick eintreffen. Länger als 30 Minuten könne das nicht dauern; irgendetwas sei mit ihrem Auto passiert. Nein, kein Unfall, soviel wüsste man.

Also setzte ich mich auf einen der Holzstühle und wartete. Ich mochte solche langen Gänge alter Gebäude nicht. Immer warb eine flackernde Leuchtstofflampe übertrieben um Aufmerksamkeit, machte so die Nachlässigkeit des knittrigen Hausmeisters sichtbar; immer zog es von irgendwoher.
Warten heißt für andere Langeweile. Für mich gab es dieses Wort nicht, es fand sich immer eine sinnvolle Beschäftigung.

Ich zählte auf dem Gang die abgehenden Türen, zählte die hohen Fenster, zählte die Autos auf dem Hof, dann nur die schwarzen und brachte die Werte in ein passendes Verhältnis. Beinah hätte die Zahlenreihe einen Sinn gehabt, doch ein Auto fehlte. Nur 4 von 31 Autos waren schwarz, aber ich freute mich über 16 Fenster vor 8 Zimmertüren.

Gegenüber von Zimmer 64 hatte man einen Kopierer aufgestellt. Leise brummte die graue Maschine vor sich hin; ich setzte mich wieder und wartete. Es war eines dieser Geräte, die zur allgemeinen Nutzung für die Gangabteilung aufgestellt werden. Ich zählte 4 Fächer für verschiedene Papierformate; darüber schwang sich in kühner Konstruktion die Kopiereinheit mit automatischem Blatteinzug und Bedienfeld. Neben dem Kopierer standen zwei ältere quadratische Holztische. Die gelbschwarzen Inventarnummern an den Leisten interessierten mich. RV614 und RV617. Nein, sie passten nicht in mein Zahlenspiel. Oder doch? Für solche schwierigen Fälle sollte ich mir einen Taschenrechner besorgen.

Eine blonde Frau mit einer grünen Tasche über der Schulter kam den Gang entlang. Klack, klack, klack, klack. Sie trug ihren kalten Blick und eine blaue Mappe vor sich her. Klack, klack. Die braunen Stöckel bremsten - ich bin versucht, das kurze Rutschen in der Neunziggradkurve vor dem Kopierer als äußerst elegant zu bezeichnen; wahrscheinlich waren es Füße einer ausgedienten Eiskunstläuferin - und standen mit ihren Hacken nun genau vor mir. Eine Frage über die Schulter:

„Wollen Sie auch kopieren?”

"Nein, nein, ich warte nur."

„Ah, das ist sehr gut”.

Sie verteilte ihre Sachen auf den Tischen, öffnete die blaue Mappe, entnahm die zu kopierenden Dokumente und legte diese in den automatischen Blatteinzug. Zu gern hätte ich erfahren mit welcher Zahl sie den Kopierer auf Vervielfältigung programmiert hatte, wie viele Dokumente nun in der Maschine verschwanden und wie oft die Papierausgabe Blätter gleichen Inhalts in entsprechende Fächer sortierte. Der anlaufende leise Motor begann die Mechanik in Bewegung zu setzen, quietschende Rollen klagten verdeckt, und in rhythmischer Gleichförmigkeit wurde der Auftrag abgearbeitet. Blätter entnehmen, neue Blätter einlegen, rote Jacke ausziehen. Diese lag nun neben der grünen Tasche. Dreifacher Piepton, die graue Maschine schwieg.

Die Frau beugte sich, ruckelte an den Papierschächten, suchte nach Papier. Der braune Saum ihrer Hose wurde sichtbar, zeichnete sich deutlich auf heller Haut ab. Essensdüfte zogen durch den Flur. Ich schaute auf die Uhr. Erst halb zehn. Noch viel Zeit bis zum Mittag. Ist wohl etwas genervt, die Frau, dachte ich.

„So geht es mir immer” stöhnte sie, „Immer ist ausgerechnet bei mir das Papier alle.”

"Das liegt an der Menge"

„Bitte?!”

"Das liegt an der Menge oder sagen wir an der Stückzahl Ihrer Kopien; würden Sie zum Beispiel vorher die Zahl, mit der sie den Kopierer programmieren wollen, halbieren, dann hätte vermutlich das Papier gereicht und nicht Sie, sondern erst der Nächste würde den Eindruck haben, dass immer bei ihm das Papier ausgeht."

“Blödsinn! Die Menge wird von der Notwendigkeit bestimmt, nicht von mir.”

"Man hätte auch die Rückseite bedrucken können. Finden Sie nicht auch, dass uns genau hier ein großer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht? Es müsste per Gesetz verboten werden, Blätter auf nur einer Seite bedrucken zu lassen."

„Sind Sie noch eine Weile hier?”

"Wie bitte?"

„Ich hole nur schnell Papier, würden Sie bitte solange auf meine Sachen aufpassen?”

Abgesehen vom leisen Brummen war es wieder still. Das Auto fehlte noch immer - und Papier. Ein junger Mann kam den Gang entlang gerannt. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, mein Bein etwas auszufahren und beiläufig zu bemerken:

‚Hier wird nicht gerannt!’

Früher hätte man darauf geachtet. Er wurde langsamer und in mir stieg ein Verdacht auf. Als er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, nach der grünen Tasche griff, hatte ich Gewissheit. Der klaut die Tasche!

„Halt, stehen bleiben! Legen Sie die Tasche zurück!”

Ich sprang auf und setzte ihm hinterher. Er stoppte, drehte sich zu mir um und wirkte überrascht. Ha, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Doch Vorsicht, wie gefährlich solche Typen sind, sieht man ihnen nicht immer an.

„Um Gottes Willen, was wollen Sie von mir?”

"Her mit der Tasche, Freundchen! Solange ich hier sitze, wird nicht geklaut, verstanden?"

Er dachte nicht daran, faselte etwas von einem dringenden Telefongespräch und so. Gefährliche Situation. Solche Ganoven haben doch immer ein Messer in der Tasche, diesmal war ich schneller. Den meisten Menschen fehlt es an Zivilcourage, um sich gegen solche Strolche zu wehren. Ich dagegen hatte mich seit Jahren auf diese Situation vorbereitet, mir würde so etwas nicht passieren.

„Lass Dein Messer stecken!”

Das wirkte, kreidebleich wurde er und ging langsam zum Tisch zurück.

„Sie sind ja irre!”

In diesem Augenblick tönte Beethovens Fünfte aus der Tasche. Ta, ta, ta, taaa! Ta, ta, ta, taaa.

Der Dieb stürmte mit der Tasche los, ich hinterher. Er rannte durch die offene Gangtür, ich folgte ihm, kam näher. Zwei, drei Schritte noch, dann hätte ich ihn gehabt. Er stürzte zur Treppe, nahm diese in zwei Sprüngen, rannte in den Flur der dritten Etage. Ich konnte nicht so gut springen, aber mein wöchentliches Lauftraining zahlte sich nun aus. Am Ende des Flurs holte ich ihn ein, griff mit ausgestrecktem Arm nach seinem Hemdkragen, doch durch eine Körpertäuschung entwischte mir der Halunke abermals. Doch diesmal sprang er viel zu früh, schaute sich im Sprung noch um und stürzte über das Treppengeländer in die Tiefe.

Zumindest sah es für einen Augenblick so aus. Er hatte gute Reflexe, das bleibt unbestritten. Mit beiden Händen hielt er sich am Geländer fest, die rechte Hand umklammerte zudem die Riemen der grünen Tasche. Jetzt hatte ich ihn, er war in der Falle. Seine Beine baumelten hilflos in der Luft, sein Gesicht schien vor Angst und Anstrengung verzerrt. Langsam öffnete ich Finger für Finger seiner rechten Hand und zog jedes Mal den grünen Riemen in die Freiheit. Geschafft. Als Sieger erschien ich im vierten Stock. Hörte im Treppenhaus einen dumpfen Knall. Wieder ein Freitod.

Ich klappte mein Messer ein, legte die Handtasche zurück auf ihren Platz, setzte mich auf meinen Stuhl, wartete und gab mich meinen Gedanken hin.

Klack, klack, klack, klack. Das Papier wurde aufgefüllt, die Arbeit am Kopierer beendet.

„Haben Sie meinen Mann gesehen?”

"Ihren Mann?"

Die blonde Frau blinzelte mir zu und sagte:

„Er sollte meine Tasche holen. War er nicht hier?”

Ich stand auf, schüttelte verlegen den Kopf und versuchte das Thema zu wechseln.

„Darf man eine Dame nach ihrem Alter fragen?”

Ganz nah kam sie, legte ihren Zeigefinger auf meinen Mund, drückte ihre warmen Lippen kurz auf meine linke Wange und flüsterte:

„Darf man nicht, mein stolzer Ritter!”

Gut, ich übertreibe mal wieder; aber sie war 32, da bin ich sicher.
 



 
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