Warum manche Fische Flügel haben

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tinta

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Kürzlich war ich in einem Holzkutter auf dem Meer unterwegs. Ein alter Fischer, er war Mexikaner, hatte mich freundlicherweise mitgenommen. Als wir über das weite, tiefblaue Meer tuckerten, entdeckte ich fliegende Fische.

„Wie weit sie fliegen können“, hauchte ich. Ich war wirklich tief beeindruckt. Der Fischer lächelte.
„Willst Du wissen, warum diese Fische Flügel haben?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen:

„Vor langer, langer Zeit gab es einmal lila-gelb getupfte Fische. Diese Fische nannte man Paradisos. Sie waren sehr neugierig und schwammen ganz nah an das Ufer heran. Da begab es sich, dass eine grau gestreifte Tigerflugfranze am Ufer stand...“
„Eine Tigerflugfranze? Was ist das?“ rief ich.

Der Mexikaner ließ sich nur ungern unterbrechen. Unwirsch wischte er sich eine Strähne aus der Stirn, kaute auf einem
Strohhalm und erklärte:
„Diese Tigerflugfranze war eine hübsche Vogeldame, auch wenn sie grau war. Sie stand also am Ufer. Sie wollte nämlich nur zu gern wissen, wie es unter Wasser aussieht.
Sie tauchte den Kopf hinein und stellte fest, dass die Welt dort fast so aussah wie ihre eigene.
Sie sah einen Sternenhimmel...“

„Im Wasser? Einen Sternenhimmel?“
„Die Seesterne am Boden sahen aus wie der Himmel bei Nacht.
Sie sah einen Urwald und Höhlen...“
„Höhlen? Einen Urwald? Im Meer?“
„Der Urwald waren die Pflanzen, die Riffe sahen wie Höhlen aus. Schließe die Augen und hör‘ mir zu, dann kannst Du es sehen.
Als die Tigerflugfranze ihren Kopf unter Wasser hatte, sahen das die Paradisos. Sie will uns fressen, rief der Kleinste unter ihnen. Doch der Klügste entgegnete:
Unsinn, dann hätte sie es längst getan. Und weil er nicht nur der Klügste war, sondern auch der Mutigste, schwamm er noch näher heran. Die Tigerflugfranze zwinkerte mit den Augen, wobei ihre langen Wimpern klimpernde Geräusche unter Wasser erzeugten. Da traf es den Paradiso wie ein Blitz, er hatte diesen Vogel einfach gern. Der Tigerflugfranze
ging es genauso. Erstaunt hob sie den Kopf – und war sofort
wieder in ihrer Welt. Über Wasser.

Sie tauchte den Kopf wieder ins Wasser hinein und ein tiefes Gefühl von Freundschaft durchströmte sie.
Wie kann ich nur bei Dir sein? Du bist ein Fisch und lebst unter Wasser. Ich aber bin ein Vogel und kann nur über Wasser atmen. Der Paradiso war darüber sehr traurig
und begann zu weinen. Da weinten alle Paradisos mit. Und zwar so doll, dass das Wasser blubberte.

Davon hörte eine alte Maja-Frau. Sie war sehr weise. Und sie fand die Lösung:
Ihr könnt Euch sehen, wann immer Ihr wollt. Leben könnt Ihr nicht zusammen. Wenn Ihr aber ein Kind bekommt, sagte sie, so wird es eins sein, dass Kiemen hat wie ein Fisch
und Flügel wie ein Vogel. So können Eure Nachfahren im
Wasser leben, aber auch darüber fliegen. Nur eines wird verloren gehen: Eure Farbe, denn über Wasser werdet Ihr Euch in Grau besser tarnen.“

Ich öffnete die Augen. Die Sonne ging glutrot im Meer unter. Die fliegenden Fische begleiteten uns noch immer. Der alte Fischer kaute weiter auf dem Strohhalm.

Dann, nach einer Weile, sagte er:
„Jetzt weißt Du, warum manche Fische Flügel haben.“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

ein sehr schönes märchen. nur der schluß ist ein wenig unglücklich. kommt dennoch in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 

tinta

Mitglied
Liebe Marion, herzlichen Dank! Freut mich, dass die Geschichte Dir gefällt. Vielleicht hast Du recht... das Ende kommt abrupt, das fällt mir jetzt erst auf. Ich denk mal drüber nach, Danke nochmal! Tinta
 



 
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